Quecksilber aus mütterlichem Amalgam in Babyleichen_ Dissertation

 

„Die Auswirkungen chronischer prä- und postnataler Quecksilberbelastung auf die Stärke der reaktiven Astrogliose in der Medulla Oblongata innerhalb der ersten 24 Lebensmonaten des Menschen - eine Untersuchung an 76 Leichen -„

 

Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde des Fachbereiches Humanmedizin der Freien Universität Berlin.

Christian  Thomas Keim, 25.08.00

 

1.3 Astrozyten, GFAP und reaktive Astrogliose

 

Das menschliche Gehirn beinhaltet an zellulären Elementen zum einen die Neuronen, zum anderen die nicht-neuronalen Strukturen, welche zusammenfassend als

Neuroglia bezeichnet werden. Prinzipiell können alle diese Zelltypen von Quecksilber geschädigt werden, wobei sich entsprechend den Funktionen der

Zellgruppen eine unterschiedlich frühe Reaktion auf niedrig dosierte Quecksilberbelastungen ergeben. So zeigen die Astrozyten eine sogenannte reaktive Gliose

schon auf Quecksilberdosen, welche noch keinerlei strukturelle Veränderungen der Neuronen hervorrufen (Brock und O`Callaghan 1987, O`Calaghan 1988, 1991).

Diese Reaktion wird allgemein als Marker für frühe, subklinische Schädigungen durch unterschiedliche Stoffe anerkannt. Aus diesem Grund wird in der Folge v.a.

auf die Zellgruppe der Astrozyten eingegangen, während die übrige Neuroglia sowie die Neurone nicht zu speziellen Fragestellungen Erwähnung finden werden.

 

1.3.1 Die Astroglia

 

Die Astrozyten sind Bestandteil der Neuroglia. Letztere wurde zunächst anhand der Morphologie bzw. Größe der gefundenen Zellstrukturen unterteilt in die sog.

Mikoglia, welche mesodermalen Ursprungs ist und in die neuroektodermale Makroglia. Zur Makroglia gehören neben den Astrozyten die Oligodentrozyten und die

Ependymzellen.

 

1.3.1.1 Klassifikation der Astrozyten

 

1913 prägte Ramon y Cajal eine auf morphologischen Gesichtspunkten gegründete Einteilung der Astrozyten in „fibrilläre“ und „protoplasmatische“ Astrozyten. Die

protoplasmatischen Astrozyten findet man vorwiegend in der grauen Substanz während der fibröse Typ in der weißen Substanz dominiert (Duchen 1992). Neben ihrer unterschiedlichen Lokalisation unterscheiden sich die beiden Typen auch durch biochemische bzw. strukturelle Unterschiede. So produzieren fibröse Astrozyten größere Mengen an GFAP und GFAP-mRNA (Lewis und Cowan 1985).

Ein neueres Klassifikationssystem versucht die Einteilung der Astrozyten nach dem Expressionsmuster von Oberflächenantigenen kombiniert mit typischen morphologischen Kriterien. So bestimmten Raff et al. (1983) aus Kulturen des Nervus opticus der Ratte in vitro zwei verschiedene Astrozytengruppen, die sie nach den beschriebenen Kriterien Astrozyten Typ I und Ii nannten. Außerdem unterschieden sie nach dem gleichen Schema Vorläuferzellen, sog. „progenitor cells“ sowie die Oligodentrozyten von den beiden Formen reifer Astrozyten. Die Korrelation dieses Klassifikationssystems mit dem von Ramon y Cajal begründeten bleibt unsicher, zumal die Bedeutung der von Raff in vitro gefundenen Ergebnisse für die in-vivo-Situation offen ist.

Auch berücksichtigen die bisherigen Klassifikationssyteme noch nicht die große Heterogenität der Astrozyten in Bezug auf deren Enzymsysteme, Antigenmarker, Transport- und Ionenkanäle sowie Rezeptoren, deren Erforschung noch im Fluss ist. Vermutlich gibt es genauso viele Astrozytentypen wie Nervenzellen - zumindest bezüglich ihrer unterschiedlichen funktionellen Ausstattung (Norenberg, 1994). Inwieweit es sich dabei um aufgaben- und kontextbedingte Variationen eines Zelltypes oder um in der Ausdifferenzierung wirklich unterschiedliche Zelltypen handelt, bleibt vorerst offen.

 

1.3.1.2 Reifung

 

Die Astrozyten entwickeln sich aus drei unterschiedlichen Vorläuferzellen, wobei sie mehrere Zwischenstufen durchlaufen (Schmechel und Rakic 1979). Fedoroff (1986) beschreibt als Vorläuferzellen zunächst „marginal contact cells“, welche sich in der Marginalzone des Cortex befinden. Weitere, von der Form her polymorphe Zellen wurden von Raff et al. (1983) „progenitor cells“ genannt. Aus ihnen entwickeln sich Astrozyten und Oligodentrozyten. Auch die radiäre Glia, welche ihre Zellkerne in der Nähe der Ventrikel hat und deren Zellfortsätze sich bis zur pialen Oberfläche ausspannen, wird als Vorstufe von reifen Astrozyten angesehen (Bignami und Dahl 1974, Choi et al. 1986, Fedoroff 1986, Reichenbach et al. 1987). Sie soll als Leitschiene für die postmitotischen Neurone dienen, wenn diese von den proliferativen Zentren zu ihren Bestimmungsorten im Cortex wandern. Postnatal ist die radiäre Glia mit Ausnahme der Bergmannglia des Kleinhirnes nicht mehr nachweisbar (Lewitt und Rakic 1980).

Roessmann und Gambetti (1986) fanden in postmortalen Sektionen fetaler und reifer neonataler Gehirne die ersten reifen protoplasmatischen Astrozyten zwischen der 15. Woche im Hirnstamm und der 30. Woche im Cortex. Im weiteren Verlauf der Reifung intrauterin nahmen die reifen Astrozyten in allen Hirnregionen kontinuierlich zu. Eine besondere Dichte mit einer intensiven Reaktion auf GFAP-Antiserum fanden sie im Bereich der Marginalzone des Cortex sowie im Tectum des Mesencephalon und in der Raphe der Basis von Pons und Medulla oblongata.

 

1.3.1.3 Funktion der Astrozyten

 

Astrozyten nehmen etwa 50% des Cortexvolumens ein. Ihr Verhältnis zu Neuronen beträgt ungefähr 10:1 (Pope 1978). Dachte man früher, Astrozyten würden in erster Linie passive Stützfunktionen ausführen, so weiß man heute, dass sie aktiv an vielen physiologischen - aber auch pathophysiologischen Prozessen beteiligt sind. Im Folgenden sind daher einige ihrer bis heute bekannten Funktionen aufgeführt.

 

1.3.1.3.1 Signalübertragung, Rezeptoren und Ionenkanäle

 

B. Barres et al. fanden sowohl bei in-vitro-Kulturen als auch bei in-vivo-Präparationen des N. opticus der Ratte spannungs- und ligandengesteuerte Ionenkanäle, welche sich z.T. bezüglich Aufbau und Funktion von denen der Neurone unterscheiden (Barres et al. 1988, Barres 1990). Ferner besitzen Astrozyten Rezeptoren für die meisten bekannten Neurotransmitter und Neuropeptide wie u.a. Dopamin, Acetylcholin, Serotonin, Adrenalin, Noradrenalin und AMPA (Murphy und Pearce 1988, Müller et al. 1992, Aschner 1996). Auch konnten etliche Neurotransmitter in Astrozyten nachgewiesen werden wie z.B. Glutamat und Aspartat (Zhang et al. 1990).

Allerdings bleibt unklar, ob die Transmitter auch von den Astrozyten selbst synthetisiert werden oder ob sie v.a. aus dem Extrazellulärraum aufgenommen wurden. In-vitro-Studien geben Hinweise für die Aufnahme von Glutamat, Glycin, Taurin, Serotonin und GABA durch natriumabhängige sowie spannungsabhängige Transportmechanismen in die Astrozyten. Allerdings steht die in-vivo-Bestätigung für die Aufnahme von Neurotransmittern noch aus (Kimelberg und Aschner 1994, Aschner 1996). Auch fehlt bisher der in-vivo-Nachweis einer aktiven Sekretion von Neurotransmittern (Barres 1991). Dennoch werden diese Funde als Hinweise für eine Signalübertragung von Neuronen zu Gliazellen - und möglicherweise umgekehrt - mittels Neurotransmittern angesehen.

 

1.3.1.3.2 Regulation der extrazellulären Kaliumionen-Konzentration

 

Die Konstanthaltung der extrazellulären K+-Konzentration ist für die elektrische Aktivität der Nervenzellen wichtig. Astrozyten puffern die Kaliumkonzentration über eine Aufnahme und lokale Ansammlung von Kalium und, in geringerem Maße, über eine räumliche Verteilung des Kaliums (Barres et al. 1990, Aschner 1996). Möglicherweise wird diese Pufferfunktion unter anderem durch eine neuronale Signalübertragung getriggert, welche nicht alleine einer Erhöhung der extrazellulären K+-Konzentration entspricht (Barres 1991). Wird die extrazelluläre K+-Ionenkonzentration zu hoch, so reagieren auch die Astrozyten mit Zeichen einer Zellschädigung, messbar an einem Anstieg des sauren Gliafaserproteines/GFAP (Herrera und Cuello 1992).

 

1.3.1.3.3 Beteiligung an der Bluthirnschranke / Regulation der Mikrozirkulation

 

Astrozyten beteiligen sich an der Aufrechterhaltung der Blut-Hirn-Schranke (Stewart und Coomber 1986). Dabei treten perivaskuläre Astrozyten mit ihren Endfüßchen in Kontakt mit der Basalmembran der Endothelzellen (Goldstein 1988). Die Astrozytenendfüße induzieren dabei die Bildung der Blut-Hirn-Schranke durch die Endothelzellen (Janzer und Raff 1987). Clark und Mobbs (zitiert nach Barres 1991) führen weiterhin die These auf, dass Astrozyten an der Regulation der lokalen Mikrozirkulation in Gebieten starker neuronaler Aktivität beteiligt sind, wobei letztlich der genaue Mechanismus noch unbekannt bleibt, es sich aber möglicherweise um eine mediatorvermittelte Interaktion zwischen Neuron, Astrozyt und Endothelzelle handelt.

 

1.3.1.3.4 Aufrechterhaltung und Beeinflussung der synaptischen Funktion

 

In der Regel werden alle Synapsen im ZNS von Gliazellfortsätzen umschlossen (Peters et al. 1976). Man nimmt an, dass diese Zellfortsätze eine elektrische Isolierung von benachbarten Synapsen bewirken (Peters et al. 1976). Außerdem sollen sie bei der Beendigung der Neurotransmitterwirkung mitwirken, indem sie die Transmitter aus dem synaptischen Spalt aufnehmen. Durch die Regulation des Ca+-Gehaltes im synaptischen Spalt mittels Aufnahme in die Zelle könnte weiterhin eine Modulation der Transmitterfreisetzung erfolgen (Barres 1991). Ferner wird ein vielfacher Einfluss der Astrozyten u.a. auf die Glutamatkonzentration im synaptischen Spalt diskutiert, zum einen durch spannungsabhängige Aufnahme von Glutamat in die Astrozyten (Schwartz und Tachibana 1990), aber auch durch Regulation der Freisetzung von Glutamat durch Veränderung der Kaliumionen-Konzentration im synaptischen Spalt mittels Sekretion von Kalium (Szatkowski et al. 1990). Möglicherweise sind Astrozyten auch an der Entstehung der Langzeitpotenzierung beteiligt, indem sie Arachnoidonsäure freisetzen, die u.a. zu einer Verstärkung der synaptischen Übertragung im Hippocampus führt (Williams et al. 1989).

 

1.3.1.3.5 Energiestoffwechsel und immunologische Fähigkeiten

 

Astrozyten sind in der Lage, Glykogen zu synthetisieren, zu speichern und abzubauen. Somit dienen sie als Energiereservoir des Gehirns (Belin und Hardin 1991). Des Weiteren sind Astrozyten an immunologischen Reaktionen und Entzündungsprozessen beteiligt, indem sie Entzündungsmediatoren produzieren wie z.B. Gamma-Interferon (Schmidt et al. 1990) oder die steroidinduzierten Lipocortine (Johnson et al. 1989). Mittels ihrer phagozytischen Eigenschaften helfen sie bei Aufräumprozessen, u.a. bei der Beseitigung von degenerativen Nervenentzündungen, mit (Nolan und Brown 1989). Unterstützung von Wachstum, Differenzierung und regenerativen Prozessen im ZNS: Astrozyten dienen zum einen als Leitschiene für die Neurone während der Migration und Ausreifung in der Zeit der ZNS-Entwicklung (Rakic 1981). Während dieser Phase sezernieren die Astrozyten auch größere Mengen an Nervenwachstumsfaktoren (NGF) und stimulieren somit das Wachstum der Neurone (Hatten und Mason 1986). Allerdings sezernieren auch reife Astrozyten NGF, z.B. im Rahmen von Nervenregenerationsprozessen (Gage et al. 1990).

