Reizgas - Fallbericht Herr A. B.

 

Es soll zu folgenden Fragen Stellung genommen werden:

 

  1. Muss der jetzige Erkrankungszustand des Patienten mit dem seinerzeitigen Unfallgeschehen in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden und
  2. wann und in welcher Höhe ist eine Minderung der Erwerbsfähigkeit eingetreten?

 

Hinsichtlich der Beurteilung ist es von Wichtigkeit, einige Daten aus der Vorgeschichte und dem Unfallgeschehen zu erwähnen:

 

Vorgeschichte

 

Familienanamnese:

 

Der Vater sei im Ersten Weltkrieg gefallen, die Mutter an Altersschwäche im 70. Lebensjahr verstorben. Von sechs Geschwistern leben heute noch fünf, ein Bruder ist im Krieg gefallen, die überlebenden seien gesund.

Es existieren vom Patienten drei gesunde Kinder.

Erbliche und infektiöse Erkrankungen seien nicht vorhanden, insbesondere seien in der Familie kein Diabetes, keine Tuberkulose, keine Geisteskrankheiten oder Geschlechtskrankheiten bekannt.

 

Eigenanamnese:

 

Wesentliche Erkrankungen wurden im Kindes- und frühen Erwachsenenalter nicht durchgemacht.

1945 Verwundung der linken Hand mit Verlust des 4. Fingers und des Endgliedes des 2. und 3. linken Fingers.

1971 grippaler Infekt, Dauer vom 25.03.71 bis 03.04.71.

1972 Bronchitis 29.02.72 bis 03.03.72, ebenfalls in diesem Jahr allergischer Gesichtsausschlag vom 25.03.72 bis 01.04.72.

Am 18.12.72 bis 31.12.72 Chlorgasintoxikation.

Ebenfalls vom 12.03.74 bis 08.04.74 Bronchitis.

 

Sozialanamnese:

 

Herr B. ist geschiedener Laborfacharbeiter bei der Firma Hoechst, Gersthofen. Er arbeitet seit 1972 im Forschungslabor, Abteilung 202, im Elektrolysebau an der  Herstellung von Kohlefabrikaten.

 

Unfallhergang:

 

Laut Berufsunfähigkeitsanzeige hatte Herr B. Versuchsarbeiten durchzuführen, dabei strömte aus unbekannten Gründen in einem neben dem Arbeitsbereich liegenden Betriebsteil Chlorgas aus und drang in den Arbeitsraum. Da Herr B. die erforderliche Atemschutzmaske nicht griffbereit hatte, musste er durch die Chlorgaswolke gehen und atmete die Dämpfe ein. Er wurde nach dem Unfall mit einem Rettungswagen der Fa. Hoechst in ein Sauerstoffzelt transportiert und dann in das Krankenhaus Wertingen gebracht.

Dort zeigte sich bei der Aufnahme ein allgemein guter körperlicher Zustand, keine erkennbaren Intoxikationszeichen. Die Kreislaufverhältnisse waren stabil.

Die Lungen boten bei der Untersuchung keine Auffälligkeiten, eine Röntgenaufnahme der Thoraxorgane wurde nicht veranlasst. Aus Sicherheitsgründen wurde eine vorübergehende stationäre Aufnahme zur Beobachtung und endgültigen Abklärung auf der Intensivabteilung vorgenommen.

Nachdem sich kein krankhafter Befund herausstellte, wurde Herr B. am 19.12.72 in die weitere hausärztliche Behandlung entlassen und bis zum 31.12.72 für arbeitsunfähig befunden. Nach dem Unfall seien bei dem Patienten bronchitische Beschwerden, ein Emphysem und starke Atemnot aufgetreten, sowie eine erhebliche Einschränkung der Arbeitsfähigkeit, mit der Unfähigkeit schwere körperliche Arbeiten zu verrichten. Insgesamt sei eine allmähliche Verschlechterung dieser Beschwerden eingetreten.

 

Vegetative Beschwerden und subjektives Empfinden:

 

Augen subjektiv gut, Gehör in Ordnung. Appetit ordentlich, Stuhlgang regelmäßig, Farbe normal. Gewicht konstant, Schlaf unauffällig.

 

Klinische Untersuchung am 30.07.75:

 

Es fand sich ein altersentsprechender Patient, normaler Kräftezustand und ordentlicher Ernährungszustand.

