Ritalin - Methylphenidatgebrauch in Deutschland

Versichertenbezogene epidemiologische Studie über die Entwicklung von 1998 bis 2000

 

Zusammenfassung

Der Stimulanziengebrauch wird auf der Grundlage der pseudonymisierten 18,75 Prozent Zufallsstichprobe „Versichertenstichprobe AOK Hessen/KV Hessen“ für 1998 bis 2000 dargestellt. Die Untersuchungspopulation umfasste rund 64.000 ganzjährig Versicherte unter 20 Jahren. Es zeigte sich ein Anstieg der Verordnungshäufigkeit um das Zweieinhalbfache. Das Hauptbehandlungsalter lag zwischen 7 und 13 Jahren (Prävalenz 2000: 1,10 Prozent; männlich: 1,44 Prozent; weiblich: 0,23 Prozent). Überwiegend wurde kurz beziehungsweise niedrig dosiert: Etwa die Hälfte der Patienten erhielt den Wirkstoff für weniger als vier Monate, ein Fünftel nur ein Rezept. Eine Hochdosisbehandlung fand sich nur in vier Prozent der Fälle. An der Behandlung mit Methylphenidat sind nur wenige Arztgruppen beteiligt, überwiegend Kinderärzte, Allgemeinärzte und Kinder-/Jugendpsychiater. Zu klären bleibt für Folgeuntersuchungen, ob die Kinder, die Verordnungen erhalten, sie, diagnostisch gesehen, benötigen.

 

Schlüsselwörter: Methylphenidat, hyperkinetisches Syndrom, Arzneimittelverordnung, Epidemiologie, pädiatrische Erkrankung

 

Die hohe Zunahme der Verbrauchsmengen von Methylphenidat, einem Psychostimulanz, mit dem Kinder behandelt werden, die unter einem Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) leiden, hat eine breite und intensive Diskussion über die Zahl der beteiligten Kinder sowie über die Notwendigkeit, die Indikationsgerechtigkeit und die Leitlinientreue dieser Therapie ausgelöst.

 

Wie Schubert et. al (2001) anhand der Daten des Arzneiverordnungs-Reportes zeigen konnten, stieg die Anzahl der verordneten Tagesdosen von 1991 bis 1999 auf das 21fache an. Die Autoren schätzten mit aller Vorsicht, die eine derartige Schätzung aus nicht-personenbezogenen globalen Verordnungsmengen verlangt, dass im Jahr 1999 in Deutschland 41.791 Kinder und Jugendliche einer Dauerbehandlung mit Methylphenidat hätten unterzogen werden können. Das entspräche, würde man diese Zahlen auf die in Deutschland lebenden 6- bis 18-jährigen beziehen, einer Behandlungsprävalenz von 0,4 Prozent für 1999.

 

In den USA wurde mit ähnlicher Methode eine Dauertherapie mit Methylphenidat für das Jahr 1995 auf 2,8 Prozent der 5- bis 18-Jährigen geschätzt. Für die zentrale Altersgruppe der 5- bis 14-Jährigen wurde 1995 eine Behandlungsprävalenz von 4,6 Prozent beobachtet (Baltimore Public schools). 1987 betraf die Stimulanzientherapie in den USA nur 0,6 Prozent der unter 18-Jährigen, dies entspricht etwa der in Deutschland erst 1999 beobachteten Behandlungsprävalenz von 0,4 Prozent. Die Diskrepanz zu der deutschen Schätzung ist groß. Demnach wäre in den USA von etwa sechsmal so vielen mit Stimulanzien behandelten Kindern auszugehen. Andererseits zeigt eine epidemiologische Studie in North Carolina (USA) von Angold et al. (2000), dass die Mehrzahl der Kinder, denen Stimulanzien verschrieben wurden, die klinischen Kriterien für die ADHS nicht erfüllten. Angold schloss daraus, dies deute auf eine ungenügende Diagnosestellung und ungenügende Qualitätsstandards der Indikationsstellung für die Therapie. Auch in Deutschland wird diese Diskussion zurzeit geführt (siehe Bundestagsdrucksache 14/8912), sodass die Drogenbeauftragte der Bundesregierung die Formulierung fachspezifischer Mindestanforderungen als Voraussetzung für die Erstverschreibung von Methylphenidat und die Erarbeitung entsprechender Leitlinien zur Diagnostik und Therapie fordert. Die aktuelle Verschreibungspraxis wirft viele Fragen auf, deren Beantwortung eine Voraussetzung für die Verbesserung der Versorgungssituation ist:

 

 

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Quelle: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 100, Heft 1-2, 6. Januar 2003