 

1.3.1.3.6 Regulation der Homöostase

 

Astrozyten halten mittels ihrer metabolischen Fähigkeiten die Homöostase im interstitiellen Flüssigkeitskompartiment aufrecht. So sind sie in der Lage, u.a. Ammoniak, Glutamat, freie Radikale, Co2 und Schwermetalle aufzunehmen, zu verarbeiten und zu speichern (Übersicht siehe Norenberg et al. 1988).

Zusammenfassend haben Astrozyten nicht nur eine Stütz-, Speicher-, Schutz- und Ernährungsfunktion für die Neurone, sondern sie stellen durch ihre regulatorischen Fähigkeiten überhaupt erst das Milieu her, welches für die elektrische Funktion der Nervenzellen notwendig ist. Darüber hinaus greifen sie auch aktiv in unspezifischer Weise in die Signalübertragung ein, indem sie z.B. die Fähigkeit der Synapsen zur Transmitterfreisetzung erhöhen bzw. bremsen können.

 

1.3.2 Zytoskelett, Intermediärfilamente, GFAP

 

Das Zytoskelett der Astrozyten wird v.a. von drei, in ihrer Klassifizierung morphologisch definierten Filamentgruppen gebildet: den Mikrofilamenten, den Mikrotubuli sowie den Intermediärfilamenten. Die Hauptbestandteile der Intermediärfilamente sind Vimentin und GFAP. Sie beteiligen sich an der Aufrechterhaltung des Zytoskeletts (Eng und Lee 1994). Während Vimentin v.a. in unreifen Gliazellen zu finden ist und im reifen Gehirn nur in wenigen Astrozyten der weißen Substanz nachzuweisen ist (Hutchins und Casagrande 1989), ist GFAP einerseits schon in Gliazellvorstufen des Neuralrohres zu finden (Lewitt et al. 1981), andererseits aber auch bei reifen Gliazellen in der Regel nachweisbar (Eng und Lee 1994).

 

1.3.2.1 GFAP

 

Das Saure Gliafaserprotein (GFAP) wurde erstmals von Eng und Mitarbeitern (1971) in Multiple-Sklerose-Plaques entdeckt. Lange Zeit wurde es als spezifischer Marker für Astrozyten angesehen (Bignami und Dahl 1974). Roessmann et al. (1980) fanden jedoch auch bei unreifen sowie reaktiven Ependymzellen und unreifen Tanycyten eine Reaktivität auf GFAP. Es besteht aus einem wasserlöslichen und einem wasserunlöslichen Anteil (Malloch et al. 1987), ist als Gesamtmolekül jedoch nur gering wasserlöslich. Das Molekulargewicht von GFAP liegt zwischen 48.000 und 51.000 Da. Es neigt zu Aggregation und Polymerisation und bildet Faserbündel im zellkernnahen Zytoplasma und in den zytoplasmatischen Fortsätzen. Es ist empfindlich gegenüber neuralen Proteasen, ist nicht speziesspezifisch, zeigt aber eine speziesspezifische, hochkonservierte Aminosäurensequenz (Übersichten zu biochemischen Eigenschaften, Strukturen und Funktion von GFAP bei Eng 1985, Eng und Shiruba 1988, Eng und Lee 1994).

Im reifen, gesunden ZNS können immunhistochemisch folgende Lokalisationen von GFAP-positiven Zellen nachgewiesen werden: Eine GFAP-Immunoreaktivität zeigen die fibrillären Astrozyten der weißen Substanz, die protoplasmatischen Astrozyten der grauen Substanz, die Bergmannglia des Kleinhirnes sowie die subependymalen Astrozyten. Eine besonders starke GFAP-Reaktion zeigen die Astrozyten der Hirnoberfläche, welche die Glia limitans bilden (Eng und Lee 1994, Mc Lendon und Bigner 1994). Die Immunoreaktivität der fibrillären erscheint stärker als die der protoplasmatischen Astrozyten, was mit einem höheren GFAP-Gehalt der fibrillären Astrozyten korreliert (Graeber und Kreutzberg 1986, Roessmann und Gambetti 1986).

Ebenfalls korrelierend mit ihrer starken GFAP-Immunoreaktivität zeigen bei Untersuchungen am Gehirn der Maus die Astrozyten der Glia limitans den höchsten GFAP-mRNA-Gehalt, welcher in den Astrozyten der weißen Substanz abnimmt und in den protoplasmatischen Astrozyten am geringsten ist (Lewis und Cowan 1985).

 

1.3.2.2 Die reaktive Astrogliose

 

Auf die unterschiedlichsten schädigenden Reize reagiert das ZNS mit einer Astrogliose. Sie wird charakterisiert durch das Erscheinen einer großen Zahl von sog. reaktiven Astrozyten, welche sich von normalen Astrozyten unterscheiden durch eine Größenzunahme im Sinne einer Hypertrophie des Zytoplasmas sowie die Ausbildung von langen und dicken Zellfortsätzen. Die Kerne sind oft vergrößert, sind untypisch geformt, enthalten mehr Chromatin und viele kleine Nucleoli (Norton et al. 1992, Norenberg 1994). Bei ultrastrukturellen Untersuchungen fallen besonders die dichtgepackten Bündel von Intermediärfilamenten ins Auge, welche GFAP und Vimentin enthalten (Nathaniel und Nathaniel 1981) und das gesamte Cytoplasma auszufüllen erscheinen. Dementsprechend synthetisieren die reaktiven Astrozyten vermehrt GFAP, welches für sich sowohl im Cytoplasma als auch in den Zellfortsätzen nachweisbar ist (Eng und Ghirnikar 1994). Die vermehrte Synthese von GFAP korreliert mit einem ausgeprägterem Färbeverhalten für GFAP bei den reaktiven Astrozyten im Vergleich zu den normalen Astrozyten.

Histochemische Studien unterstützen das Konzept, dass es sich bei den reaktiven Astrozyten um metabolisch aktivierte Zellen handelt (Rubinstein et al. 1962).

Eine reaktive Gliose konnte im Tierversuch durch experimentelle Hirnschädigungen u.a. nach Traumata, Kälteläsionen, Ischämie, experimentell-allergischer Enzephalomyelitis (EAE), sowie Neurotoxine, darunter auch Quecksilber, induziert werden (Norton et al. 1992, Norenberg 1994). Interessanterweise zeigen sich die Astrozyten in ihrer Reaktion auf Quecksilber dabei als sehr sensibel - zumindest in vitro. Während es in Kulturen von Ratten-Telencephalon-Zellen erst bei Konzentrationen um 10-6 bis 10-5 M zu Wirkungen auf die Neurone im Sinne von Änderungen von Enzymaktivitäten kommt, zeigt sich eine reaktive Astrozytose schon bei Dosen von 10-9 bis 10-7 M MeHg oder HgCl2 (Monnet-Tschudi et al. 1996).

Außerdem findet man die reaktive Gliose u.a. bei AIDS-Demenz, Virusinfektionen, Prionenerkrankungen sowie neurodegenerativen Erkrankungen (Eng und Ghirnikar 1994).

 

1.3.2.2.1 Zeitliche Abfolge der reaktiven Astrogliose

 

(Ergebnisse aus nahe liegenden Gründen in der Regel tierexperimentell gewonnen): Das am besten untersuchte Modell der Astrogliose ist das Modell der Stichwundenverletzung (Review bei Norton et al. 1992). Dabei entsteht eine hämorrhagische und nekrotische Läsion mit einer Vielzahl von Entzündungszellen, welche (…..)

 

2. Fragestellungen

 

In den letzten 30 Jahren hat sich mit der zunehmenden Sensibilisierung für Umweltschadstoffe die schon seit über hundert Jahren geführte Diskussion um Nutzen und Schaden der Quecksilberanwendung zugespitzt. Eine besondere Bedeutung im öffentlichen Diskurs erhielt diese Auseinandersetzung durch die Tatsache der ubiquitären Verbreitung dieses Arbeitsstoffes, da nahezu jeder Bundesbürger im Laufe seiner Karriere als Zahnpatient durch Amalgamfüllungen, teilweise über Jahrzehnte mit diesem Stoff in Kontakt steht. Dazu kommt, dass seit den Vergiftungskatastrophen in Japan (Minamata und Niigata), sowie im Irak auch die Rolle der Bioakkumulation von organischen Quecksilberverbindungen in der Nahrungskette und ihre möglicherweise gravierenden Folgen in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt ist.

Gerade diese wissenschaftlich gut nachvollzogenen und ausgewerteten „Modelle“ der Quecksilbervergiftung in Japan und Irak haben sowohl in der Wissenschaft wie in der Laienöffentlichkeit das Wissen um die Wirkungen des speziellen Umweltschadstoffes Quecksilber geschärft. Dieses Wissen gerade um die neurotoxischen und psychopathologischen Wirkungen von Quecksilber öffnet zum einen Tür und Tor für berechtigte Sorgen vor möglichen Nebenwirkungen eines ubiquitär eingesetzten Stoffes. Zum anderen bietet dieses Wissen auch eine gefundene Projektionsfläche für eine breite Palette von hypochondrischen Ängsten.

Diese Unsicherheiten waren der Motor für intensive Forschungen in den letzten Jahren. Sie erbrachten mittlerweile einen relativ guten Wissensstand über die allgemeine Quecksilberbelastung durch Nahrung, Umwelt sowie Zahnamalgam, aber auch über die täglichen Aufnahmemengen, Aufnahmewege und Pharmakokinetik der Quecksilberverbindungen. Ebenso gut dokumentiert sind die klinischen Effekte von mittleren und größeren Mengen an Quecksilberbelastungen.

Offen bleibt jedoch gerade bei den relativ niedrigen täglichen Aufnahmemengen über längere Zeiträume die Frage, ob es sich hierbei um mit modernen Methoden nachweisbare Spuren ohne klinischen Effekt handelt - oder ob doch leichte klinische Effekte, gerade bei Risikogruppen, nachzuweisen sind. Es handelt sich also um die Frage nach sicheren unteren Grenzwerten.

Eine besondere Rolle spielen dabei Belastungen während der Schwangerschaft. Die Vergiftungskatastrophen in Japan und im Irak haben gezeigt, dass das nicht ausgereifte Gehirn etwa um den Faktor 100 empfindlicher ist für Quecksilberintoxikationen als das Gehirn des Erwachsenen.

Daher erscheint es am sinnvollsten, gerade die Effekte von Quecksilber in dieser Entwicklungsperiode zu studieren.

Die häufigste Todesursache innerhalb der ersten 12 Lebensmonate ist das Sudden Infant Death Syndrome, ein Syndrom, dessen Pathogenese noch nicht vollständig geklärt ist, bei dem aber auch intrauterine Belastungen als mögliche Mitursache diskutiert werden. Allerdings kann hier die Quecksilberbelastung der Mutter bestenfalls als ein möglicher von vielen unspezifischen Risikofaktoren bei einer kleinen Untergruppe angesehen werden. Dennoch stellen Kinder dieser Altersgruppe das ideale Modell dar für die Frage nach subklinischen Folgeeffekten von chronisch-alltäglichen Quecksilberbelastungen während der Schwangerschaft.

 

Ziel dieser Arbeit ist es daher, anhand des Modells von 76 innerhalb des ersten Lebensjahres an unterschiedlichen Erkrankungen verstorbenen Säuglingen zu überprüfen, ob sich bei ihnen ein dosisabhängiger Grenzwert für minimale Effekte auf das kindliche Gehirn nachweisen lässt - primär unabhängig von der Todesursache.

Bei einer Belastung mit unterschiedlichen Toxinen, darunter auch Quecksilber, kommt es schon vor einem nachweisbaren Zelluntergang zur reaktiven Astrogliose. Diese Reaktion wird daher allgemein als sensibler Marker für eine beginnende Schädigung des Nervensystems angesehen im Sinne der sog. „non-neuropathic-neurotoxicity“.

Anhand dieser Indikatorreaktion wurde die Frage untersucht, ob es bei den im ersten Jahr verstorbenen Kindern Hinweise für eine dosisabhängige Reaktion auf Quecksilber im Sinne der reaktiven Astrogliose gab.

Dazu wurde bei allen Fällen die Quecksilberkonzentration im Frontalhirn bestimmt. Das weiteren wurden immunhistochemisch mit GFAP-antiserum gefärbte Schnitte aus dem Hirnstamm der Kinder angefertigt und mittels des Bildanalysesystems Quantimet die flächenhafte Ausdehnung der reaktiven Astrogliose ausgewertet - falls vorhanden.

