Wahnsinn sein
sanftes Hineingleiten Autobiografie einer Malerin
"Ich weiß, wie es ist, wenn man verrückt
wird...", notiert die junge, psychoseerfahrene Mutter, als sie meint, bei
ihrem Sohn erste Anzeichen einer beginnenden Schizophrenie zu diagnostizieren.
Und dann schreibt sie über ihre eigenen Erfahrungen: "Ganz allmählich ist
er (der Wahnsinn) über mich gekommen als ein sachtes Hineingleiten in eine
befremdliche Welt. Immer mehr Dinge wurden bedeutsam, Zufälliges ordnete sich
zu Bildern, Bilder wurden zu Rätseln, Rätsel zu Sprache. Aber ich konnte sie
nicht verstehen..."
Die junge Mutter, das ist die mittlerweile
45jährige Malerin Helene Beitler, die zwischen 1988 und 1994 insgesamt fünf
psychotische Episoden erlebt hat. Und um genau diese sechs Psychosejahre geht
es in dem neuen Buch von Renate Klöppel, die bislang als Autorin zweier
Kriminalromane aus dem humangenetischen Bereich ("Der Mäusemörder",
"Die Tote vom Turm", Schillinger-Verlag, Freiburg) und eines Romans
um den deutschen Herbst ("Der Paß", Rotbuch-Verlag) bekann
Jetzt hat die in Freiburg und in
Villingen-Schwenningen lebende Kinderärztin und Musikpädagogin (Klavier- und
Rhythmikstudium) einen völlig anderen Text vorgelegt; denn in der
"Schattenseite des Mondes" geht es zwar um das Schicksal der
schizophrenen Malerin, doch erzählt wird die Geschichte von Renate Klöppel mit
den Mitteln des Romans, und zwar in der ersten Person Singular.
Mag man während der Lektüre der ersten 20, 30
Seiten noch skeptisch gegenüber diesem literarischen Kunstgriff sein, so
entsteht während der dann folgenden Textpassagen ein derartiger Sog, daß man
sich unweigerlich gezwungen sieht, die folgenden 250 Seiten in einem Stück zu
lesen. Das Experiment, in die Person der Helene Beitler zu schlüpfen und ganz
und gar ihre Perspektive zu übernehmen, ist Renate Klöppel ohne Zweifel
geglückt. Mit einer farbigen Sprache schildert sie die Erfahrungen der Malerin
in der Kunstakademie, den Beginn ihrer Beziehung zu ihrem späteren Mann-- und
dann das "sanfte Hineingleiten" in den Wahnsinn.
Die Dissoziation zwischen wirklicher und eingebildeter
Welt wird dabei so dramatisch, daß sie ihren kleinen Sohn vernachlässigt, ihrem
Mann erzählt, sie wolle ihren Kunstprofessor heiraten (der natürlich gar nichts
von seinem Glück oder besser: Unglück weiß) und so eine tiefgreifende Ehekrise
nach der anderen provoziert.
Besonders die Szenen in der psychiatrischen Klinik,
in die sie mehrfach eingewiesen wird, weil sie sich jedesmal nach der
Entlassung einbildet, die ihr von ärztlicher Seite verabreichten
Medikamente hätten sie endgültig geheilt, wirken bedrückend echt. So düster die
Schilderung der psychotischen Schübe auch sein mag, so hoffnungsvoll stimmen
die letzten Seiten, die zeigen, wie man, wenn man bei den geringsten Anzeichen
eines beginnenden Schubes therapeutisch interveniert, noch einmal davonkommen
kann (bei Helene Beitler sind es mittlerweile mehr als zehn Jahre).
Im Hinblick auf diese letzten Abschnitte des Buchs
kann man Renate Klöppels "Schattenseite" sogar als Ratgeber für
psychisch Kranke empfehlen; denn die intensive Art und Weise, mit der sie
erzählt, kann möglicherweise mehr psychotische Realität auf der einen und das
nötige Know-how der therapeutischen Intervention auf der anderen Seite
vermitteln, als dies mancher dickleibiger Ratgeber fertigbringen könnte. Bleibt
am Ende nur zu hoffen, daß Renate Klöppel mit diesem ungewöhnlichen Buch der
Erfolg vergönnt ist, den es ohne Frage verdient hat.
Renate Klöppel: "Die Schattenseite des Mondes
- Ein Leben mit Schizophrenie". Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek, Nr.
61941. Euro 8,90.
Ärzte Zeitung 9.2.05