1969 Strophantinspritze erster eigener Todesfall
Alle jungen Medizinalassistenten mussten als erstes die
Patienten spritzen bzw. Blut abnehmen. Jeder schwer Herzkranke bekam morgens
ein Viertel und abends ein Achtel Strophantin in die Vene gespritzt. Dies
besserte zwar die Herzschwäche deutlich, jedoch längst nicht so wie das heutige Digitalis als Tablette, das einen sicheren,
nachprüfbaren Blutspiegel erzeugt. Strophantin musste man wegen der kurzen
Halbwertzeit zweimal am Tag in die Vene spritzen: morgens ein Viertel, abends
ein Achtel Milligramm. Zwischenfälle hörten wir nur bei der Morgenspritze.
Der große Nachteil von Strophantin waren die häufigen
Todesfälle unter der Spritze durch Kammerflimmern. Davor hatten wir alle Angst.
Mein Vater erzählte mir, die einzigen Todesfälle in der Klinik und in der
Praxis hörte er durch Strophantinspritzen. Strophantin wird aber als Tablette
viel zu unsicher und wechselnd resorbiert. Daher gibt es bei der geringen
therapeutischen Breite ebenso viele Todesfälle wie durch Spritzen. Nur sieht
man dann den Zusammenhang nicht mehr. Er hielt die Zwischenfälle für eine allergische
Reaktion, wofür spricht, dass man heute weiß, dass es ein körpereigenes Hormon
ist, auf das es viele Allergien gibt.
Als ich in die Klinik kam konnte ich als einziger
hervorragend spritzen, da ich es in der Praxis des Vaters gründlich gelernt und
laufend gemacht hatte.
Einer der ersten Patienten war ein Schwerkranker mit
Rechtsherzschwäche, blauen Lippen und Sauerstoff am Bett. Anstelle der damals
noch nicht vorhandenen Intensivstation stand er mit seinem Bett im
Stationszimmer zur Dauerbeobachtung. Der Patient war sehr fröhlich und bedankte
sich überschwänglich, dass ihm meine Spritze nicht weh tut. Ich spritzte ganz
langsam und ängstlich. Plötzlich schnappte er nach Luft und wurde bewusstlos.
Trotz sofortiger versuchter Wiederbelebung starb er.
Der Oberarzt kam hinzu und tröstete mich: „Jeder
erlebt einen Todesfall unter der Strophantinspritze. Jetzt hast Du zehn Jahre –
statistisch – Zeit bis zu Deinem nächsten. Den Tod könne man nicht verhindern,
tröstete er mich, es geschähe durch die Steigerung der Natrium-Kalium-Pumpe an
der Herzzelle, was gelegentlich – in statistisch jedem 30 000. Fall zu tödflichem Kammerflimmern führt.
Die Komplikation trat nach seiner Meinung stets dann
auf, wenn durch die gleichzeitige – notwendige – Gabe eines Diuretikums zur
Wasserausscheidung der Kaliumspiegel der Zelle verändert sei. Die häufig
geäußerte Meinung, Strophantin würde den Blutdruck beeinflussen oder gar einen
Herzinfarkt verhindern, halten alle Kardiologen bis heute für Aberglauben. Mein
Bruder ist niedergelassener Kardiologe. Wegen der Gefahren der positiv inotropen, d.h. Herz- und Erregungsleitung antreibenden
Wirkung, halten alle heute auch
Digitalis für verzichtbar und bevorzugen Calciumantagonisten und Diuretika.
Zum Glück gab es dann Digitalis als hervorragend
wirkende, unschädliche Tablette.
Als
Tablette wirkt Strophantin überhaupt nicht sicher (Placebo). Kein Kardiologe
gibt heute noch Strophantin und extrem selten noch Digitalis, sondern gibt
Entwässerungs-Tabletten und Hochdruck-Tabletten bei Herzschwäche.
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Spritzen sollte man wegen der Allergisierungsgefahr
stets meiden – zumal die Aufnahme über den Mund bei den Mitteln, die früher
häufige Todesfälle ausgelöst hatten (Rheumamittel!), ausreichend sind. Ärzte, die die
gefährlichen Nebenwirkungen nicht erlebt hatten, empfehlen heute plötzlich
wieder den alten Zopf.
Das ist jedoch die Regel bei allen alten
Therapiemethoden, die wegen ihrer Nebenwirkungen verlassen werden mussten –
meist in der Naturheilkunde. Begünstigt wird dieser Irrglauben jedoch dadurch,
dass unsere Väter die Nebenwirkungen und Todesfälle früher stets nicht gemeldet
hatten, da es dafür keine Stelle gab!
Ein Jahr später hatte ich „als Feuerwehr“ ausgeholfen
in einer anderen Städtischen Klinik, die kurz darauf geschlossen wurde, an der
alle Oberärzte und Assistenten schlagartig gekündigt hatten, weil der schwer
Schizophreniekranke Chefarzt sie gemobbt hatte. Der erste Schritt war, dass ich
alle Strophantinspritzen absetzte, die sämtliche Patienten wahllos auf
Anordnung des Chefarztes mit den stumpfen sterilisierten Nadeln und
Glasspritzen bekamen: Ein Vierundsechzigstel Strophantin in 40 ml Wasser
verdünnt. Dann entließ ich alle Gesunden, viele 16 Jährige nach
Selbstmordversuch. Binnen 8 Tagen waren nur noch 10% der Patienten im Krankenhaus,
die anderen gesund zuhause. Danach verließ auch ich die Klinik.
Meine tödlichen Nebenwirkungen folgen in dieser
Biografie. Man versteht darunter keine „Kunstfehler“, sondern Unwissenheit aus
mangelnder Erfahrung. Mein alter Oberarzt sagte einmal: „Ein Arzt ist erst dann
erfahren, wenn ihm die ersten 30 Patienten unnötig verstorben sind“! (s. 1980
Todesfälle unnötige eigene)
(Auszug aus meiner neuen Biografie)