Da die Gliareaktion unspezifisch ist und somit bei etlichen Fällen eine positive Reaktion unabhängig von der Quecksilberbelastung zu erwarten war, stellten wir folgende Hypothesen zur Überprüfung auf:

 

  1. Für den Fall, dass Quecksilber in den bei den Proben gefundenen Quecksilberdosen keine Effekte auf die Gliareaktion hat, wird sich kein Zusammenhang zwischen den Quecksilberwerten und der Stärke der Gliareaktion zeigen. In allen Dosisbereichen sollten nach dem Zufallsprinzip sowohl positive wie negative Gliareaktionen zu finden sein - bedingt durch andere Faktoren, welche ebenfalls eine reaktive Astrogliose auslösen können.
  2. Für den Fall, dass sich ein hypothetischer Grenzwert - besser eine Grenzwertspanne - im untersuchten Dosisbereich befindet, so sollte sich unterhalb des Grenzwertes wieder eine Zufallsverteilung der Gliawerte zeigen, oberhalb des Grenzwertes jedoch zunehmend positive Reaktionen - es sei denn, es finden sich für die negativen Reaktionen andere Erklärungen.
  3. Da in dem untersuchten Dosisbereich nur mit subtilen, nicht jedoch den Todesvorgangs erklärenden Wirkungen des Quecksilbers zu rechnen ist, sollte das Verhalten bei den SIDS dem Verhalten der Non-SIDS entsprechen.

 

Da in der Literatur bisher kein sicherer Grenzwert angegeben werden kann, der in der vorliegenden Arbeit überprüft werden könnte, muss hier ein stufenweises Vorgehen erfolgen.

 

  1. Zunächst muss anhand der graphischen Darstellung - und später der mathematischen Berechnung - von Quecksilberwerten und Fläche an reaktiven Astrozyten versucht werden, eine Hypothese über das Vorhandensein eines Grenzwertes innerhalb der Untersuchungspopulation zu generieren.

Dabei stellt sich die Nullhypothese: anhand der graphischen Verteilung lässt sich kein Grenzwert ablesen, die Flächen der reaktiven Astrozyten sind zufallsverteilt.

Als Alternativhypothese ist zu prüfen: Die graphische Darstellung gibt einen Anhalt für einen Grenzwert, oberhalb dessen die Anzahl negativer Gliareaktionen abnimmt.

Die Auswertung der graphischen Darstellung wird unterstützt durch die stufenweise Berechnung der Anzahl negativer Gliareaktionen mit steigenden Quecksilberwerten.

Die Nullhypothese verlangt für diese Berechnung ein Gleichbleiben der relativen Häufigkeit positiver Astrogliareaktionen mit steigenden Quecksilberwerten.

Die Alternativhypothese wird unterstützt durch einen Anstieg der relativen Häufigkeit positiver Astrogliareaktionen mit steigenden Quecksilberwerten.

 

  1. In einem zweiten Schritt erfolgt dann die statistische Überprüfung, ob sich die Population oberhalb des vermuteten Grenzwertes statistisch signifikant von der Population unterhalb des Grenzwertes unterscheidet. Die statistische Überprüfung erfolgt mit dem Fisher-Yates-Test.

 

4. Ergebnisse

 

4.1 Quecksilber

 

4.1.1 Berlin

 

Bei den neun Berliner SIDS-Fällen sowie den vier Vergleichsfällen wurden jeweils Proben aus dem Hirnstamm sowie Frontalhirn entnommen und mittels Atomabsorptionsspektrometrie auf den Quecksilbergehalt hin untersucht. Fehlende Werte erklären sich nicht durch Ausschluss von Werten, sondern durch im Einzelfall fehlende Probenentnahmen.

 

GZ-Nr

Alter in

Diagnose

Hg Frontalhirn

Hg

 

Wochen

 

 

MO

B93/604

12

SIDS

1,99

1,80

B93/623

20

SIDS

2,89

7,39

B94/036

16

SIDS

1,53

0,00

B94/051

10

SIDS

2,03

3,75

B94/077

9

Otitis media

0,00

0,00

B94/157

13

SIDS

0,67

0,58

B64/217

49

Endokarditis

2,68

1,46

B94/262

50

SIDS

0,87

0,00

B94/502

37

Ertrinken

k.W.

0,90

B94/547

30

Waterhouse-F.-
Syndrom

1,03

0,00

B94/655

16

SIDS

k.W.

0,72

B94/658

14

SIDS

0,53

k.W.

B94/695

15

SIDS

0,00

0,00

 

Tabelle 3: Quecksilberwerte der Berliner Fälle.

GZ-Nr ≈ Sektionsnummer, MO ≈ Medulla oblongata

 

Bei den Berliner SIDS-Fällen fanden sich Quecksilberwerte von „nicht nachgewiesen“, kurz „n.n.“ bis maximal 7.39 ng/g im Bereich des Hirnstammes sowie von n.n. bis 2,89 ng/g Hg im Frontalhirn. Bei den vier Vergleichsfällen zeigten sich Hg-Werte von n.n. bis 1,46 ng/g Hg im Hirnstamm und n.n. bis 2,68 ng/g Hg frontal. Trotz einzelner Ausreißer zeigten sich die Werte damit in Hirnstamm und Frontalhirn in einem ähnlichen Konzentrationsbereich, ohne dass eine statistisch signifikante Tendenz zu höheren Werten in einer der beiden Regionen zu finden war.

 

Die statistischen Kennwerte Median, Arithmetisches Mittel, Varianz und Standardabweichung für die Proben aus Hirnstamm bzw. Frontalhirn aller Berliner Fälle sowie gesondert nur der Berliner SIDS sind in Tab 4 zu finden. Auf Grund der geringen Fallzahl der Vergleichsfälle wurde auf eine statistische Beschreibung dieser Untergruppe verzichtet.

 

 

Median

Arithmetischer
Mittelwert

Varianz

Standardabweichung

Berlin Alle Hg
frontal (ng/g)

1,03

1,285

0,921

0,96

Berlin Alle Hg
Medulla obl.
(ng(g)

0,65

1,38

4,44

2,11

Berlin SIDS Hg
frontal (ng/g)

1,2

1,2

0,48

0,91

Berlin SIDS Hg
Medulla obl.
(ng/g)

0,65

1,78

3,37

1,84

 

Tabelle 4

 

4.1.2 München

 

Bei den Münchner Fällen waren bei der Sektion durch die Kollegen der Münchner Rechtsmedizin nur Proben aus dem Frontalhirn für die Quecksilberbestimmung entnommen worden. Werte für den Hirnstamm fehlen somit bei dieser Gruppe.

 

GZ-Nr

Lebensalter in

Diagnose

Hg Großhirn

 

Wochen

 

 

89/1244

65

Hämorrhagische Pneumonie

4,70

89/1270

52

Schädelzertrümmerung nach Unfall

6,10

89/1472

26

SIDS

6,10

89/1500

43

SIDS

6,80

89/1523

65

Erwürgen

11,00

89/1938

43

SIDS

24,60

89/2131

0

Ersticken

4,40

89/2200

13

SIDS

6,60

90/0040

5

SIDS

7,30

90/0255

17

SIDS

2,20

90/0415

35

SIDS

8,60

90/0435

52

Kreislaufversagen bei V.a. Sepsis

8,20

90/0450

78

Ertrinken

25,80

90/0481

10

SIDS

21,30

90/0531

1

Herzbeuteltamponade bei TGA

0,60

90/0558

13

SIDS

16,60

90/0637

104

Ersticken

3,70

91/1357

43

SIDS

1,70

91/1702

30

Unfall, Schädelzertrümmerung

1,70

91/1730

30

SIDS

1,40

91/1909

35

Kreislaufversagen bei M. Down

1,00

91/1933

9

SIDS

2,30

91/2062

52

Schädelbasisbruch

2,70

91/2359

26

SIDS

1,80

91/2361

9

SIDS

2,10

91/2422

22

SIDS

1,90

91/2437

78

Kreislaufversagen bei Virusinfekt

2,30

91/2536

9

SIDS

3,60

92/0010

22

SIDS

3,20

92/0044

7

SIDS

1,50

92/0111

9

SIDS

2,00

92/0115

17

SIDS

3,80

92/0247

9

SIDS

2,80

92/0314

17

SIDS

2,80

92/0320

9

SIDS

3,70

92/0385

16

SIDS

3,60

92/0405

18

Ersticken bei Laryngitis

2,50

92/0416

9

SIDS

2,00

92/0436

78

Hirndruckerhöhung bei Allg.-Infektion

3,20

92/0482

30

SIDS

7,90

92/0489

61

Ersticken

1,60

92/0493

91

Ertrinken

10,90

92/0560

13

SIDS

15,00

92/0565

26

SIDS

2,80

92/0607

9

SIDS

5,50

92/0623

9

SIDS

3,70

92/0657

13

SIDS

2,20

92/0743

48

SIDS

8,90

92/0795

9

SIDS

5,50

92/1049

4

Herzversagen bei kong.
Herzfehler

16,50

92/1151

1

Kongenitale Herz- und Lebererkrank.

4,20

92/1184

13

SIDS

2,40

92/1243

22

SIDS

2,00

92/1424

65

Schädelhirntrauma

5,10

92/1442

65

Unfall/Überrollen

4,10

92/1509

7

SIDS

4,30

93/1820

8

SIDS

3,20

93/1878

14

SIDS

3,80

93/1964

0

Ersticken, vorher gesund

4,60

93/1988

3

SIDS

5,20

93/2027

3

SIDS

7,00

93/2219

13

SIDS

2,50

93/2242

 

SIDS

2,30

94/0018

8

SIDS

3,20

94/0107

12

SIDS

3,50

94/0147

22

SIDS

3,20

 

Tabelle 5: Quecksilberwerte der Münchner Fälle

 

Bei den Münchner SIDS fanden sich im Frontalhirn eine Spannbreite der Hg-Werte von 1,5 bis 24,6 ng/g Hg. Die Vergleichsfälle, darunter auch einige Fälle mit letztlich nicht gesicherter Diagnose, erbrachten Hg-Werte von 0,6 bis 25,8 ng/g Hg. In beiden Untergruppen zeigte sich eine linkssteile, nicht normalverteilte Anordnung der Quecksilberwerte mit einem Überwiegen von Werten zwischen nicht nachweisbar und 10 ng/g Hg.

 

Anzahl Fälle pro Quecksilbergruppe der Vergleichsfälle München, Frontalhirn

 

 

Anzahl Fälle pro Quecksilbergruppe SIDS München, Frontalhirn

 

 

In Tab 6 finden sich die statistischen Kennwerte Median, Arithmetisches Mittel, Varianz und Standardabweichung für die gesamten Münchner Fälle sowie gesondert für die Untergruppen SIDS und Vergleichsfälle

 

 

Median

Arithmetischer
Mittelwert

Varianz

Standardabweichung

München Alle
Hg frontal
(ng/g)

3,7

5,44

28,23

5,31

München
SIDS Hg
frontal (ng/g)

3,5

5,21

24,66

4,97

München
Vergleichsfälle
Hg frontal

4,2

5,95

33,79

5,81

 

Tabelle 6

 

Insgesamt lassen sich bei der großen Spannbreite und hohen Varianz bzw. Standardabweichung der Werte keine signifikanten Unterschiede zwischen den SIDS und den Vergleichsfällen in Bezug auf Höhe der Quecksilberkonzentration nachweisen.

Im Vergleich der Berliner und Münchner Fälle zeigt sich im Mann-Whitney-U-Test jedoch eine hochsignifikante Differenz (p < 0,01) mit deutlich höheren Quecksilberwerten in den Münchner Proben.

 

4.3.1 Korrelation der Quecksilberwerte mit dem Alter

 

Eine Korrelation der Quecksilberwerte mit dem Alter ließ sich in keiner der Untergruppen nachweisen.

 

4.2 Reaktive Astrogliose

 

Bei allen Fällen wurden histologische Präparate von Schnitten der Medulla oblongata auf Höhe des Nucleus dorsalis nervus Vagus und zusätzlich, da bei einigen Präparaten auf der Schnittebene des Nucleus N. IX. nicht getroffen war, von Schnitten im Bereich der Kerne der medianen Raphe von Pons bzw. Medulla oblongata untersucht. Angegeben wird jeweils die Gesamtsumme in Quadratmykrometer der GFAP-positiven Strukturen von jeweils vier Blickfeldern pro Schnitt.