 

Kopf:

Aktiv und passiv frei beweglich, kein Kalotten-Kopfschmerz, NAP und NNH frei. Sonst keine Auffälligkeiten.

 

Hals:

Keine Einflussstauung, geringe Struma.

 

Thorax:

Symmetrisch, angedeutet fassförmig konfiguriert. Ausreichende Zwechfellbeweglichkeit. Über allen Lungenpartien vesikuläres Atemgeräusch mit Giemen, Pfeifen und Brummen in beiden Mittel-Unterfeldern.

 

Herz:

Spitzenstoß im 5. ICR in der Medioclavicularlinie gelegen. Präcordium ruhig. Töne leise, rein, keine Extratöne, keine pathologischen Geräusche. RR 160/90 mmHg, Puls 60/Min., regelmäßig Aktion.

 

Abdomen:

Keine besonderen Auffälligkeiten, insbesondere keine Leber- und Milzvergrößerung. Nierenlager beidseits nicht klopfempfindlich.

 

Extremitäten:

Altersentsprechend, Zustand nach Verlust des 4. Fingers und der Endglieder der 2. und 3. Finger links. Keine Ödeme, keine wesentliche Varikosis.

 

Alkohol:

3 - 4 Halbe pro Tag, gelegentlich etwas Schnaps.

 

Nicotin:

Seit dem 20. Lebensjahr 10 - 20 Zigaretten, keine Tabletten, kein Coffein.

 

Serologische Befunde:

 

Harnstoff-N 20 mg/%, Kreatinin 1,1 mg%, Kalium 4,6 mg%, Natrium 143 mg%, Chlor 99 mg%, Gesamteiweiß 8,1 mg%, Harnsäure 6,9 mg%, Calcium 9,5 mg%, anorg. Phosphat 2,9 mg%, Gesamtlipide 1146 mg%, Cholesterin 224 mg%, Triglyceride 447 mg%, Bilirubin 0,7 mg%, Amylase 32 WE, Gerinnungsfaktoren normal. Blutzucker 160 und 110.

Blutgasanalyse: pH 7,43, PO2 54 mm/Hg, PCO2 32 mmHg, HCO3 21 mmHg, CO2 22 mmHg und BE -1,4.

Im Sputum Keime der normalen Mundflora, Cardiolipinflockungstest negativ, im Urin keine pathologischen Auffälligkeiten.

 

EKG:

 

Sinusrhythmus, mittel-typische Herzachse, Überleitungszeit mit 0,21 sec geringgradig verlängert. Kammerkomplex in Ableitung III geknotet, ansonsten aber unauffällig, keine intraventriculäre Leitungsverzögerung. Erregungsrückbildung ebenfalls unauffällig. In den Brustwandableitungen keine wesentlichen Besonderheiten. RS-Umschlag in Ableitung V4. Erregungsrückbildung auch hier unauffällig.

Beurteilung:

Geringe Rechts-Belastungszeichen erkennbar, ansonsten aber noch altersentsprechender Stromkurvenverlauf, kein Anhalt für Herzrhythmusstörungen.

 

Röntgen-Thoraxübersichtsaufnahme vom 30.07.75:

 

Aortal konfiguriertes Herz, das größenmäßig aber im Normbereich gelegen ist. Die Lungenwurzeln sind gefäßartig abgesetzt, nicht vergrößert, keine Kaliber-Sprünge zur Peripherie, die Lungenzeichnung in allen Abschnitten regelrecht ohne Nachweis von frischen Infiltrationen oder Ergussbildungen.

 

Beurteilung:

An den Thoraxorganen kein krankhafter Befund, insbesondere kein sicheres Vorliegen eines Emphysems oder von intrapulmonalen krankhaften Veränderungen.

 

Lungenfunktionsprüfung:

 

Plethysmographie:

Residualvolumen über der oberen Normgrenze als Ausdruck eines Emphysems, hochgradige Erhöhung des Atemwegswiderstandes mit Verminderung der Vital- und Einsekundenkapazität, Verminderung des Atemgrenzwertes.

 

Die Lungendehnbarkeit ist mit 0,27 l/cm H2O normal.

Normale Diffusionskapazität für Kohlenmonoxid. Die arterielle Blutgasanalyse zeigt in Ruhe altersentsprechende Blutgaspartialdrucke für Sauerstoff und Kohlensäure.

