Röntgenpfusch
Dramatisch
Fehldiagnosen bei Röntgenbildern wurden durch Kontrollen in Hessen. Aufgedeckt.
Jetzt sollen die Kontrolleure ausgetauscht werden.
Der Schatten in
der Magengegend war dem oberhessischen Internisten auf dem Röntgenbild nicht als
bedenklich aufgefallen. Der Mediziner beruhigte seinen Patienten, einen 25-jährigen
Sportler: Er habe nur einige harmlose Magengeschwüre, und die ließen sich
erfolgreich behandeln. Wenige Wochen später landete der Magenkranke auf einem
Operationstisch der Universitätsklinik Gießen – in letzter Minute. Den
Noteingriff hatte eine radiologische Prüfkommission der Ärztlichen Stelle
Hessen (ÄSH) ausgelöst. Bei einer Routinekontrolle der Röntgenbilder waren die
Spezialisten auf die lebensgefährliche Diagnose-Panne gestoßen: Der spanische Patient
litt nicht nur an Magengeschwüren, sondern auch an einem Magenkarzinom. Per
Telefon wurde der behandelnde Arzt alarmiert. Inzwischen ist der Rat der
rund 60 ehrenamtlich aktiven Röntgenexperten nicht länger erwünscht. Ebenso
wie die Kassenärztliche Vereinigung (KV) und die Landesärztekammer, die 1989 im
Rahmen der Röntgenverordnung mit der Bildung der Ärztlichen Stelle beauftragt
worden waren, wollen sich die Regierenden den Ärger mit maulenden Ärzten
ersparen, die sich von den Prüfern nur ungern in die Praxis schauen lassen. Im
Juni 1998, unter Verantwortung der rot-grünen Landesregierung, war die Stelle
aufgelöst worden. Obwohl die CDU-Fraktion noch vor der letzten Landtagswahl im
Februar 1999 zugesagt hatte, die ÄSH zu unterstützen, will auch das neue
CDU-FDP-Kabinett die Experten nicht mit der Kontrolle ihrer Kollegen betrauen. Übertragen
werden soll die Überprüfung nun dem in diesem Bereich wenig erfahrenen TÜV
Süddeutschland. Dabei wird ein Großteil der Röntgenbilder – bundesweit werden
insgesamt rund 23 Millionen pro Jahr angefertigt – falsch aufgenommen und
fahrlässig interpretiert. Professor Heinz Deininger, Radiologe und ehemals
Chefarzt am Städtischen Klinikum Darmstadt kann es „nicht fassen, was an
miserablen Aufnahmen von ausgebildeten Ärzten aufgenommen wird“. „Da sind
Bilder dabei, die ich einem Studenten im Examen nie durchgehen lassen würde“,
sagt Deininger. Auch Professor Michael Meves, Chefarzt am Frankfurter
Krankenhaus Nordwest wundert sich über die „teilweise sehr schlechte Qualität
der Röntgendiagnostik“. Massenhaften Pfusch mit dramatischen
Konsequenzen haben wiesen Experten zuletzt in Essen nach. Zwischen 1994 und
1997 wurden dort rund 300 Brustamputationen vollzogen, obwohl die betroffenen
Frauen offenbar keinen Krebs hatten. Ein Gutachten der Gesellschaft für
Senologie ergab ein schockierendes Ergebnis: Bei 75 Prozent der 51 analysierten
Fälle war der Krebsverdacht anhand des Röntgenbildes nicht nachvollziehbar. Nach
Ansicht von Professor Günther Kaufmann, Altpräsident der Deutschen
Röntgengesellschaft, sind jährlich 8 Millionen Thoraxaufnahmen und etwa 23
Millionen Skelettröntgenbilder überflüssig. Mit ihrer Kritik am
Röntgenpfusch schufen sich Meves und seine hessischen Kollegen kaum Freunde.
Die Auflösung im Juni 1998 erfolgte, nachdem die KV und die Landesärztekammer
nicht länger als Träger fungieren wollten. Offizielle Begründung: finanzielle
Probleme. Weil die rot-grüne Landesregierung keine gesetzliche Grundlage für
die Arbeit der Kontrolleure geschaffen hatte, verwarfen mehrere
Gerichtsinstanzen die von der ÄSH geforderten Gebühren als rechtswidrig. Pro
Erstprüfung wurden rund 850 Mark verlangt. Jetzt drohen dem Land und den
ehemaligen ÄSH-Trägern Regressforderungen in Höhe von sechs bis acht Millionen
Mark – ein Schaden, den die alte Regierung hätte vermeiden können. Schon 1994
war sie von dem früheren ÄSH-Leiter Bernhard Götz gedrängt worden zu handeln. Götz:
„Es kam nie eine Reaktion aus Wiesbaden.“ Für die Ärzteschaft spielte der
Gebührenfaktor allerdings nur eine untergeordnete Rolle in dem Konflikt: Viele
Doctores störten sich vor allem an den angeblich zu scharfen Überprüfungen. Von
rund 22.000 analysierten Röntgenaufnahmen im Jahr 1997 hatten die ÄSH-Experten
25 Prozent als „nur stark eingeschränkt“ oder „nicht“ diagnostizierbar
beurteilt. Die angeblich zu pingeligen hessischen Experten stehen mit ihrer
Kritik keineswegs allein. Heidelberger Kinderradiologen haben 1999 ähnlich
alarmierende Zahlen veröffentlicht: Jedes vierte von 166 Röntgenbilder
stuften die Uni-Wissenschaftler als „diagnostisch unbrauchbar“ ein. Bei keiner
Aufnahme, für die eine Bleiabdeckung der Beckenorgane oder der Hoden
erforderlich war, war dem Patienten der Gonadenschutz korrekt angelegt worden.
Wegen solcher und ähnlicher Mängel hatten die hessischen Kontrolleure in den
Jahren 1996 und 1997 immerhin 39 Röntgenstellen in Kliniken oder Behörden und
96 niedergelassene Ärzte den Staatlichen Ämtern für Arbeitsschutz und
Sicherheitstechnik gemeldet. Dennoch besteht Experten sehr daran interessiert
waren, die Prüfaufgabe als Verein zu übernehmen, hat das Sozialministerium auf
eine öffentliche Ausschreibung verzichtet. „Wir erhielten nicht mal die
Anforderungskritierien“, klagt Meves. Die Vergabe an den TÜV hält Gerd Albracht,
zuständiger Abteilungsleiter, dennoch für ein „ordentliches Verfahren“. Er
sitzt nebenamtlich beim Verwaltungsrat des TÜV Süddeutschland.
Wilfried Voigt
Der Spiegel
11/2007