Umweltgifte bedrohen die
Fortpflanzungsfähigkeit des Menschen
Ungewollte Kinderlosigkeit in bestimmten
Berufen mittlerweile auffallend häufig / Vermehrte Fehlgeburten registriert
Immer mehr junge
Paare bleiben in der Bundesrepublik Deutschland ungewollt kinderlos. Doch die
wenigsten davon sind aus medizinischen Gründen steril. Vielmehr greifen
Umweltgifte massiv in die Fortpflanzung ein und machen den Kinderwunsch häufig
zum unerfüllbaren Traum. Aus Lehrbüchern ist bekannt, dass in den 50er Jahren
sieben bis acht Prozent aller frischgeschlossenen Ehen der Kindersegen versagt
geblieben ist. In den Industriestaaten liegt deren Anteil heute bei 15 bis 20
Prozent. Doch bei nur drei bis fünf Prozent davon lassen sich organische
Ursachen für die Unfruchtbarkeit finden. Diese alarmierende Rechnung macht
Prof. Henning Beier, Leiter des Instituts für Anatomie und
Reproduktionsbiologie der Rheinisch-Westfälischen Hochschule Aachen auf. „Die
Wissenschaft geht weltweit davon aus, dass Umweltbelastungen und Schadstoffe mehr
und mehr für die Störung der Fortpflanzung und die Schädigung jüngster
Embryonalstadien verantwortlich sind“, resümierte er in der Umweltzeitschrift
„Chancen“ (Heft 2/1989).
Immer weniger
Nachwuchs durch immer mehr Umweltgifte, aus der Tierwelt ist die fatale
Gleichung längst bekannt. In den USA hat DDT fast zum Aussterben der Seeadler
geführt. Das Insektizid reicherte sich durch die Nahrungskette im Eileiter der
Weibchen an, deren Eier bald keine kalkhaltigen Schalen, sondern nur noch eine
weiche, verletzliche Haut besaßen. Den holländischen Seehund-Kolonien, die sich
von Fischen aus dem Mündungsbereich des Rheins ernähren, setzen die Schadstoffe
aus der Gruppe der Polychlorierten Biphenyle (PCB) zu: das gleiche Gift löste
auch einen dramatischen Rückgang des Seeottern-Bestandes in Schweden aus.
Die alltägliche
Vergiftung von Wasser, Boden und Luft macht bei Ottern und Seehunden nicht
halt. Sie lässt Männer unfruchtbar werden und führt bei Frauen Fehl- und
Missgeburten herbei. Die männliche Zeugungsfähigkeit hat unter Schwermetallen
wie Quecksilber, Cadmium und Blei zu leiden, insbesondere aber unter
Schadstoffen aus der „chemischen Großfamilie“ der chlorierten
Kohlenwasserstoffe (CKW), die Bestandteil vieler Schädlings- und
Unkrautbekämpfungsmittel sind. „Beobachtungen in den USA und verschiedenen
Industrienationen Europas zeigen eine Abnahme der Spermatozoenzahl bei
fruchtbaren Männern während der letzten 50 Jahre. Dafür dürfte die
Schadstoffbelastung der Umwelt verantwortlich sein“, konstatierte der an der
Dermatologischen Klinik der Universität München tätige Androloge Prof. Wolfgang
Schill. Die Studien ergaben, dass die Samenflüssigkeit vieler Männer bis zu 40
Prozent weniger befruchtungsfähige Spermien aufweist als noch vor 20 Jahren.
Nur mühsam kommen
die Forscher den Wirkungsmechanismen der Umweltgifte im menschlichen Körper auf
die Spur. In einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung legt Dr. Hans van der
Ven, Oberarzt an der Universitäts-Frauenklinik Bonn, dar, wie bestimmte CKW die
Zeugungsfähigkeit bei Männern lahm legen können. Samenzellen haben bei der
Befruchtung eine Reihe wichtiger Funktionen zu erfüllen. Sie müssen kräftig und
schnell geradeaus schwimmen, die Eizelle aufspüren und an ihrer Oberfläche
andocken, bevor sie mit ihr verschmelzen und ihre Gen-Fracht freisetzen können.
Voraussetzung dafür sind ausreichende Beweglichkeit, eine intakte Membran sowie
ein funktionierendes Akrosom (so wird die mit Enzymen gefüllte Spitze der
Samenzelle genannt, die dem Spermium das Durchdringen der Eizell-Hülle
ermöglicht.) Beim Vitalitätstest werden diese sogenannten Spermaparameter im
Reagenzglas überprüft.