Bei einer Belastung mit 50, 70 und 90 Watt Gesamtbelastungsdauer 5 Minuten stieg das Atemminutenvolumen auf zuletzt etwas über 60 l an, die Pulsfrequenz betrug 92. Grund für den Abbruch war eine schwere bronchiale Obstruktion, die bereits mit bloßem Ohr laut hörbar war. Bei Abbruch betrug die arterielle Sauerstoffspannung 76 Torr, die CO2-Spannung 36 Torr. Nur langsames Ansteigen der Sauerstoffspannung nach Atmen mit reinem Sauerstoff.

 

Beurteilung:

Es liegt hier eine schwere Bronchitis vor, in deren Folge es zu einer Überblähung der Lunge gekommen ist (Lungenemphysem). In Ruhe kann der intrapulmonale Gaswechsel gut bewältigt werden, unter Belastung ist jedoch die Leistungsfähigkeit der Lungen deutlich begrenzt, vor allem durch die auftretende bronchiale Obstruktion.

Die Pulsfrequenz zeigt ebenfalls, dass die Leistungsfähigkeit rein pulmonal und nicht zirkulatorisch begrenzt ist, eine maximale Belastbarkeit mit nur 90 Watt muss als deutlich pathologisch gewertet werden. Die Fehlverteilung von Ventilation zur Perfusion kommt auch in dem nur langsamen Anstieg der Sauerstoffspannung zum Ausdruck, normalerweise darf die Einmischzeit nicht mehr als 7 Minuten betragen; bei Herrn B. war nach 15 Minuten eine vollständige Einmischung noch nicht erreicht worden.

 

Gutachterliche Stellungnahme:

 

Aus der Anamnese geht hervor, dass Herr B. seit seinem 20. Lebensjahr, also insgesamt über 30 Jahre, etwa 10 - 20 Zigaretten pro Tag geraucht hat. Von ihm aber werden subjektive Beschwerden von Seiten des Bronchialsystems ausdrücklich verneint.

Weiter ist aus einer Zusammenstellung der Berufsgenossenschaft der Feinmechanik- und Elektrotechnik vom 26.9.74 über die Anzahl und Dauer der Arbeitsunfähigkeit des Herrn A. B. zu ersehen, dass lediglich zweimal, und zwar vom 25.3 - 3.4.1971 wegen Grippe, und am 29.2. - 3.3.72 wegen Bronchialentzündung (Dr. L. Meittingen) eine Arbeitsunfähigkeit bestanden hat.

Nach dem Unfall ist aus dem Durchgangsbericht vom 18.12.72 des Kreiskrankenhauses Wertingen (Dr. H. W., Facharzt für Chirurgie und Unfallchirurgie) ersichtlich, dass der Verunfallte bei der klinischen Untersuchung keinerlei Anhalt für eine Erkrankung des Respirationstraktes geboten hatte. Aus der gutachterlichen Stellungnahme des staatlichen Gewerbearztes vom 28.4.75 geht hervor, dass der obengenannte Durchgangsarzt eine vorübergehende stationäre Aufnahme zur Beobachtung und endgültigen Abklärung auf der Intensivabteilung veranlasst hatte.

Am folgenden Tage, am 19.12.72, verließ der Patient auf eigene Verantwortung (Eigenanamnese) das Krankenhaus, deshalb konnte die beabsichtigte Abklärung nicht vorgenommen werden. Der Versicherte befand sich bis zum 31.12.72 dann in hausärztlicher Behandlung.

 

In einem ärztlichen Attest vom 10.9.74 des Hausarztes Dr. med. R. (Meittingen) ist es zu entnehmen, dass „seit dieser Zeit (Dezember 72) eine Bronchitis mit Atemnot bestehe, welche nie ganz zur Ausheilung komme. Darüber hinaus ist es zu einer Lungenblähung gekommen.

Am 28.4.75 wurde eine gutachterlicher Stellungnahme des staatlichen Gewerbearztes in München erstellt, worin die Anerkennung einer Berufskrankheit abgelehnt wurde. Weitere ärztliche Berichte über Anamnese, Befunde oder Untersuchungsergebnisse liegen nicht vor.