 

Die Absolutwerte in µm2 für die Berliner Fälle finden sich in der Tabelle 7:

 

GZ-Nr

Lebensalter in

Diagnose

Glia Median

 

Wochen

 

 

B93/604

12

SIDS

84232

B93/623

20

SIDS

312412

B94/036

16

SIDS

197600

B94/051

10

SIDS

100400

B94/077

9

Otitis media

fehlt

B94/157

13

SIDS

18792

B64/217

49

Endokarditis

fehlt

B94/262

50

SIDS

fehlt

B94/502

37

Ertrinken

fehlt

B94/547

30

Waterhouse-F.-
Syndrom

fehlt

B94/655

16

SIDS

fehlt

B94/658

14

SIDS

fehlt

B94/695

15

SIDS

fehlt

 

Tabelle 7

 

Die Absolutwerte in µm2 für die Münchner Fälle finden sich in Tabelle 8:

 

GZ-Nr

Alter in

Diagnose

Glia

Glia MO

 

Wochen

 

mediane

 

 

 

 

Raphe

 

89/1270

52

Schädelzertrümmerung nach Unfall

111700

53913

89/1472

26

SIDS

89713

56273

89/1500

43

SIDS

52499

 

89/1523

65

Erwürgen

94926

22989

89/1938

43

SIDS

48122

 

89/2131

0

Ersticken

18255

 

89/2200

13

SIDS

149500

44786

90/0040

5

SIDS

4666

 

90/0255

17

SIDS

9335

 

90/0415

35

SIDS

206300

34508

90/0450

78

Ertrinken

633100

 

90/0481

10

SIDS

309800

 

90/0558

13

SIDS

131500

85025

90/0637

104

Ersticken

182700

 

91/1357

43

SIDS

451400

 

91/1702

30

Unfall, Schädelzertrümmerung

456400

 

91/1730

30

SIDS

45141

25117

91/1933

9

SIDS

7987

4830

91/2062

52

Schädelbasisbruch

42270

 

91/2359

26

SIDS

63403

82586

91/2361

9

SIDS

14608

 

91/2422

22

SIDS

5411

 

91/2536

9

SIDS

61847

 

92/0010

22

SIDS

36691

873

92/0044

7

SIDS

44794

9205

92/0111

9

SIDS

110300

 

92/0115

17

SIDS

53714

1217

92/0247

9

SIDS

91810

27193

92/0314

17

SIDS

164900

 

92/0320

9

SIDS

67756

 

92/0385

16

SIDS

39990

96570

92/0405

18

Ersticken bei Laryngitis

269200

122100

92/0416

9

SIDS

138400

 

92/0482

30

SIDS

9268

 

92/0489

61

Ersticken

467700

 

92/0493

91

Ertrinken

428800

 

92/0560

13

SIDS

251400

115400

92/0565

26

SIDS

176800

 

92/0607

9

SIDS

33656

 

92/0623

9

SIDS

141000

135000

92/0657

13

SIDS

53739

 

92/0743

48

SIDS

274200

310300

92/0795

9

SIDS

42816

 

92/1184

13

SIDS

622100

65760

92/1243

22

SIDS

296300

 

92/1424

65

Schädelhirntrauma

84447

 

92/1442

65

Unfall/Überrollen

279200

 

92/1509

7

SIDS

271500

 

93/1820

8

SIDS

43310

16715

93/1878

14

SIDS

98635

 

93/1964

0

Ersticken, vorher gesund

17842

11211

93/1988

3

SIDS

28354

36606

93/2027

3

SIDS

26406

 

93/2219

13

SIDS

25086

 

93/2242

 

SIDS

25952

79342

94/0018

8

SIDS

11818

 

94/0107

12

SIDS

325900

 

94/0147

22

SIDS

39001

 

 

Tabelle 8

 

4.2.1 Vergleich der Stärke der reaktiven Astrogliose in der medianen Raphe zur Höhe der Quecksilberwerte im Frontalhirn

 

4.2.1.1 Berlin

 

Da wegen der oben angesprochenen Probleme mit den unterschiedlichen Sekanten nur von fünf Berliner Fällen die Proben für die Histologie auf der richtigen Höhe entnommen worden waren, unterbleibt wegen der geringen Fallzahl der Versuch einer Korrelation von Gliareaktion und Quecksilberhöhe bei dieser Untergruppe.

 

4.2.1.2 München Gesamtgruppe

 

Untersucht man die Gesamtgruppe der Münchner Fälle auf eine für alle Werte gültige Korrelation zwischen Quecksilberhöhe und Fläche der reaktiven Astrozyten, so findet sich keine Korrelation.

Dies entspricht dem erwarteten Ergebnis. In dieser Altersgruppe ist mit einer Hintergrundprävalenz der reaktiven Astrogliose um 50% zu rechnen (Kinney et al. 1992).

Daher war nicht zu erwarten, dass eine möglicherweise beginnende Korrelation zwischen Quecksilberhöhe und Ausprägung der reaktiven Astrozytose bei Betrachtungen der Gesamtzahl der Fälle von der starken Streuung der Hintergrundprävalenz abzutrennen wäre.

Zudem ist nach den bisherigen Erfahrungen in einem etwas höheren, aber in der Größenordnung unseren Werten nahe kommenden Quecksilberdosisbereich trotz positiver Gliareaktion keine sichere Korrelation zwischen Quecksilberhöhe und Stärke der reaktiven Gliose gefunden worden (Lapham et al. 1995).

 

München (alle) 0 - 12 Monate Sterbealter

Korrelation Hg-Werte Frontalhirn / Gliareaktion Mediane Raphe

 

 

Weniger eindeutig sind die Ergebnisse bei der Frage nach einer Grenzzone. Oberhalb einer solchen Grenzzone sind eine höhere relative Anzahl positiver Astrogliareaktionen zu fordern. Im Idealfall sollten überhaupt keine negativen Astrogliareaktionen mehr nachzuweisen sein.

Da es keine Vorarbeiten bezüglich eines Grenzwertes zu einem beginnenden Effekt der Quecksilberwirkung auf das menschliche Gehirn im Sinne einer reaktiven Astrozytose gab, den wir in unserer Arbeit überprüfen konnten, mussten wir bei der Auswertung zweistufig vorgehen.

Zunächst musste im explorativen Sinne eine Verdachtshypothese eines Grenzwertes in der untersuchten Population entwickelt werden. Danach musste dieser fragliche Grenzwert statistisch überprüft werden.

Zur Hypothesengenerierung zogen wir die optische Auswertung der graphischen Darstellung des Verhältnisses  von Quecksilberhöhe und Fläche der reaktiven Astrozyten heran sowie die mathematische Berechnung der relativen Anzahl positiver Astrogliareaktionen mit steigenden Quecksilberwerten.

Hier wurde nach Anhaltspunkten für die gegensätzlichen Hypothesen gesucht, ob es sich im untersuchten Kollektiv um eine reine Zufallsverteilung der Fläche der reaktiven Astrozyten im Sinne einer unspezifischen Hintergrundprävalenz handelt, oder ob ab einem bestimmten Quecksilberwert die Tendenz zu weniger negativen Gliareaktionen zu vermuten ist.

Es wurde also nach Hinweisen für folgende Nullhypothese gesucht: Es gibt keinen Quecksilberwert, oberhalb dessen nur noch positive Gliareaktionen zu finden sind.

Die Alternativhypothese ist: es gibt einen Quecksilberwert, oberhalb dessen nur noch positive Gliareaktionen zu finden sind.

Als Kriterium für eine positive Reaktion wählten wir eine Gliareaktion mit mehr als 100.000 µm2.

 

München (alle) 0 - 24 Monate Sterbealter

Korrelation Hg-Werte Frontalhirn / Gliareaktion Mediane Raphe

 

 

Wie aus dem Diagramm zu entnehmen ist, verteilen sich die Flächen an reaktiven Astrozyten im unteren Quecksilberdosisbereich zufällig und ohne Zeichen eines Zusammenhanges zwischen Quecksilberhöhe und Stärke der Gliareaktion.

Ab eines Quecksilberwertes von ca.  8 - 9 ng/g wird der optische Eindruck erweckt, dass die Anzahl negativer Gliareaktionen abnimmt.

Diese Zone erfüllt am besten die Kriterien für einen möglichen Grenzbezirk innerhalb des untersuchten Kollektives bezüglich einer beginnenden Quecksilberwirkung auf die Astrozyten im Sinne der reaktiven Astrogliose.

Somit lässt sich aus der Graphik die Hypothese ableiten, dass sich ab einem Quecksilberwert von ca. 8 - 8,5 ng/g eine quecksilberbedingte Zunahme positiver Gliareaktionen abzeichnet.

 

Die oben erläuterte Hypothese besagt, dass ab einem Quecksilbergrenzwertbereich sukzessive die relative Anzahl der positiven Reaktionen zunehmen müsste.

Zur mathematischen Unterstützung der optischen Auswertung führten wir daher eine Berechnung des Verhältnisses von positiven Gliareaktionen (G+) zu der Gesamtzahl (n) an positiven und negativen Reaktionen mit steigenden Quecksilberwerten durch. Dabei wurde für jeden untersuchten hypothetischen Quecksilbergrenzwert zunächst die Anzahl positiver Gliareaktionen oberhalb dieses Quecksilberwertes bestimmt und dann durch die Gesamtzahl der Gliareaktionen oberhalb des jeweiligen Quecksilberwertes geteilt.

 

Ng Hg

Negative

Positive

Gesamtzahl

Verhältnis der

Frontalhirn

Gliareaktionen

Gliareaktionen

positiver und

positiven

 

(G-)

(G+)

negativer

Reaktionen zur

 

 

 

Gliareaktionen

Gesamtzahl

 

 

 

 

(G+/n)

1

35

23

58

0,4

2

30

20

50

0,4

3

23

13

36

0,36

4

13

10

23

0,43

5

11

8

19

0,42

6

7

8

15

0,53

7

5

6

11

0,55

8

2

6

8

0,75

9

2

4

6

0,67

10

2

4

6

0,67

11

2

3

5

0,6

13

1

2

3

0,67

 

Tabelle 9

 

Verhältnis positiver Astrogliareaktionen zur Gesamtzahl

der Fälle mit steigenden Quecksilberwerten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Auch in dieser Berechnung findet man einen relativen Anstieg der positiven Gliawerte im Quecksilberbereich um 7- 9 ng/g Hg, so dass man einen Grenzwert etwa bei 8 ng/g Hg vermuten könnte.

 

Allerdings zeigt sich, wie zu erwarten, kein plötzlicher Sprung von einer zufallsverteilten relativen Anzahl an positiven Gliareaktionen zu 100% positiven Reaktionen. Entsprechend der interindividuell unterschiedlichen Sensibilität auf Quecksilber ist eher von einem Grenzwertbereich mit successive sich verändernden relativen Häufigkeiten der positiven und negativen Reaktionen zu rechnen. Somit stellt sich jetzt die Frage, ob die zu beobachtende Tendenz statistisch signifikant wird, ob tatsächlich ein signifikanter Unterschied zwischen den Teilgruppen oberhalb und unterhalb des hypothetischen Grenzwertes besteht.

 

Diese Hypothese wurde mittels des Fischer-Yates-Test überprüft.

Wir entschieden uns für dieses statistische Instrument, da wegen der geringen Fallzahl im Bereich der höheren Quecksilberwerte sowie der großen Streuung der Werte eine Berechnung der Korrelation als nicht sinnvoll erschien. Es wäre hier zu erwarten gewesen, dass der beginnende Effekt einer Korrelation von Quecksilber und Gliareaktion durch die Effekte anderer Ursachen einer Gliose überlagert würde. Dagegen kann eine Ja/Nein-Unterscheidung in dem Sinne getroffen werden, dass entweder eine relevante Astrogliose pro Einzelfall nachgewiesen werden kann oder aber nicht. Die Anzahl komplett negativer Reaktionen müsste im Grenzbereich abnehmen und dann mit steigender Quecksilberkonzentration sich asymptotisch Null annähern, bzw. die Anzahl positiver Reaktionen sukzessive zunehmen.

 

Die Nullhypothese ist hierbei: die Populationen oberhalb und unterhalb des überprüften Quecksilberwertes entsprechen sich in der relativen Anzahl der positiven zu den negativen Gliareaktionen.

Die Alternativhypothese ist: Die Population oberhalb des zu untersuchenden Quecksilberwertes zeigt eine signifikant niedrigere relative Anzahl an negativen Gliareaktionen als die Population unterhalb des zu prüfenden Grenzwertes.

 

In die statistische Auswertung wurden in einer ersten Berechnung alle Münchner Fälle mit einem Sterbealter von 0 - 24 Monate aufgenommen, danach erfolgte eine getrennte Berechnung für die Altersgruppe von 0 - 12 Monate.

 

Auswertungstabelle für den Fischer-Yates-Test

Tatsächlich gefundene Werte, München, alle Fälle 0 - 24 Monate

 

 

Fläche reaktiver
Astrozyten
< 100.000 µm2

Fläche reaktiver
Astrozyten
> 100.000 µm2

Zeilensumme

Quecksilber
Frontalhirn
< 8 ng/g

33

16

49

Quecksilber
Frontalhirn
> 8 ng/g

2

7

9

Spaltensumme

35

23

58 Gesamtsumme

 

Tabelle 10

 

Aus der Berechnung der tatsächlichen Verteilung der Werte sowie aller im Sinne der Alternativhypothese extremeren möglichen Verteilungen folgt eine Wahrscheinlichkeit von P = 0,015, dass die Nullhypothese zutrifft. Somit findet sich eine statistisch signifikant niedrigere relative Anzahl von negativen Gliareaktionen in der Gruppe oberhalb des Quecksilberwertes von 8 ng/g.

Auch für die Untergruppe mit Sterbealter 0 - 12 Monate ergibt sich ein signifikantes Ergebnis im Sinne der Alternativhypothese mit p = 0,0085.

 

4.2.1.2.1 SIDS

 

Auch bei Betrachtung nur der Untergruppe der SIDS findet sich bei gleichem Vorgehen im Fischer-Yates-Test mit einer Wahrscheinlichkeit von P = 0,0149 eine signifikant niedrigere Anzahl negativer Gliareaktionen in der Gruppe mit Quecksilberwerten über 8 ng/g.

