Trinkwasser voll Arzneimittel

Siehe „Klinische Toxikologie“: zu jedem Arzneimittel steht, wie viel davon über das Grundwasser in das Trinkwasser der nachfolgenden Generationen gelangt.

 

Medikamente haben nicht nur Nebenwirkungen für Menschen, sondern auch für Tiere und Pflanzen. Kläranlagen können viele Wirkstoffe kaum ausfiltern. Doch die Pharmaindustrie interessiert das kaum. Erstaunlich viele Rückstände gelangen ins Grundwasser - und gefährden ganze Spezies.

Mit Klärschlamm, der als Dünger verwendet wird, gelangen Arzneimittelrückstände auf die Felder. Wenn es regnet, sickern sie ins Grundwasser und gelangen in den Nahrungskreislauf. Inzwischen können die Spuren einiger Dutzend Medikamente im Trinkwasser nachgewiesen werden, darunter Antibiotika und Röntgenkontrastmittel.


"180 Arznei-Inhaltsstoffe können inzwischen nachgewiesen werden", sagt Ternes. "Aber das ist nur ein Bruchteil der rund 3000 zugelassenen Wirksubstanzen." Noch unübersichtlicher ist die Lage bei den unzähligen Abbauprodukten, in die Medikamente im Körper zerfallen.

Gemeinsam mit dem schwedischen Verband der Pharmazeutischen Industrie schufen das Stockholm County Council, die staatseigene Apothekenkette Apoteket sowie andere Beteiligte aus dem Gesundheitssystem eine Punkteskala von 0 bis 9 für die Umweltverträglichkeit von Arzneien, den PTB-Index. "P" steht für Persistenz, die Lebensdauer der Wirkstoffe, "B" für Bioakkumulation, also dafür, wie stark sie sich in Lebewesen anreichern, und "T" für ökologische Toxizität, die Giftigkeit der Medikamente für die Umwelt.

Eine erste unvollständige Liste ist im Internet veröffentlicht. Diclofenac zum Beispiel erreicht den Wert 7. Ibuprofen, ein Mittel mit vergleichbarer Wirkung, bekommt zwei Punkte weniger, es könnte also für Bachforellen verträglicher sein. "Kein Patient sollte ein Arzneimittel minderer Qualität bekommen, nur weil es ökologisch weniger bedenklich ist", versichert Wennmalm. "Aber wenn es medizinisch gleichwertige Alternativen gibt, hoffen wir, dass sich der Arzt künftig für das Mittel mit den geringsten Umweltfolgen entscheidet."

Der Gedanke ist sicher gewöhnungsbedürftig, ein Mittel nicht nur nach seiner Wirksamkeit auszusuchen, sondern auch nach seiner Umweltverträglichkeit. Hermann Dieter, der Toxikologe vom Berliner Umweltbundesamt, findet das schwedische Modell aber durchaus attraktiv. Die verschreibenden Ärzte zu "sensibilisieren" sei sinnvoll, "wenn geklärt ist, welche der beispielsweise zehn und mehr Betablocker zur Behandlung eines Bluthochdrucks später im Wasserkreislauf Probleme bereiten". Selbstverständlich müsse aber "die optimale therapeutische Qualität vorrangiges Kriterium für alle Patienten bleiben".

Natürlich sind nicht nur die Behörden gefragt, wenn es um das Abwenden von Umweltgefahren geht. Vor allem die Pharmaindustrie müsste sich früh um mögliche Umweltgefahren kümmern. "Auf lange Sicht wollen wir erreichen, dass die Pharmafirmen Arzneien entwickeln, die für das Leben im Wasser weniger schädlich sind", sagt Wennmalm.

"Abbaubarkeit" lautet die Zauberformel der Zukunft - in Schweden ebenso wie beim deutschen Forschungsprojekt start (Strategien zum Umgang mit Arzneimittelwirkstoffen im Trinkwasser), das seit 2006 aktiv ist und vom Bundesforschungsministerium gefördert wird. Klaus Kümmerer vom Institut für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene der Universität Freiburg ist federführend beteiligt. Er verweist auf Glufosfamid, ein neuartiges Krebsmittel, das aus einem alten entwickelt worden ist und derzeit klinisch getestet wird. Dieses habe bereits das Potenzial einer "grünen Pharmazie". Das chemische Verändern eines ursprünglichen Wirkstoffs führe "zu einer besseren Aufnahme im Darm und einer besseren biologischen Abbaubarkeit".