 

Zusammenfassung und Beurteilung:

 

Wie aus den obigen Feststellungen zu ersehen ist, war Herr B. über 30 Jahr lang Raucher, wodurch eine bronchiale Erkrankung sicherlich verursacht worden könnte. Weder subjektive Angaben des Patienten, noch objektive Befunde sprechen jedoch für das Vorhandensein einer nennenswerten Vorschädigung. Lediglich im Jahre 1971 und 1972 erfolgte jeweils für wenige Tage eine Krankschreibung wegen akuter Infekte (Grippe bzw. Bronchialentzündung). Bei sonst vollem Einsatz und bei voller Arbeitskraft bei einem übersehbaren Zeitraum von 12 Jahren. Im Zusammenhang mit dem Unfall liegt uns aus den geschilderten Umständen nur der ärztliche Durchgangsbericht vor. Dabei konnte bei der Untersuchung der Lunge kein pathologischer Befund erhoben werden.

Somit muss betont werden, dass bis zum Zeitpunkt des Unfalles keinerlei gravierende Erkrankung des Respirationstraktes vorgelegen hat.

Vom Unfall (18.12.72) bis zum 10.9.74 war Herr B. dauernd in Behandlung bei Dr. R. wegen der Bronchitis, der Lungenüberblähung und einer Herzinsuffizienz.

Subjektiv klagte der Patient seither über Einschränkung seiner Leistungsfähigkeit, über Atembeschwerden und Luftnot.

 

Die Folgen einer Inhalation dieses toxischen Gases sind zunächst deutliche pulmonale Beschwerden; als Ausdruck der Reizwirkung auf die Schleimhäute kommt es zu Husten, Schnupfen, Augentränen, bei längerer Einwirkung entsteht eine starke Sekretion in den Atemwegen, die bei höheren Konzentrationen blutig werden kann und zur Lungenentzündung führt. Sehr starke Konzentrationen bewirken Atemnot, Zyanose, Bluthusten und Erstickung.

 

Eine akute Chlorgasvergiftung kann Spätfolgen hinterlassen, so ist bekannt, dass nach einmaliger intensiver Einwirkung von Chlor als Kampfstoff im 1. Weltkrieg eine chronische Bronchitis und eine Lungenüberblähung als Nachkrankheit festgestellt und auch entschädigt worden sind.

 

Zum jetzigen Zeitpunkt besteht aufgrund der eingehenden Lungenfunktionsprüfung vom 31.7.1975 eine schwere manifeste Bronchitis mit Lungenemphysem und eine stark reduzierte Leistungsfähigkeit im Belastungsversuch. Dabei handelt es sich um einen Folgezustand einer Bronchialerkrankung, die erwiesener Maßen mit der Chlorgasintoxikation begonnen hat. Insgesamt ist es sehr schwer bzw. unmöglich, nach 3 Jahren retrospektiv die genaue Entwicklung zu beurteilen, da weder nach der akuten Intoxikation noch im weiteren Verlauf der Erkrankung eingehende pulmonologische Untersuchungen erfolgt sind. für die Entwicklung der schweren Emphysembronchitis im kurzen Zeitraum von 2 Jahren muss eine schwere toxische Schädigung des Bronchialsystems angenommen werden, wie sie als Folge einer Chlorgasvergiftung auftreten kann.

 

Aus demselben Grund jedoch kann eine bronchiale Vorschädigung durch langjährigen Nikotinabusus trotz fehlender manifester klinischer Symptomatologie nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden. Auch in diesem Falle jedoch muss die Chlorgasintoxikation für den foudroyanten Verlauf verantwortlich gemacht werden.

 

Zusammenfassung und Beurteilung:

 

Zu den folgenden Fragen wird Stellung genommen:

 

  1. Der jetzige Krankheitszustand des Patienten muss in ursächlichem Zusammenhang mit dem seinerzeitigen Unfallgeschehen gesehen werden, da erst seit dem Zeitpunkt des Unfalles eine schwere Bronchitis mit Lungenüberblähung besteht mit entsprechender Einschränkung der Leistungsfähigkeit.
  2. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit besteht seit der Untersuchung vom 31.7.75 zu 100%.

Nebenbefundlich zeigen sich noch eine prädiabetische Stoffwechsellage und eine Hyperlipoproteinämie, die aber mit dem Unfall und der bestehenden Vorerkrankung nicht im ursächlichen Zusammenhang zu bringen sind.

 

Gez.: Dr. med. M. v. C., Dr. med. W.

II. Medizinische Klinik r. d. Isar der Technischen Universität München