Zur Veranschaulichung siehe Abb. 16

 

München (SIDS)

Korrelation Hg Frontalhirn / Gliareaktion Mediane Raphe

 

 

 

4.2.1.2.2 Vergleichsgruppe

 

Auch in der Vergleichsgruppe entsteht der Eindruck, dass in den höheren Dosisbereichen weniger negative Gliareaktionen zu finden sind als im unteren Bereich. Wegen der geringen Fallzahl in dieser Gruppe ist diese Aussage jedoch kaum zu erhärten, und das Ergebnis ist auch rechnerisch nicht statistisch signifikant.

 

 

4.2.2 Korrelation der Stärke der Astrogliareaktion im Nucleus dorsalis nervus vagus mit der Quecksilberhöhe im Frontalhirn

 

Bei insgesamt um den Faktor 1,5 - 2 niedrigeren Werten der Flächen reaktiver Astrozyten findet man bei der Analyse der Gliareaktion im Bereich des Nucleus dorsalis nervus vagi ein ähnliches Phänomen wie bei der Gliareaktion der medianen Raphe. Sowohl in der Gesamtgruppe wie auch in den Untergruppen SIDS und Vergleichsgruppe finden sich ab einem bestimmten Quecksilberwert - hier allerdings 5 ng/g - eine Tendenz zu weniger negativen Gliareaktionen.

Aufgrund der relativ kleinen Fallzahl verzichteten wir hier jedoch auf das oben beschriebene statistische Vorgehen.

 

München (alle)

Korrelation Hg-Werte Frontalhirn / Gliareaktion Nucleus motorius nervus X

 

 

München (SIDS)

Korrelation Hg-Werte Frontalhirn / Gliareaktion Nucleus motorius nervus X

 

 

4.2.3 Korrelation zwischen dem Alter der Fälle und der Stärke der Astrogliareaktion

 

Eine Korrelation der Gliareaktion mit steigendem Alter innerhalb des ersten Lebensjahres konnte in keiner der drei Gruppen nachgewiesen werden.

 

München (alle)

Korrelation Alter / Gliareaktion Mediane Raphe

 

 

Allerdings zeigt sich eine Tendenz, dass ab einem Alter von etwa 70 Wochen keine negativen Gliareaktionen mehr zu finden sind.

 

4.2.4 Allgemeine Verteilung

 

Im Überblick findet man, entsprechend den Angaben in der Literatur (Levis und Cowan 1985), immer eine relativ deutlich vermehrte Fläche mit GFAP-positiven Astrozyten an der Grenze zum Liquorraum sowie subependymar im Bereich der Glia limitans. Die Weiße Substanz zeigt in der Regel eine stärkere Reaktion als die Graue Substanz. Die Mittellinie weist sowohl vom Ependym her als auch in der Raphe eine deutliche positive Farbreaktion aus.

 

4.2.5 Verhältnis Stärke der Astrogliosereaktion Mediane Raphe / Nucleus motorius n. X

 

In der Medulla oblongata findet man überwiegend eine ausgeprägtere Gliareaktion in der medianen Raphe als im Nucleus dorsalis n. X.

Das Verhältnis der in unserer Arbeit gefundenen Relationen der Fläche der reaktiven Astrozyten von Medianer Raphe und Nucleus dorsalis n C wird in Abb. 21 gezeigt. Dargestellt wird das Verhältnis für alle Einzelfälle, bei denen sowohl histologische Schnitte von der medianen Raphe als auch vom Nucleus dorsalis n. X vorhanden waren.

 

Vergleich der Stärke der reaktiven Astrogliose zwischen der medianen Raphe und dem Nucleus mot. nervus X München

 

 

5. Diskussion

 

5.1 Quecksilber

 

5.1.1 Berlin

 

Entgegen unserer vorherigen Annahme fanden wir bei den Berliner Fällen, sowohl bei SIDS wie bei den Kontrollgruppen, eine signifikant niedrigere Quecksilberkonzentration im Frontalhirn als bei den Münchner Fällen. Zwar befinden sich in beiden Populationen die meisten der Werte unter 10 ng/g Hg, aber die bei den Münchner Fällen auch zu findenden höheren Werte konnten bei den Berliner Proben nicht festgestellt werden.

Angaben in der Literatur zu den Vergleichswerten in dieser Altersgruppe existieren kaum. Die größte Arbeit stammt von Drasch (1994) selbst, wobei sich die Fälle teilweise mit denen unserer Arbeit überschneiden. Die Arbeiten von Suzuki et al. (1984) und Lapham et al. (1995) zeigen eine Größenordnung, welche die Durchschnittswerte von Drasch stützen. Die größere dieser Arbeiten (Lapham et al. 1995) umfasst allerdings nur 12 Fälle aus einer Vergleichspopulation aus Rochester (England), welche als Kontrollfälle für Kinder aus der Fischesserpopulation in der Seychellen-Studie genutzt wurden. Die Kinder der Fischesserpopulation selbst hatten deutlich höhere Quecksilberwerte zwischen 50 und 250 ng/g.

 

Eine Analyse der Werte über 10 ng/g aus der Münchner Gruppe ergab keine Erklärung für die hohen Quecksilberwerte bezüglich der Vorgeschichte bzw. der Grunderkrankung. Es fanden sich dabei sowohl SIDS wie Kontrollfälle. Auch eine Altersabhängigkeit konnte nicht nachgewiesen werden.

 

Auch die These, dass möglicherweise im Münchner bzw. im bayrischen Raum eine höhere allgemeine Quecksilberbelastung zu finden sei, kann durch die Ergebnisse des Umweltsurveys aus dem Jahre 1989 (Krause et al. 1989) nicht gestützt werden. Zwar wurden damals Quecksilberwerte bei Erwachsenen nur im Blut und Urin bestimmt, aber die Aussagen mit nahezu identischen, eher in Berlin etwas höheren statistischen Kennwerten ohne besonders hohe Ausreißer, sprechen deutlich gegen eine höhere allgemeine Quecksilberbelastung bei bayrischen Proben.

 

Eine genaue Fehlersuche bezüglich der Berliner Fälle ergab zwar eine relativ gute Korrelation der unterschiedlichen Quecksilberhöhen an den unterschiedlichen Proben jeweils eines Falles (Frontalhirn, Hirnstamm, sowie hier nicht veröffentlichte Muskelproben), allerdings fiel auf, dass bei zwei Proben (B94/547 und B94/262) mit eindeutiger Quecksilberbelastung im Frontalhirn negative Werte im Hirnstamm zu finden waren. Dies ist ein Effekt, der sonst nicht nachzuweisen war und der von der Literatur her auch nicht zu erwarten wäre.

 

Dies könnte ein Hinweis auf einen Quecksilberverlust bei einzelnen Proben im Laufe der Transportkette von der Rechtsmedizin in Berlin zum neuropathologischen Institut in Berlin bis zur Probenaufbereitung in München sein. Zwar war der prinzipielle Arbeitsvorgang bei Münchner und Berliner Proben ähnlich, es wurden die gleichen Gefäße benutzt, und die Proben wurden tiefgefroren gelagert. Allerdings gibt es eine unterschiedlich große Zeitspanne von der individuellen Probeentnahme bis zum letztendlichen Tiefkühlen in den Fällen, in denen nicht wir, sondern Sekanten der Rechtsmedizin die Proben entnommen hatten. Dies bedeutet, dass einzelne Proben für die Zeit von bis zu einigen Stunden zwar kühl gelagert, nicht jedoch tiefgefroren waren.

 

Eine zweite Besonderheit besteht im Transport der Proben von Berlin nach München. Dieser erfolgte mit der Bahn, wobei die Proben mit Trockeneis gekühlt wurden. Möglicherweise erklären diese Unterschiede in der Lagerung den teilweisen Verlust von Quecksilber aus den Proben und somit die tendenziell niedrigeren Werte.

 

Allerdings lässt sich letztlich die Alternativhypothese nicht sicher ausschließen, dass es bei den Münchner Proben mit höheren Quecksilberwerten noch Belastungsfaktoren gibt, welche damals in der Anamnese nicht festgehalten worden waren und welche die höheren Werte erklären könnten.

 

Bei also eingeschränkter Aussagefähigkeit der Berliner Werte zeigten sich sowohl in den Berliner als auch bei den Münchner Fällen sowohl bezüglich Median und Mittelwert als auch bezüglich der Spannbreite der Werte im Mittel niedrigere Quecksilberwerte im Kortex als bei Erwachsenen. So zeigten Erwachsene ohne Amalgamfüllungen mittlere Quecksilberwerte zwischen 6,7 und 10,97 ng/g Hg (Eggleston 1987, Drasch 1992), während wir mittlere Quecksilberwerte um 5 bis 6 ng/g Quecksilber im Frontalhirn der Säuglinge fanden.

 

Allerdings waren bei fast allen Proben die Quecksilberwerte über der Nachweisgrenze.

 

5.2.1 Vergleich der Quecksilberwerte in Hirnstamm und Frontalhirn

 

Lapham et al. (1995) untersuchten bisher als einzige Quecksilberwerte sowohl im Hirnstamm als auch im Kortex bei Kindern, welche innerhalb der ersten Lebensmonate gestorben waren. Die Fälle entstammten der Seychellenstudie und umfassten 32 Kinder einer Fischesserpopulation und 12 Kontrollen aus einem ländlichen Gebiet in England. Sie fanden eine stabile individuelle Korrelation der Quecksilberwerte von Kortex und Hirnstamm, wobei die Werte im Hirnstamm etwa um 40% höher waren als im Frontalhirn.

 

Auch Drasch et al. (1992) fanden, allerdings bei Erwachsenen, Quecksilberwerte in der gleichen Größenordnung im Frontalhirn und Hirnstamm, allerdings konnten sie bei den Erwachsenen keine höheren Werte im Hirnstamm nachweisen.

 

Bei unserer Untersuchung wurde nur bei den Berliner Fällen sowohl im Hirnstamm als auch im Frontalhirn eine Quecksilberbestimmung vorgenommen. Bei der oben beschriebenen eingeschränkten Aussagekraft der Berliner Werte fanden wir der Literatur entsprechende Quecksilberwerte, allerdings in der gleichen Größenordnung frontal und im Hirnstamm.

 

Allerdings zeigten sich bei den einzelnen Fällen Differenzen zwischen Frontalhirn und Hirnstamm von im Schnitt 1 - 2 ng/g. Diese intraindividuellen Differenzen müssen prinzipiell bei der folgenden Diskussion um die Frage einer Korrelation von Quecksilberhöhe und Gliareaktion berücksichtigt werden. Da aber bei den Münchner Proben, welche den Hauptteil der Auswertung ausmachen, deutlich größere Spannbreiten der Quecksilberwerte, i.e. von 1 - 24 ng/g zu verzeichnen sind, können die individuellen Unterschiede zwischen Frontalhirn und Hirnstamm um 1 - 2 ng/g vernachlässigt werden. Dies bedeutet, dass die frontal gemessenen Quecksilberwerte trotz der intraindividuellen Schwankungen als ausreichend repräsentativ für die Werte im Hirnstamm anzusehen sind.

 

5.1.3 Einordnung der eigenen Ergebnisse in den aktuellen Stand der Forschung

 

5.1.3.1 Methyl-Quecksilber

 

Die bisher gültigen Korrelationen zwischen Methyl-Quecksilberbelastung und Effekten bei intrauterin belasteten Feten stammen letztlich alle aus den statistischen Auswertungen der Vergiftungsperiode im Irak (Marsh et al. 1981, 1987, WHO 1990,Gilbert und Grant-Webster 1995), siehe auch Kapitel 1.1.7.1 und 1.1.8. Während allerdings die Effekte der höheren Belastungsgruppen mit deutlichen neurologischen Auffälligkeiten der Kinder und Methylquecksilberwerten von über 165 µg/g Haarquecksilber der Mütter gut gesichert sind, bleiben wegen der damals geringen Fallzahlen im Niedrigdosisbereich Unsicherheiten, welcher Quecksilberdosisbereich noch als sicher anzusehen ist oder von welchem Bereich an erste Quecksilbereffekte auftreten.

 

In der Auswertung der Daten von Erwachsenen Opfern der Vergiftungsperioden aus Minamata und aus dem Irak folgte die WHO (1976) zunächst einem parametischen statistischen Modell von Bakir et a. (1973), mit welchem für jedes einzelne Symptom der Quecksilberintoxikation eine Dosis-Antwort-Kurve sowie ein „praktischer Grenzwert“ berechnet wurde. Es handelt sich dabei um das sogenannte „Hockeyschlägermodell“, bei dem die waagerechte, der x-Achse parallele Linie die Hintergrundprävalenz eines unspezifischen Symptomes angibt, und die aufsteigende Linie die logarithmische Korrelation der Auftretenswahrscheinlichkeit des Symptomes in Bezug auf die Quecksilberkonzentration angibt. Der Eckpunkt bzw. Treffpunkt zwischen waagerechter und aufsteigender Linie wird dann als „praktischer Grenzwert“ - im Sinne von praktisch detektabel - definiert.

