1971 400 SCHLAFTABLETTEN Dialyseverbot vom Chef

 

Kurz nach Eröffnung der ersten Intensivstation in Deutschland in einem städtischen Krankenhaus zur Behandlung von Vergiftungen, die durch mich geleitet wurde, kam eine schwerst Vergiftete zur Aufnahme. Ein Rot-Kreuz-Wagen brachte eine extrem unterkühlte (24 °C Patientin im schweren Schock. Leere Tablettenhülsen von 400 starken Schlaftabletten sowie das leere Trinkglas hatten die Sanitäter mitgebracht, sowie einen Abschiedsbrief der 18 jährigen, wonach sie vor 8 (!) Tagen die Schlafmittel in Selbstmordabsicht nach einem kleinen Streit mit ihrem Freund eingenommen hatte. Beim Umlagern der Sterbenden auf der Intensivstation kam es zum Atemstillstand, beim Intubieren (Einführung eines Tubus in die Luftröhre zur Durchführung einer Beatmung) zum Herzstillstand. Die Widerbelebungsmaßnahmen hatten sofort Erfolg. Da ein Nierenversagen bestand, wurde eine Magenspülung mit anschließender Instillation von Kohle zum Binden der Gifte durchgeführt. Überraschenderweise entleerte sich dabei eine trübe Suppe von Tablettenresten, was wir nach einer so langen Liegezeit nicht mehr erwarteten. Die Liegezeit war sicher, weil an allen Aufliegestellen riesige Wassergefüllte Blasen bestanden und am Po das offene Fleisch schmierig eitrig war, wie man es nach langem Liegen bei Barbiturat/Barbitursäure (heute nicht mehr zugelassene Schlafmittel)-Vergifteten sieht. Da durch den Schock ein Nierenversagen bestand, das sich durch Plasmaexpander (Blutersatz) und Hydergin zur Erweiterung der Haut- und Nierengefäße sowie Alkalisierung der sauren Barbitursäure nicht bessern ließ, war die einzige Überlebenschance die Durchführung einer schnellen Peritonealdialyse (Blutwäsche über den Bauchraum). Dies war auch wegen der starken Untertemperatur lebensnotwendig.

 

Ein Oberarzt kannte diese Technik und hatte auch die Instrumente. Nur hatte der Chefarzt grundsätzlich verboten, dass solche Methoden in seinem Haus angewendet werden. Er bezeichnete mich abfällig als „Schläucherlleger“, weil er einen Dauerkatheder für Infusionen ebenso ablehnte wie einen Dauerkatheder über die Blase. Wir hatten uns von der Tiermedizin, die dies bereits kannten, meterlange feine Teflonschläuche besorgt und sterilisiert. Mit „venae-sectio-Besteck“ schnitten wir die Haut auf, legten eine Vene frei, unterbanden sie auf der körperfernen Seite, schnitten sie auf und schoben das Schläuchlein in eine große Punktionsnadel in die Vene zum Herzen, banden das Schläuchlein an die Vene und nähten die Haut wieder zu.

 

Ich hatte dieses Verfahren entwickelt und viele Ärzte und Firmen sahen es sich an und entwickelten daraus Nadeln, die man von außen einstechen konnte und dann das Schläuchlein einführen konnte, den so genannten Venenkatheder.

 