Ein Ökosiegel für Arzneimittel? Für die Masse der Medikamente liegt das noch in weiter Ferne. Andreas Hartmann, Fachmann für Produktsicherheit beim Pharmakonzern Novartis, dämpft die Erwartungen: "Vom Ansatz ist das natürlich ein wertvolles Ziel. Aber es sind doch immer noch beachtliche Hürden zu überwinden, wenn man Patienten innovative Arzneimittel zugänglich machen und zugleich das Wohl globaler Ökosysteme gewährleisten will."

Doch die Zeit drängt. Schon heute könnte Abwasser zumindest besser gereinigt werden. Manchmal hilft Ozon, mitunter auch Aktivkohle, und, ganz modern: teure Nanofilter. Am besten konzentriert man sich zunächst auf Orte, an denen besonders viele Medikamente verabreicht werden - etwa auf Altenheime oder Krankenhäuser. So manche Tonne Wirkstoff ließe sich hier mit getrennten Kreisläufen für Toiletten- und Trinkwasser abfangen, sodass sie gar nicht erst in die Kläranlage gelangen würde.

 

Beispiele:

Tamiflu wäre im Wasser gerade so hoch konzentriert, dass sich die meisten Grippeviren nicht mehr in Vögeln vermehren würden, wenn diese davon trinken. Die meisten, nicht alle. Einige widerstandsfähigere Erreger könnten überleben und sich zu resistenten Keimen entwickeln, gegen die Tamiflu wirkungslos wäre. Für die nächste Grippewelle hätte das fatale Folgen: Eine der ganz wenigen wirksamen Waffen gegen die Grippe wäre plötzlich stumpf.

Wie viel vom Grippemittel ins Wasser gelangt, beschreibt Singers Team auch. 90 Prozent des eingenommenen Tamiflu scheiden Menschen einfach wieder aus. Im Abwasser überwindet das Medikament Kläranlagen fast vollständig und fließt in die Umwelt.

Die englischen Forscher weisen auf ein Problem hin, das Forscher und Pharmaindustrie bislang weitgehend ausblenden. Denn ob Schmerzmittel, Betablocker oder Cholesterinsenker, ob Antibiotika oder Antidepressiva - immer häufiger erscheinen die Medikamente in nennenswerten Konzentrationen in der Umwelt. Die Stoffe gelangen auf natürlichem Ausscheidungswege ins Abwasser, schwappen in Bäche, Flüsse und Seen und gefährden die Gesundheit von Fischen, Algen und anderen Lebewesen.

Auch erste Forschungsergebnisse zu Diclofenac, dem Wirkstoff des Schmerzmittels Voltaren, sind alarmierend. Julia Schwaiger vom Bayerischen Landesamt für Wasserwirtschaft entdeckte, dass er bei Regenbogenforellen Nierenschäden auslösen kann. Ihre Schweizer Kollegin Bettina Hitzfeld vom Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft in Bern fand Bachforellen, deren Immunsystem geschwächt war - und das bei Diclofenac-Werten, wie sie schon heute in Oberflächengewässern gemessen werden.

All das ist noch harmlos im Vergleich zu dem, was der Wirkstoff in Asien anrichtete. Dort verendeten mehrere zehn Millionen Greifvögel. Auch in ihren Körpern wurden Rückstände von Diclofenac gefunden - wahrscheinlich stammt es aus Rinderkadavern, die die Vögel gefressen hatten. In Indien, Pakistan und Nepal war das Mittel jahrelang in großen Mengen an Tiere verfüttert worden. Jetzt sind drei Geierarten deswegen fast ausgerottet. "Es ist der erste erwiesene Fall, in dem ein pharmazeutisches Produkt eine ökologische Katastrophe solchen Ausmaßes verursacht hat", stellte Lindsay Oaks von der Washington State University 2004 anlässlich der Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse im Fachblatt Nature fest.

http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,465079-2,00.html