 

 

Ocr0001_H0.jpg

 

Abbildung 24:

Darstellung des Logit- und des „Hockeyschläger“-Modells über das Dosis-Antwort-Verhältnis zwischen verspätetem Laufen und der maximalen mütterlichen Methylquecksilberkonzentration im Haar während der Schwangerschaft. Die beiden Dosis-Antwortkurven sind mit soliden Kurven dargestellt, die gestrichelte Fläche repräsentiert die 95%-Konfidenzintervalle.

 

Dieses Modell beinhaltet, dass bei steigender Hintergrundprävalenz, also bei einer graphisch bei einem höheren Wert die y-Achse schneidenden waagerechten Gerade, das Zusammentreffen der waagerechten Linie mit der Korrelationskurve sich auf der x-Achse nach rechts, also in den Bereich höherer Quecksilberwerte, verschiebt. Der praktische Grenzwert gerät daher in Gefahr, höher zu liegen als der biologische.

 

Neben diesem Punkt gibt es einen zweiten Unsicherheitsfaktor in diesem Modell. So bleibt die Annahme fraglich, ob denn tatsächlich ein Grenzwert in der Bevölkerung existiert - oder ob es ein mit sinkendem Quecksilberspiegel kontinuierlich abnehmendes, sich asymptotisch null annäherndes Risiko gibt - welches jedoch nie ganz null wird.

 

Aus diesem Grunde wurden von der WHO (1990) bei der Reevaluierung von Daten, welche von in der Vergiftungsepisode im Irak intrauterin belasteten Kindern stammten, zur Kontrolle des Hockeyschlägermodells noch zwei weitere Berechnungen durchgeführt. Damals wurde jeweils mit einem parametrischen (Logit-Analyse) und einem nichtparametrischen (Kernel-Smoothing-Analyse) statistischen Modell gerechnet, wobei beide Modelle mit einer Extrapolation des Risikos gegen null arbeiten, nicht aber mit einer festen Grenzwertlinie.

 

Wie die Abbildung 24 zeigt, liegen die Kurven aller drei Modelle bezüglich der ausgewerteten Daten eng beieinander, so dass das Hockeyschlägermodell zunächst als ausreichend sicher angesehen werden kann.

 

Bezüglich der Frage nach einem Grenzwert für das Symptom „Verspätetes Einsetzen des Laufens“ wurde auf diese Weise ein praktischer Grenzwert oder besser kritischer Wert von 7,3 µg/g Hg im mütterlichen Haar mit einem oberen Konfidenzintervall von 13,6 µg/g Hg im mütterlichen Haar errechnet. Dabei zeigte sich, dass bei der Annahme einer Hintergrundprävalenz von 0% für verspätetes Laufen die beste Korrelation errechnet werden konnte.

 

Geht man nun aber von der Hypothese aus, dass es keinen absoluten kritischen Wert gibt, so zeigt die Kurve des Logit-Modells, dass das Hockeyschlägermodell bei einem Wert von 7,3 µg/g Hg das Risiko für das jeweilige Symptom um 4% unterschätzen würde.

 

Noch dazu gibt es die einschränkende Anmerkung, dass die jeweiligen Ergebnisse stark abhängig sind von der Annahme der Größe der Hintergrundprävalenz des untersuchten Symptoms. Schon bei einer geschätzten Hintergrundprävalenz von nur 8% läge der praktische kritische Wert bei 119 µg/g Hg im mütterlichen Haar (WHO 1990).

 

Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen kann aus der abgebildeten Kurve die Zunahme des Risikos für das Entstehen des Symptoms „Verspätetes Laufen“ von nahezu 0% bei 5 µg/g Hg bis auf 70% bei ca. 400 µg/g Hg im mütterlichen Haar beschrieben werden - wobei die oberen Dosisbereiche dank höherer Fallzahlen deutlich besser abgesichert sind als die unteren Bereiche.

 

Auf entsprechende Weise wurde für das Auftreten von Auffälligkeiten in der neurologischen Untersuchung ein praktischer kritischer Wert von 10 µg/g Hg mit allerdings großem Konfidenzintervall errechnet (WHO 1990).

 

Da Haarquecksilberkonzentrationen von 10 - 20 µg/g durch regelmäßigen Fischverzehr erreicht werden können (Clarkson 1995), wurden in den letzten Jahren einige prospektive, groß angelegte Studien an Seefischesserpopulationen durchgeführt, um genauere Informationen über mögliche Schädigungen durch Quecksilberkonzentrationen in dieser Größenordnung zu erhalten.

 

Wie schon in der Einführung ausführlicher dargelegt, konnten bei einer Studie mit 131 Kindern einer Seefischesserpopulation in Peru bei einem mittleren Methylquecksilberpeak von 8 µg/g (Spannweite 1,2 - 30 µg/g) im mütterlichen Haar keine Unterschiede zwischen Fall- und Kontrollgruppe gefunden werden (Marsh et al. 1995).

 

In der Pilotstudie zur späteren Seychelles Child Development Study (SCDS) an 789 Kindern zeigte sich bei einem Alter der Kinder von 66 Monaten eine grenzwertig signifikante Verschlechterung des auditiven Verständnisses in der Fallgruppe mit Quecksilberwerten über 12 µg/g im mütterlichen Haar (Myers et al. 1995).

Dieser Befund konnte in der späteren Hauptstudie nicht bestätigt werden. In dieser prospektiven, an 779 Kindern durchgeführten Studie zeigte sich nur zum Untersuchungszeitpunkt im Alter von 29 Wochen ein vermindertes Aktivitätsniveau bei männlichen Kindern mit steigender Quecksilberdosierung. Dieses Ergebnis ließ sich zu dem späteren Untersuchungszeitpunkt in der 66. Lebenswoche nicht mehr nachweise und ist daher von fraglicher Bedeutung. Die damaligen Quecksilberhöhen lagen im Mittel bei 5,9 µg/g (0,5 - 26,7 µg/g) im mütterlichen Haar (Myers et al. 1998).

 

Auch die große prospektive Studie auf den Faroer Inseln, welche an 1023 Kindern durchgeführt wurde, schien zunächst bei den frühen Untersuchungszeitpunkten anhand des Kriteriums des Erreichens von Entwicklungsmeilensteinen keinen nachteiligen Effekt der Quecksilberbelastung zu zeigen (Grandjean et al. 1995). Allerdings konnten bei einer Nachuntersuchung im 7. Lebensjahr deutliche, signifikante Auffälligkeiten sowohl in der neurobehavioralen Untersuchung (Dahl et al. 1996) als auch in etlichen neuropsychologischen Testvariablen sowie in Evozierten Hirnstammpotentialen nachgewiesen werden. Die mütterlichen Haarquecksilberwerte in dieser Studie lagen im Mittel zwischen 17 und 43 µg/g - je nach Wohnbezirk (Grandjean et al 1997).

 

Ebenfalls pathologische Ergebnisse in einer ähnlichen Belastungsgruppe fand sich in der kanadischen Studie an Cree-Indianern. Hier fanden die Autoren Auffälligkeiten im Muskeltonus und Reflexaktivität ab einer Haarquecksilberkonzentration von 13 µg/g (McKeown-Eyssen et al. 1983). Allerdings erscheint die klinische Bedeutung dieser Befunde fraglich, zumal es wenige statistische Angaben über Normwerte und Schwankungen von Muskeltonus und Reflexstatus in den ersten Jahren gibt (WHO 1990). Auch eine von Kjellstrom et al. (1989) durchgeführte Studie an 1000 Frauen aus einer Seefischesserpopulation in Neuseeland ergab eine verminderte Performance in verschiedenen neuropsychologischen Tests ab einer Quecksilberdosis von 13 - 15 µg/g im mütterlichen Haar. Allerdings merkt Marsh (1994) in einer Reevaluierung an, dass in der Studie möglicher Bias im Mißmatching bezüglich ethnischer Gruppierung sowie Alter vorliege.

 

In einer Übersichtsarbeit evaluierten Gilbert und Grant-Webster (1995) tierexperimentelle Arbeiten hinsichtlich des so genannten „low-observed-adverse-effect-level“ (LOAEL) sowie des „No-observed-advers-effect-level“ (NOAEL) bezüglich neurobehavioralen Auffälligkeiten der Tiere als Folge von Methylquecksilberbelastung. Sie berichten zusammenfassend über niedrigste LOAEL bei Affen bei Dosen von 25 µg/kg/d (Rice 1992, zit. nach Gilbert und Grant-Webster) und bei Nagern von 10 µg/kg/d MeHg (Eccles 1982, zit. nach Gilbert und Grant-Webster). Die niedrigsten Gehirnquecksilberwerte von Ratten, welche Verhaltensauffälligkeiten zeigten, sollen umgerechnet bei etwa 40 ng/g MeHg gelegen haben (Gilbert und Grant-Webster 1995).

 

5.1.3.2 Anorganisches Quecksilber

 

Für metallisches Quecksilber und für Quecksilbersalze ist die Datenlage bezüglich unteren Grenzwerten sowie Dosis-Wirkungskurven noch schlechter. Insbesondere liegen hier keine Studien zur niedrigen pränatalen Belastung und insbesondere zur Wirkung von metallischem Quecksilber auf das sich entwickelnde Gehirn vor.

Übersichtsarbeiten über die bisher durchgeführten, vor allem arbeitsmedizinischen Arbeiten zum Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Quecksilberexpositionen und pathologischen Effekten bei Erwachsenen finden sich bei WHO (1991) und Ratcliff et al. (1996).

 

5.1.3.2.1 Metallisches Quecksilber

 

In einer zurückhaltenden Zusammenfassung der älteren Arbeiten kann gesagt werden, dass oberhalb einer Exposition im Berufsfeld von 80 µg/m3 metallischen Quecksilbers, entsprechend 100 µgHg/g Kreatinin, die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass die klassischen neurologischen Zeichen der Quecksilberintoxikation (Erethismus, Tremor) entwickelt werden (WHO 1991). In der Belastungsgruppe zwischen 25 und 80 µg/m3, entsprechend 30 - 100 µgHg/g Kreatinin, kann mit weniger starken neurologischen Auffälligkeiten wie Tremor, gestörter Feinmotorik und verlangsamter Nervenleitgeschwindigkeit gerechnet werden. Desweiteren sind etliche subjektive Symptome wie Irritabilität, Müdigkeit oder Appetitlosigkeit erhöht (WHO 1991).

Oberhalb von 50 µgHg/g Kreatinin soll eine Korrelation zwischen Quecksilberhöhe und Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit bestehen (Levine et al. 1982).

Zusätzlich zu den neurologischen Schäden kommt es bei metallischem Quecksilber schon ab Belastungen von 25 µgHg/g Kreatinin zu einer, im Niedrigdosisbereich noch dezenten, nur paraklinisch nachweisbaren Nierentubulusschädigung (Langworth et al. 1992).

Als Folge einer Inhibition von Sulfhydrylgruppen enthaltenden Enzymes des Hämsyntheseweges soll es schon bei Organkonzentrationen von nur 1 - 3 µg Hg/g Nierengewebe zu einer Sekretion von Porphyrinen kommen (Woods et al. 1993, Gonzalez-Ramirez et al. 1995).

Neuer Studien zu Nebenwirkungen von metallischem Quecksilber auf Dentalpersonal geben deutliche Hinweise für eine dosisabhängige Verschlechterung von Feinmotorik, Konzentrationsfähigkeit, emotionaler Stabilität, allgemeinem Befinden oder Erinnerungsvermögen in Bereichen um 20 - 30 µgHg/g Kreatinin (Echevarria et al. 1995, Ritchie et al. 1995, Echevarria et al. 1998).

 

5.1.3.2.2 Quecksilbersalze

 

Zu Quecksilbersalzen gibt es fast keine am Menschen durchgeführten Arbeiten bezüglich eines Dosis-Wirkungszusammenhanges oder aber bezüglich sicherer unterer Grenzwerte. Der niedrigste NOAEL, der in Tierversuchen bestimmt worden war, entsprach einer dreimal wöchentlich subkutan injizierten Dosis von Quecksilberchlorid von 0,05 mg/kg KG (Druet et al. 1987). Dabei wurden Antikörper gegen die glomeruläre Basalmembran nachgewiesen, ein Effekt, der noch vor der direkten Tubulotoxizität von anorganischem Quecksilber eintreten soll. Als Pathomechanismus wird die Fähigkeit von Quecksilber angesehen, direkt T-Lymphozyten zu stimulieren (Nordlind 1985).

Bisher gibt es nur eine Arbeit zu kritischen Dosen von Quecksilber im Niedrigdosisbereich, welche Angaben zu Gehirnquecksilberkonzentrationen macht. Lapham et al. (1995) untersuchten eine Teilpopulation der Seychellenstudie und fanden Gehimquecksilber-konzentrationen zwischen 50 und 250 ng/g. Für die anderen oben zitierten Arbeiten muss entsprechend den im Kapitel 1.1.11.2 bzw. 5.1.3.2.3 beschriebenen Korrelationen versucht werden, eine ungefähre Abschätzung der vorliegenden Gehimquecksilberkonzentrationen durchzuführen.