Mit dem Oberarzt vereinbarte ich die Dialyse für die Patienten zu dem Zeitpunkt, zu dem der Chefarzt sicher aus dem Haus war. Bis zum nächsten Morgen hatte die Patientin dann das wichtigste hinter sich. Nach dem vermuteten Heimgang des Chefarztes baute man emsig die Dialyse aus der Intensivstation auf. Als alles fertig war, der Oberarzt den Bauch des Mädchens desinfiziert hatte und  die Drainage einstecken will, geht plötzlich die Türe auf und das grauhaarige 63 jährige Wutzelmännchen des Chefarztes kommt herein. Schnell geht er zur Patientin und schaut sie an. „Was habt ihr da gemacht? Ihr habt sie ja in der Lunge mit dem Schläucherl verletzt“ meinte er. „Nein“, rief ich, „ sie hat ein Lungenödem bei Nierenversagen durch eine schwerste Schlafmittelvergiftung.“ „Was macht ihr jetzt?“ „Wir machen eine künstliche Niere“. „In meinem Haus wird so ein Schmarrn nicht gemacht. Baut dies sofort ab, ich verlange es.“ „Sollen wir dann die 18 jährige sterben lassen?“ Alle anderen Ärzte, 3 Oberärzte und 5 Stationsärzte blieben stumm und versteinert stehen. Ich zitterte vor Wut am ganzen Körper. Er schrie mich an: „Komm mal mit mir raus.“ Wir gingen vor die Station an die Treppe. Er packte meinen Kittel bei den Knöpfen, zog ihn zu sich hin und stieß in wieder zurück, mehrmals. Dabei schrie er besinnungslos vor Wut: „Das ist meine Station, mein Haus, da geschieht das, was ich will, nicht das, was ein Daunderer will. Du bist so stur wie Dein Vorfahr`, der für den König arbeitete. Hier bestimme ich als König“ Mein Urahne war Leibarzt bei König Ludwig I.  Jetzt dachte ich an König Ludwig II, den ich sehr verehre. Auch ich war groß, sehr kräftig, wie er. Professor Jakob Bauer war sehr klein und schmächtig, so wie Dr. Gudden, der Chefarzt der Psychiatrie, dem er seinen Tod verdankt. Kurz dachte ich, wenn ich jetzt den Zwerg packe und die Treppe hinunterwerfe, an der wir standen, ist er unten tot und keiner weiß, warum. In meinem Kopf schwirrte es „alte Chefärzte, falsche Diagnosen, kennen heutige Therapie nicht, herrschsüchtig, tyrannisch.“ Besinnungslos vor Wut schrie er „Ich bin hier der Chef, hier wird getan, was ich will. Ein Daunderer hat zu tun, was ich will.“ „Neeeiiin“ brüllte ich wie ein Stier ins Treppenhaus hinaus, riss meinen Arztkittel wuchtig auf, drehte mich um und lief die  Treppe in Vierersätzen hinunter. Sprachlos hielt der Chef mit offenem Mund meinen leeren Kittel mit Piepser, vollen Taschen und Hörrohr in der Hand.

 

Ich fuhr heim, sagte: „Nie mehr gehe ich zu diesem Volltrottel und suche mir eine neue Stelle.“ Ich dachte, jung, dynamisch, voll mit einmaligen Spezialkenntnissen dürfte dies kein Problem sein. Viele Chefärzte oder leitende Oberärzte sagten beim Vorstellungsgespräch: „Interessant …  aber Assistent bei Prof. Jakob Bauer … da gehen sie 1 Jahr zu einer richtigen Inneren Medizin und melden sich dann wieder bei mir!“. Also geht man in der Medizin davon aus, dass jeder sklavisch nur die Meinung seines Chefs wiederplappert und keine eigene Meinung hat.

 

Als ich mich auch verzweifelt im Schwabinger Krankenhaus bei anderen Chefärzten erfolglos vorgestellt hatte, was ja recht sinnlos war, da mein Chef der Gesamt-Klinikdirektor war, lief ich in die Hände meines Oberarztes. Der war sehr lieb zu mir. Obwohl ich 14 Tage unentschuldigt vom Dienst weggeblieben war, sagte er: „Geh schleunigst auf Deine Intensivstation und räume auf, da geht alles drunter und drüber. Der Chef blieb auch unbekannt vom Dienst fern und bekam daher nichts mit. Ihr müsst ja übel gestritten haben.“

Sofort ging ich zerknirscht auf meine Station und arbeitete geläutert weiter.

 

Die Story von Dr. Gudden und seinem Patienten König Ludwig II machte dann die Runde im ganzen Krankenhaus. Jeder behandelte mich ehrfürchtig als Einzelkämpfer, fast täglich kamen Assistenten und Schwestern von anderen Chefärzten mit ähnlichen Problemen zu mir. Chefarzt Bauer machte ab da einen riesigen Bogen um mich, als er nach 4 Wochen wieder zum Dienst kam und machte keine Visite mehr auf meiner Intensivstation. Bald darauf ging er in Pension. Ich bekam die Intensivstation und einen Notarztwagen der Feuerwehr zur Behandlung der Vergifteten.