Die CKW, so zeigte
sich, übten auf jeden dieser Parameter Effekte aus, wobei jede Substanz ihre
maximale Schadwirkung an einer anderen Stelle entfaltete. „Am intensivsten
scheinen die PCB zu wirken. Dabei nimmt die Schädigung mit der Dosis zu“,
umreißt der Bonner Mediziner das Resultat. Der DDT-Abkömmling DDE etwa löst die
„akrosomale Reaktion“ aus. Das Spermium setzt dadurch seine Durchdringungsenzyme
vorzeitig frei, ohne dass eine Eizelle in der Nähe wäre. Damit ist es für die
Fortpflanzung verloren. Hexachlorbenzol schädigt die Membran der Spermien, was
ihre Fähigkeit zur Anlagerung an die Eizelle beeinträchtigt: PCB schließlich
setzen die Beweglichkeit der Samenzellen drastisch herab.
Besonders fatal
ist, dass die Schadwirkung bereits bei Giftkonzentrationen einsetzt, wie sie
heute im Körper vieler Menschen nachweisbar sind (1 bis 10 Nanogramm/Milliliter
Körperflüssigkeit). Dies kann zu einer Schädigung der Spermien im männlichen
Körper führen. Darüber hinaus können prinzipiell gesunde Spermien ihre
Befruchtungsfähigkeit verlieren, wenn sie im weiblichen Genitaltrakt auf
entsprechende Schadstoffe treffen.
Fettlösliche
Substanzen wie DDT sowie PCB reichern sich bei Frauen in der
Follikel(Eibläschen)-Flüssigkeit an. Theoretisch könnte dies die „Pille“
ersetzen. Die tägliche Tasse Tee oder Kaffee mit entsprechenden Mengen an
Pflanzenschutzmittel-Rückständen belastet, leistet im Extremfall den gleichen
empfängnisverhütenden Dienst. Jährlich werden weltweit rund 2,3 Millionen
Tonnen solcher Substanzen versprüht.
In den Follikeln
fand sich auch der Tabakschadstoff Rhodanid in hoher Konzentration. Das rückt
das Rauchen als weitere Ursache zivilisationsbedingter Unfruchtbarkeit ins
Licht. US-Wissenschaftler wiesen zudem Nikotin in der Gebärmutterschleimhaut
nach, und zwar in 10- bis 20fach höherer Konzentration als im Blut. Damit
erreichen Frauen den die Fortpflanzung gefährdenden Schadstoffpegel wesentlich
schneller, als nur anhand von Blutuntersuchungen zu erwarten wäre. „Die
Umweltgifte dringen, wie wir jetzt wissen, in die Eierstöcke und damit bis in
die Keimzelle vor“, kommentiert Prof. Heinz Bohnet vom Hamburger Institut für
Hormon- und Fortpflanzungsstörungen diesen Befund.
Das Ausmaß der
durch das Rauchen hervorgerufenen ungewollten Kinderlosigkeit zeigt eine Studie
der englischen „Oxford Family Planning Association“ auf. Von rund 17000 Frauen,
die alle per Pille verhüteten, setzten 4100 die Ovulationshemmer ab, um sich
den Wunsch nach einem Kind zu erfüllen. Rund fünf Prozent der Nichtraucherinnen
blieb das Wunschkind versagt. Dieser Prozentsatz schnellte bei Frauen, die mehr
als 15 Zigaretten pro Tag rauchten, auf über das Doppelte hoch. Nichtraucherinnen
erzielten die ersehnte Schwangerschaft nach durchschnittlich sechs Monaten, bei
Raucherinnen hingegen verstrich ungefähr ein ganzes Jahr. Die Aachener Forscher
um Prof. Beier fanden heraus, dass Nikotin überdies embryotoxisch wirkt.
Selbst wenn die
Befruchtung gelingt, ist das beginnende Leben nicht außer Gefahr. Auch an
frühen Embryonalstadien greifen die Umweltgifte an. „Schon in der ungestörten
Natur“, so Prof. Beier, „sterben bis zu 60 Prozent der Embryonen bis zur
Implantation in der Gebärmutter ab. Kommen Störungen durch Schadstoffe hinzu,
wird die Selektionsschwelle noch höher, und die Überlebensfähigkeit der
restlichen Keime sinkt“.
Einem weiteren
Schadmechanismus kam Prof. H. Spielmann vom Berliner Bundesgesundheitsamt auf
die Spur. Viele Substanzen, so zeigte sich, sind für sich allein genommen recht
harmlos: erst beim Zusammentreffen mit weiteren Stoffen werden sie zum Gift. So
wird beispielsweise die embryotoxische Wirkung bestimmter Krebsmedikamente
(Zytostatika) durch den Kaffeeinhaltsstoff Koffein drastisch verstärkt. Die
Zellgifte gelten bereits seit längerem als Verursacher von
Fortpflanzungsstörungen. Das Einatmen schon kleinster Mengen löst bei
Krankenschwestern Fehlgeburten aus.