 

5.1.3.2.3 Umrechnungsfaktoren zwischen unterschiedlichen Medien

 

Der Arbeit von Cernichiari et al. (1995) folgend, entsprechen mütterliche Haarquecksilberdosen um 10-20 µg/g kindlichen Gehirnquecksilbermengen von 125-300

ng/g. Diese Größenordnung wird gestützt durch die Messungen von Lapham at al. (1995). Allerdings gelten diese Werte nur für Populationen mit vorwiegender Exposition durch organische Quecksilberverbindungen (WHO 1990, 1991, Cernichiari 1995).

In Populationen mit nur mäßigem Fischkonsum spielt dagegen die Belastung mit metallischem Quecksilber durch Amalgamfüllungen eine größere Rolle (WHO 1991). In diesem Zusammenhang wurde bei einer Population von 173 Leichen aus dem Münchner Raum keine feste Korrelation von organischem zu anorganischem Quecksilber im Gehirn gefunden (Schupp 1994). Erschwerend in der Beurteilung des Verhältnisses von primär organischem zu anorganischem Hg ist die Tatsache, dass sowohl MeHg als auch metallisches Hg im Gehirn zu Hg2+ metabolisiert werden, so dass die postmortale Bestimmung keine sichere Aussage über die Verhältnisse im Belastungszeitraum erlaubt.

Die Frage, ob sich die Neurotoxizität von MeHg mit der von metallischem Hg vergleichen lässt, kann durch Untersuchungen am Menschen nicht sicher beurteilt werden, da

1. die Referenzstudien unterschiedlich sensible Kriterien zur Bestimmung der Quecksilberwirkung benutzt haben.

2. keine Vergleichsstudien für die pränatale Neurotoxizität von metallischem Hg zur Verfügung stehen.

Für eine chronische, gleichbleibende Belastung mit metallischem Hg hat die WHO (1991) folgende annähernde Umrechnungsfaktoren errechnet:

Die tägliche Aufnahme von 5µg Hg/m3 führt zu einer Urinquecksilberausscheidung von ungefähr 5 µg Hg /g Kreatinin bzw. zu einer Akkumulation von 10 ng Hg/g Gehimgewebe.

Das Verhältnis von Urinquecksilber (µg/g) zu Gehirnquecksilber (ng/g) entspricht also ungefähr 1:2.

Überträgt man dieses Verhältnis auf die oben zitierten Arbeiten, so entsprechen Urinquecksilberdosen von 30-100 µg/g einer Gehirnquecksilberkonzentration von 60-200 ng/g. Da dies ein Dosisbereich ist, bei dem bei metallischem Hg schon mit zwar leichteren, aber eindeutigen Symptomen bei Erwachsenen zu rechnen ist, könnte dies ein Hinweis für eine höhere Empfindlichkeit des ZNS für metallisches Hg sein. Allerdings ist nicht sicher, ob das Verhältnis von Urin- und Gehirnquecksilberdosen bei steigender Gesamtkörperbelastung linear gleich bleibt. Außerdem wurden viele der arbeitsmedizinischen Studien zu metallischem Quecksilber nach Beendigung der Exposition durchgeführt. Dadurch sind als Spitzenexpositionen deutlich höhere Quecksilberwerte möglich als die zum Untersuchungszeitpunkt gefundenen. Somit muss diese Hochrechnung mit Zurückhaltung betrachtet werden.

Folgt man aber den neueren Studien von Echeverria et al. (1995 und 1998) und Ritchie et al. (1995) zu leichten neuropsychologischen Auffälligkeiten bei Dentalpersonal, so sprechen auch diese für erste präklinische Effekte von metallischem Quecksilber bei Äquivalenzdosen von 40-60 ng/g Gehirngewebe bei Erwachsenen - allerdings bei mehrjähriger Belastung. Unter der Annahme einer höheren Empfindlichkeit des sich entwickelnden ZNS sind bei Feten und Säuglingen somit noch niedrigere Schwellendosen denkbar.

 

5.1.3.3 Zusammenfassung

 

Vergleicht man nun die bei unseren Gruppen gefundenen Quecksilberwerte im ZNS mit der Spannweite von 0-25 ng/g mit diesen Hochrechnungen, so wird deutlich:

1. dass wir in unserer gesamten Untersuchungspopulation Gehirnquecksilberwerte fanden, welche unter den umgerechneten kritischen Werten bezüglich Methylquecksilber lagen - bezogen auf alle Studien, welche bisher bei Erwachsenen oder Kindern erste neuropsychologische Auffälligkeiten gezeigt haben.

2. dass die Gehirnquecksilberwerte ebenfalls niedriger waren als die umgerechneten Grenzdosen der bisherigen Studien bei bevorzugter Belastung mit metallischem Quecksilber. Allerdings sind hier bei Einberechnung einer stärkeren Empfindlichkeit des sich entwickelnden Gehirnes kritische Dosen für leichtere Effekte auch in dem von uns gefundenen Dosisbereich denkbar.

 

5.2 Die reaktive Astrogliose

 

5.2.1 Spezifität der Astrogliareaktion

 

Astrozyten reagieren auf die unterschiedlichsten schädigenden Reize mit der Ausbildung einer reaktiven Astrogliose. Es ist eine unspezifische Reaktion auf virtuell nahezu alle schädigenden Reize des ZNS wie metabolische, toxische, entzündliche, traumatische oder vaskuläre Läsionen (Kinney und Filiano 1988), siehe auch Kapitel 1.3.2.2. Naeye beschrieb als erster eine Hirnstammgliose bei SIDS-Fällen in der Formatio reticularis der Medulla oblongata. Bei späteren Arbeiten fanden sich zum Teil widersprüchliche Ergebnisse.

Während alle Autoren zumindest bei einer Teilpopulation der SIDS-Fälle, aber immer auch bei einer Teilpopulation der Vergleichsfälle, eine reaktive Astrogliose nachweisen konnten, zeigte sich nur bei einigen Autoren ein signifikanter Unterschied in der Ausprägung der Astrogliose zwischen SIDS und Kontrollen (Takashima et al. 1978, Kinney et al. 1983), während andere Autoren keine Unterschiede feststellen konnten (Ambler et al. 1981, Pearson et al. 1983). Insgesamt sind die vorliegenden Arbeiten schwer zu vergleichen, da oftmals unterschiedliche Schnitthöhen untersucht wurden, unterschiedliche Färbemethoden angewandt wurden oder aber differierende Quantifizierungsmethoden verwendet wurden.

Die genaue Ursache bzw. die verschiedenen Ursachen der teilweise zu beobachtenden reaktiven Gliose beim SIDS sind nicht eindeutig geklärt. Naeye (1976) nahm als Erklärung der Astrogliose beim SIDS rezidivierende Hypoxien im Rahmen einer Störung der zentralen Atemregulation an. Allerdings steht die endgültige Bestätigung dieses Konzeptes noch aus (Guntheroth 1989), zumal mittlerweile die These der alleinigen Störung der Atemzentren ergänzt wurde durch die Hypothese einer eher diffusen Störung des ZNS unter Einbeziehung kardiorespiratorischer Kontrollmechanismen (Kinney et al. 1992, Becker et al. 1993).

Letztlich sind aber neben der Idee einer hypoxisch ausgelösten Astrogliose alle anderen unspezifischen Risikofaktoren wie toxische Faktoren (Alkoholkonsum, Rauchen der Mutter u.a.), vaskuläre Besonderheiten (Hypoxämie bei Placentainsuffizienz) oder aber nichtletale Infektionen mit Schrankenfunktionsstörung als Ursache der Gliareaktion denkbar.

Schwere Grunderkrankungen wie auch schwere genetische Defekte scheiden, obwohl sie selbstverständlich eine Gliareaktion bedingen können, definitionsgemäß beim SIDS aus. Auch die Idee einer idiopathischen Gliose bei einer Teilpopulation muss in Betracht gezogen werden (Kinney und Filiano 1988).

Krankheiten, die bekanntermaßen zu einer reaktiven Gliose führen wie kongenitale Herzerkrankungen oder schwere Infektionen, führten bei den Vergleichsfällen zum Ausschluss aus der Bewertung.

Gegen die Idee einer physiologischen Gliose innerhalb der ersten Lebensmonate spricht das Vorliegen von etlichen Fällen mit fehlender Gliareaktion in dieser Altersgruppe sowohl bei SIDS wie auch bei den Kontrollfällen (Kinney et al. 1992). Entsprechend den Angaben in der Literatur fanden wir sowohl bei den SIDS-Fällen wie bei den an anderen Erkrankungen gestorbenen Kindern sowohl Fälle mit einer zum Teil ausgeprägten Astrogliose wie auch Kinder, bei denen keine Astrogliose nachweisbar war.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass beim SIDS wie bei den Kontrollfällen eine relativ hohe Inzidenz an Astrogliareaktionen letztlicher nicht eindeutig geklärter Ursache im Sinne einer hohen Hintergrundprävalenz vorliegt.

 

5.2.2 Verhältnis von Sterbealter zur Stärke der Astrogliareaktion

 

Die Ergebnisse der Arbeit von Bruce und Becker (1991) bestätigend, findet sich auch bei unserer Untersuchung in keiner der Gruppen eine Korrelation der Stärke der Gliareaktion mit dem postkonzeptionellen Alter innerhalb des ersten Lebensjahres.

 

5.3 Quecksilber und Astrogliareaktion

 

5.3.1 Allgemeines/Literatur

 

Sowohl die Belastung mit Methylquecksilber als auch die Exposition mit anorganischem Quecksilber führen in-vitro, im Tierversuch und beim Menschen zu einer reaktiven Astrogliose (O'Callaghan 1988, Lapham et al. 1995, Monnet-Tschudi et al. 1996).

Dabei findet man bei Zellkulturen unreifer Astrozyten der Ratte eine Astrogliareaktion vor einer Beeinflussung der Zellproteine und Transmittersysteme. Die reaktive Astrozytose trat schon bei Quecksilberkonzentrationen von 10-9 bis 10-7 M auf, während Effekte auf die Funktionsproteine und Transmittersysteme erst bei 10-6 bzw. 10-5 zu beobachten sind.

Dabei zeigte sich eine stärkere Wirkung von Quecksilberchlorid im Vergleich zu Methylquecksilber auf die unreifen Astrozyten (Monnet-Tschudi et al. 1996, Aschner 1996). In Gehirnkulturen mit reifen Neuronen und Astrozyten kommt es dagegen erst bei Dosen ab 10-8 zu einer reaktiven Astrozytose - jedoch immer noch vor der Wirkung auf Funktionsproteine und Transmittersysteme, welche ab 10-6 bis 10-5 beeinflusst werden.

Dabei werden die Funktionen der Neurone vor denen der Astrozyten gestört - wobei MeHg eine noch frühere Neurotoxizität aufweist als HgCl. Das Muster der Astrogliose erscheint bei unreifen Astrozyten eher lokal betont, während bei reifen Astrozyten eine generalisierte Astrogliose zu beobachten ist (Monnet-Tschudi et al. 1996, Aschner 1996).

Die frühe Reaktion der Astrozyten noch vor Einsetzen von funktionellen Störungen wird auch durch Verhaltensuntersuchungen an Ratten bestätigt. Eisner et al. (1988) konnten eine Erhöhung von GFAP-Gehalt in Astrozyten des Kleinhirnwurmes schon in Dosierungen nachweisen, in denen noch keine Verhaltensauffälligkeiten zu beobachten

waren.

Allerdings sind die Astrozyten nicht die sensitivsten Zellen des Gehirnes bei einer Quecksilberexposition. Schon bei Dosen von 10-10 Hg kann in Gehirnkulturen

der Ratte eine Vermehrung von Mikrogliazellen nachgewiesen werden (Monnet-Tschudi et al. 1996).

Auch beim Affen zeigt sich in-vivo eine Vermehrung der Mikroglia vor dem Nachweis einer reaktiven Astrozytose (Charlston et al. 1996).

Hinsichtlich der Auslösung der quecksilberbedingten Gliareaktion sind somit sowohl ein direkter Angriff an Strukturen des Astrozyten denkbar wie auch eine

sekundäre Reaktion nach Stimulierung der Mikroglia. Denn zum einen ist der Astrozyt, wie oben beschreiben, selbst Zielzelle der Quecksilbertoxizität, zum

anderen ist aber auch bekannt, dass Quecksilber u.a. die Sekretion von Interleukin-1 durch Mikroglia stimulieren kann (Zdolsek et al. 1994). Interleukin-1 wiederum

gehört zu den Faktoren, welche die Ausbildung von reaktiven Astrozyten induzieren können (Norenberg 1994). Natürlich kann eine reaktive Gliose in höheren Dosisbereichen auch durch quecksilberinduzierte Neuronenschädigung und Transmitterfreisetzung oder aber durch Schädigung der Bluthirnschranke mit

folgendem Hirnödem verursacht werden (Monnet-Tschudi et al. 1996).

