Zahnherde ernst nehmen
Vitalitätsprüfung nicht
immer lege artis
Kontroversen hat das Thema „Zahnherd“
ausgelöst (vgl. ÄRZTLICHE PRAXIS 15/1994, S. 34 und 29/1994. S. 7). Persönliche
Erfahrungen veranlassen einen Leser – er ist als Arzt und Zahnarzt eigentlich
überzeugter Anhänger der Schulmedizin – zum Versuch einer differenzierten Sicht
der Problematik.
Schlichtweg
verneint wird die Existenz dentaler Herderkrankungen von vielen, nicht zuletzt
von einer Reihe von Hochschullehrern, die davon nichts hören und sehen wollen –
und dann auch nichts finden. Als überzeugter Anhänger der Schulmedizin wäre es
mir auch lieber, beweisende Parameter zur Hand zu haben. Doch dass ausreichende
Tests bisher nicht verfügbar sind, rechtfertigt es meines Erachtens nicht, die
Angelegenheit zum Glaubenskrieg zum machen.
Wer das Problem ernst nimmt, findet nicht
selten eine Fokaltoxikose
Pulpatote Zähne –
mit oder ohne Wurzelfüllung – wirken in den meisten Fällen nicht als Streuherd,
aber sie können sich im Laufe der Zeit zu einem solchen entwickeln. Wie oft man
in der Praxis mit einer Fokaltoxikose konfrontiert wird, hängt in erster Linie
vom eigenen Engagement ab:
Wer das Problem
ernst nimmt, es quasi ständig im Hinterkopf parat hat und Patienten mit
pulpatoten Zähnen gezielt befragt, der wird feststellen, dass die Fokaltoxikose
gar nicht so selten ist.
Ich selbst litt vom
22. bis 34. Lebensjahr unter Herzbeschwerden, die in die linke Axilla
ausstrahlten und von Unlust, Schlappheit
und Antriebsarmut begleitet waren. Bei Ruhe, an den Wochenenden, nahmen die
Beschwerden zu, unter Belastung waren sie geringer – typisch für ein
Herdgeschehen. Zahnbeschwerden hatte ich nicht. Erst nach zwölf Jahren spürte
ich wenigstens ein bisschen, so dass ich dem behandelndem
Kollegen mitteilen konnte, links oben sei etwas nicht in Ordnung. Beim Testen
war der überkronte 26 negativ, das Röntgenbild zeigte prima vista keine
Besonderheiten. Dennoch ließ ich mir am folgenden Tag den Zahn entfernen. Ich
war überzeugt, dass eine Fokaltoxikose im Spiel sei – außerdem: was hatte ich
nach zwölf Jahren mit Herzbeschwerden schon zu verlieren?
Die Wurzelspitzen
des extrahierten Zahnes zeigten nur leichte pathologische Veränderungen. Da
aber eine antibiotische Abschirmung unterblieben war (ein fundamentales
Versäumnis!), folgte dem Eingriff eine hartnäckige Alveolitis mit vermehrten
Herzbeschwerden. Erst eine hochdosierte dreiwöchige Penizillin-Behandlung
sorgte schließlich für Beschwerdefreiheit – auch am Herzen.
Vier Tage nach der Herdentfernung war die
Patientin ihre Herzbeschwerden los
Als weiteres
Bespiel möchte ich eine 44jährige anführen, die bei ihrem ersten Besuch ganz
beiläufig berichtete, sie nehme Valium, weil sie seit der Kindheit herzkrank
sei. Die anschließende Untersuchung zeigte, dass mehrere Zähne devital waren;
ein Molar war röntgenologisch besonders stark beherdet. Bereits vier Tage nach
der Zahn- bzw. Herdentfernung war die Patientin ihre Herzbeschwerden
los. Während meiner ganzen 25jährigen Zahnarzttätigkeit habe ich keine
glücklichere Patientin gesehen.
In der Diagnostik
pulpatoter Zähne steht die Vitalitätsprüfung an erster Stelle – leider nicht
bei allen, insbesondere jüngeren Kollegen. Der weitverbreitete Test mit
Wattebausch und Kältespray (er versagte übrigens auch bei meinen Zähnen!) sagt
häufig nichts aus. Dass sich der Nerv ab dem Altern „zurückzieht“ und dadurch
langsamer auf Kältereiz reagiert, ist bekannt. Das Problem beim Wattebausch: er
erwärmt sich zu schnell. Beim Testen mit Kohlensäureschnee und mit dem
elektrischen Testgerät gibt es diese Schwierigkeiten nicht.
Ob der
Vitalitätsprüfung und dem Thema „Herdgeschehen“ an den Hochschulen der
notwendige Stellenwert eingeräumt wird, erscheint nach meiner Erfahrung
zumindest fraglich.
Quelle: Ärztliche Praxis, Nr. 46, 7. Juni
1994
Von Dr. Helmut Nickstadt