Andere
Berufsgruppen sind ebenfalls in überdurchschnittlichem Maß von der „neuen
Unfruchtbarkeit“ - neben den Umweltgiften sind in erster Linie Stress und
psychische Störungen die Ursachen - betroffen. Zum Beispiel OP-Schwestern und
Narkoseärzte. Sie nehmen in den Operationssälen Spuren von Anästhesiegasen wie
Halothan oder Tribromethanol auf. Den OP-Teams zugehörige Frauen hatten
auffällig viele Fehlgeburten erlitten. Im Tierversuch bestätigte sich der
Verdacht: wurden Ratten und Mäuse drei bis vier Wochen vor einer Empfängnis nur
ein einziges Mal narkotisiert, kletterte ihre Fehlgeburtenrate auf bis zu 27
Prozent, während die artübliche Abort-Rate bei 14,7 Prozent liegt.
Oft sind Angehörige
scheinbar „gesunder“ Berufe wie Landwirte, Winzer, Forstarbeiter, Gärtner,
Erntehelfer in Zitrusplantagen oder Floristen beiderlei Geschlechts von
Sterilität durch den alltäglichen Kontakt mit Pflanzenschutzmitteln bedroht.
Chemiearbeiter zählen ebenso zur (hier nur unvollständig wiedergegebenen)
Risikogruppe wie Arbeiter in Blei- und Kupferhütten, Lackierereien, Leder-,
Gummi- und Textilbetrieben oder Raffinerien. Selbst in Wäschereien können
Beschäftigte betroffen sein. Dänische Ärzte machten in einer Vergleichsstudie
zwischen Anstreichern sowie Bau- und Betonarbeitern eine signifikante Zunahme
unfruchtbarer Männer in der Gruppe der 30 bis 40jährigen Anstreichern aus.
Neben dem Beruf
wirkt sich oft auch der Wohnort auf die Fortpflanzungsfähigkeit aus. In der
schwedischen Großstadt Malmö fanden sich bei Männern aus einem Stadtbezirk mit
Schwerindustrie deutlich weniger Spermien (ihre Zahl beträgt im Normalfall bis
zu 120 Millionen/Milliliter Samenflüssigkeit) als bei Einwohnern der ländlichen
Umgebung der Stadt. Zugleich wurden bei den industriegeschädigten Männern mehr
fehlgeformte Samenzellen registriert.
Nicht nur
Sterilität, sondern auch Fehlgeburten und Missbildungen gehen als Endpunkte der
gleichen Schädigungsprozesse auf die Umweltgifte zurück. Oft allerdings sorgt
die umweltbedingte Unfruchtbarkeit dafür, dass Missbildungen erst gar nicht
entstehen: durch Schadstoffe unfruchtbar gewordene Eltern können keine, das
heißt, auch keine geschädigten Kinder habe. Dies führt leicht zu einer
Fehleinschätzung des Risikos einer bestimmten Arbeitsplatz- oder
Umweltsituation. Das norwegische Missbildungsregister förderte einen solchen
Fall ans Licht. Textil- und Lederarbeiterinnen brachten deutlich weniger
behinderte Kinder zur Welt als in anderen Branchen tätige Frauen. Der Schluss,
dass in diesen Berufen keine Gefahren für die Fortpflanzung drohen, war indes
falsch. Nähere Untersuchungen ergaben bei den Arbeiterinnen eine Erhöhung der
Fehlgeburtenrate um bis zu 50 Prozent, die in Wahrheit schwer belasteten
Embryos schafften es nicht einmal bis zur Geburt.
Zwar könne die
Menschheit, meint Prof. Beier, durch die Schadstoffe nicht aussterben, dazu sei
die menschliche Fortpflanzung - anders als bei vielen Tierarten - zu robust.
Doch in den Industrienationen trägt die Umweltvergiftung heute schon spürbar
zum Bevölkerungsrückgang bei. Auf die gesellschaftspolitischen Konsequenzen
dieser Entwicklung weist der Hamburger Arzt Dr. Wilfried Karmaus hin: „Weil
diese Staaten eine entwickelte medizinische Technologie besitzen, werden
zunehmend Behandlungszentren für Fortpflanzungsmedizin entstehen, denn es
erscheint auf den ersten Blick einfacher, zu behandeln, als arbeits- und
umweltbedingte Belastungen abzubauen. Die Kostenwelle, die mit diesem Problem
auf die Krankenkassen zukommt, ist vielen noch nicht bewusst.“
Karmaus findet auch
deutliche Worte zu einem weiteren Aspekt. Rund 40 Prozent aller
Schwangerschaften in der Bundesrepublik Deutschland enden derzeit mit einem
Abort. Den etwa 83500 jährlich registrierten Schwangerschaftsabbrüchen steht
dabei die enorme Zahl von 205000 Fehlgeburten gegenüber. Zwischen 20 und 30
Prozent davon werden durch Umweltgifte und gefährliche Arbeitsstoffe
hervorgerufen.
Michael Odenwald