Dabei muss angemerkt werden, dass es zwar einige Untersuchungen gibt, welche eine deutliche immunhistochemisch nachweisbare diffuse Astrogliose nach

Quecksilberexposition sowohl beim Menschen wie auch im Tierversuch nachweisen (Choi et al 1978, Lapham et al. 1995). Allerdings fehlen bisher Studien, die

genaue Angaben über eine Korrelation zwischen Quecksilberdosis, immunhistochemisch nachweisbarer Stärke der Gliose, zellulärem GFAP-Proteingehalt und

GFAP-mRNA-Gehalt machen können. Folgt man den, bis auf den Zeitverlauf, relativ uniformen Verläufen bei anderen neurotoxischen Substanzen, so kann davon

ausgegangen werden, dass in einem bestimmten Dosisbereich eine, z.T. nicht lineare, Korrelation zwischen Dosis des Toxins und GFAP-Gehalt zu finden ist. Dabei

geht die Zunahme an GFAP-Gehalt immer mit einer positiven immunhistochemischen Reaktion einher, wobei allerdings die Abstufungen der Stärke der Reaktion

immunhistochemisch nicht immer so gut zu erfassen sind wie mit der GFAP-Proteinbestimmung (O'Callaghan 1991). Offensichtlich gibt es schon bei niedrigen

Dosierungen immunhistochemisch eine deutlich positive Reaktion (Monnet-Tschudi et al. 1996), welche dann bei höheren Dosierungen weiterhin nachzuweisen ist

 - oder aber auch, möglicherweise infolge einer Schädigung der Proteinsynthese, in höheren Dosisgruppen wieder etwas schwächer werden kann (Eisner et al.

1988). So konnten Lapham et al. (1995) bei Kindergehirnen aus der Seychellenstudie zwar bei Dosierungen zwischen 50 und 250 ng/g eine reaktive Astrogliose

nachweisen - allerdings fanden sie keine dosisabhängige Zunahme der Reaktion. Kritisch angemerkt werden muss hierbei allerdings, dass in dieser Studie zwar

eine Astrogliareaktion bei den meisten Fällen nachgewiesen werden konnte. Ob aber ein Zusammenhang zur Quecksilberdosis gegeben ist, ist nicht gesichert.

Für diese Annahme spricht nur, dass einerseits eine auffallend deutliche Astrogliose gefunden wurde - und dass andererseits bei der untersuchten

Seefischesserpopulation höhere zerebrale Quecksilberwerte als in Populationen mit weniger Fischverzehr gefunden wurde. Detaillierte Angaben über andere

Risikofaktoren für eine reaktive Gliose fehlen jedoch.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die reaktive Astrogliose ein sehr sensitiver Marker für die Wirkung von Quecksilber auf das Gehirn ist. Auch wenn die

Dosierungen aus Tier- und in-vitro-Versuchen nicht zwanglos auf den Menschen übertragbar sind, ist davon auszugehen, dass Quecksilberdosen im Nanogrammbereich zu ersten nachweisbaren Effekten auf Zellen des Nervensystems haben können. Folgt man den in-vitro sowie den Tierversuchen, so können anhand des Markers reaktive Gliose schon präklinische Effekte der Quecksilberwirkung erfasst werden. Insofern erscheinen auch pathologische Studien mit Hilfe dieses Markers als geeignet für die Bestimmung von unteren Sicherheitsbereichen für neurotoxische Substanzen.

Auf der anderen Seite ist die reaktive Astrogliose offenbar auch ein sensitiver Marker für etliche andere schädigende Reize. Dies führt dazu, dass, um einen spezifischen Effekt durch eine bestimmte Substanz auf die Astrozyten nachweisen zu können, große Fallzahlen notwendig sind, um Substanzeffekte von Hintergrundprävalenz unterscheiden zu können.

Die kombinierte Analyse von GFAP-Gehalt und Immunreaktivität könnte möglicherweise eine bessere Bestimmung einer dosisabhängigen Korrelation von Quecksilber und Ausmaß der Astrogliose erlauben. Allerdings kann auch durch diese Maßnahme das Problem der Unspezifität der reaktiven Astrogliose nicht behoben werden.

Einfluss pränataler Quecksilberexposition auf die Fähigkeit der Astrozyten, mit einer reaktiven Gliose reagieren zu können:

Hinweise dafür, dass Quecksilber in den bei uns gefundenen Dosierungsbereichen bei pränataler Exposition die Fähigkeiten der Astrozyten, zu einem späteren

Entwicklungszeitpunkt mit einer Astrogliose reagieren zu können, irreversibel hemmen könnte, sind nicht gegeben. Denn auch bei deutlich höherer pränataler Exposition in der Vergiftungsperiode im Irak war postmortal eine ausgeprägte Astrogliose nachzuweisen (Choi et al. 1978).

 

5.3.2 Korrelation von Ouecksilberhöhe und Astrogliareaktion im untersuchten Kollektiv

 

In der bisherigen Literatur sind neuropathologisch-toxikologische Studien zu subklinischen Effekten von Quecksilber auf das sich entwickelnde menschliche Gehirn rar. Daher war ein Hauptziel dieser Arbeit, in explorativem Sinne Anhaltspunkte dafür zu suchen, ob es im Bereich der alltäglichen Belastung der Normalbevölkerung mit Quecksilber Hinweise dafür gibt, dass Quecksilber in diesem Dosisbereich schon nachweisbare Effekte auf Strukturen

des ZNS hat.

Eine erste Hypothese zu dieser Fragestellung wurde aus den Punktdiagrammen zur Korrelation von Quecksilberhöhe und Fläche an reaktiven Astrozyten gewonnen.

 

5.3.2.1 Mediane Raphe

 

In der optischen Auswertung der Punktdiagramme konnten für die Untersuchungsgruppen „Alle Münchner Fälle 0-24 Monate Sterbealter", „0-12 Monate Sterbealter" sowie „Münchener SIDS" bezüglich der reaktiven Astrogliose in der medianen Raphe folgende Hypothesen aufgestellt werden:

1. Unterhalb einer Quecksilberdosis von 7-9 ng/g Hg zeigt die Punktwolke eine reine Zufallsverteilung.

2. Ab einer Quecksilberdosis von 7-9 ng/g Hg nimmt die Anzahl der negativen Gliareaktionen ab.

Die optische Auswertung wurde durch eine mathematische Berechnung der relativen Häufigkeit der positiven Gliareaktionen zur Gesamtzahl der Gliareaktionen mit steigenden Quecksilberwerten im Frontalhirn bestätigt. Zwischen 0 und 5 ng/g Hg findet sich eine relative Häufigkeit von 0,4-0,5 oder von 40-50  an positiven Gliareaktionen. Ab 6-7 ng/g Hg steigt die relative Häufigkeit positiver Gliareaktionen allmählich aufwerte zwischen 50 und 55  an, ab 8 ng/g Hg finden sich dann mehr als 60  positive Gliareaktionen. Sowohl optische Auswertung der Punktwolken als auch die mathematische Berechnung der relativen Häufigkeit der positiven Reaktionen gaben somit den Hinweis darauf, dass mit steigenden Quecksilberwerten ab einen Grenzwert von etwa 8 ng/g Hg auch vermehrt positive Gliareaktionen zu verzeichnen sind.

Im zweiten Schritt war nun zu klären, ob die sich abzeichnende Tendenz zu mehr positiven Gliareaktionen ab etwa 8 ng/g Hg statistisch signifikant sein würde.

Die Klärung der Hypothese, ob sich die relative Anzahl von positiven bzw. negativen Gliareaktionen oberhalb und unterhalb des aus dem ersten Auswertungsschritt abgeleiteten Grenzwertes von 8 ng/g Hg signifikant unterscheiden, wurde mittels des Fisher-Yates-Test durchgeführt.

Im Fisher-Yates-Test zeigte sich eine mit p=0,015 eine signifikante Differenz der Gruppen oberhalb bzw. unterhalb des Quecksilberwertes von 8 ng/g Hg für die Gesamtgruppe aller Münchener Fälle zwischen 0-24 Monaten Sterbealter sowie mit p=0,0085 für die Untergruppe 0-12 Monate Sterbealter und mit p=0,0149 für die Münchener SIDS.

Zusammenfassend lässt sich für die Auswertung der Gliareaktion in der medianen Raphe feststellen:

1. Unterhalb eines Quecksilberwertes von 5-6 ng/g Hg ist kein Zusammenhang zwischen der Fläche der reaktiven Astrozyten und der Höhe der Quecksilberbelastung nachzuweisen.

2. Ab 5-6 ng /g Hg gibt es zunächst eine Tendenz, ab 7-9 ng/g Hg dann eine deutliche Erhöhung der relativen Anzahl positiver Gliareaktionen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Gliareaktionen.

3. Die Gruppen oberhalb und unterhalb von 8 ng/g Hg unterscheiden sich statistisch signifikant bezüglich der relativen Häufigkeit positiver und negativer Gliareaktionen.

 

5.3.2.2 Nucleus motorius des Nervus vagus

 

Insgesamt war die Gliareaktion im Nucleus dorsalis N. V nahezu um den Faktor 2 schwächer nachzuweisen als in der medianen Raphe. Aufgrund der relativ kleinen Fallzahl in dieser Gruppe führten wir hier keine statistische Berechnung durch. Dennoch zeigt sich in der graphischen Darstellung der Punktwolken ein ähnliches Phänomen wie bei der Reaktion in der medianen Raphe. Oberhalb eines Wertes von 5-6 ng/g Hg scheinen die negativen Gliareaktionen abzunehmen. Allerdings fällt in dieser Gruppe neben der kleinen Fallzahl auf Grund der relativen engen Spannweite der Differenzen in der Färbeintensität die Wahl eines

Differenzierungspunktes für positive und negative Gliareaktionen deutlich schwerer als bei der Auswertung der medianen Raphe. Somit ist diese in der Graphik suggerierte Tendenz zu weniger negativen Gliareaktionen oberhalb von 5-6 ng/g Hg in der Bewertung mit äußerster Vorsicht zu behandeln.

 

5.3.3 Plausibilität der Ergebnisse

 

5.3.3.1 Kritik der Methode

 

a) Sensitivität

Quecksilberbelastung führt tierexperimentell, in-vitro, sowie möglicherweise auch beim Säugling schon im Nanogrammbereich zu einer immunhistochemisch nachweisbaren reaktiven Astrogliose (Lapham et al. 1995, Monnet-Tschudi et al. 1996) - siehe auch Kapitel 5.3.1. Dennoch merkt O'Callaghan (1991) an, dass es bei der reaktiven Astrogliose in Gefolge einer Neurotoxinwirkung in erster Linie zu einer Hypertrophie der Astrozyten, nicht jedoch zu einer Hyperplasie der Zellen kommt. Somit kann durch eine herkömmliche Zellzählung, welche die Umwandlung von vorher GFAP-negativen in GFAP-positive Astrozyten erfasst, zwar ein grober Hinweis für die Stärke der Astrogliose erhalten werden.

Nicht erfasst werden jedoch feinere Abstufungen in der Stärke der reaktiven Astrozytose innerhalb der Gruppe der GFAP-positiven Astrozyten. Solche Abstufungen können sich zeigen in einer Zunahme des zellulären Gehaltes an GFAP oder in einer unterschiedlichen Ausprägung der Anfärbbarkeit auch der Zellfortsätze. Durch die in der vorliegenden Arbeit angewandte Messung der Fläche der reaktiven Astrozyten wird auch die unterschiedlich stark ausgeprägte Anfärbbarkeit der Zellfortsätze mit in die Auswertung einbezogen. Diese Methode erlaubt somit eine etwas differenziertere Beurteilung der Stärke der reaktiven Astrogliose als die reine Zellzählung.

Als optimale Lösung wäre sicherlich die Kombination von immunhistochemischen Methoden mit der quantitativen Bestimmung des zellulären GFAP-Gehaltes anzusehen. Denn gerade bei deutlich positiv GFAP-gefärbten histologischen Schnitten sind noch weitere Abstufungen im Proteingehalt denkbar, welche nicht mehr über eine Zunahme der GFAP-positiven Zellen oder über eine räumliche Zunahme der GFAP-Färbung nachgewiesen werden können.

Diese Abstufungen bei deutlich positiven Fällen sind nur mit der Proteinbestimmung nachzuvollziehen.

Somit sollte für eine exakte Korrelationsbestimmung zwischen Quecksilberdosis und Stärke der Gliareaktion für weitere Arbeiten die Kombination von Immunhistochemie und Proteinanalytik durchgeführt werden.

Dennoch ist die alleinige immunhistochemische Auswertung, entsprechend der oben (Kap. 1.3.2.2.2 und 5.3.1.) zitierten Literatur, sensitiv genug, um grobe Unterscheide wie „nicht-" oder „kaum gefärbt" und „deutlich positiv gefärbt" herauszuarbeiten.

b) Spezifität

Die reaktive Astrogliose ist ein relativ unspezifischer Schädigungsmarker. Somit stellt sich die Frage, ob der Anstieg der positiven Gliareaktionen im höheren Dosisbereich durch andere Einflussfaktoren erklärt werden kann. Allerdings ergab ein gesondertes Studium der Sektionsunterlagen keinen Hinweis für besondere Risikofaktoren bei den Fällen mit hohen Quecksilberwerten. Auch Alter, Geschlecht oder Diagnosegruppe waren nicht entscheidend für die Höhe der Quecksilberwerte. Keine Hinweise in den Akten gab es zur Frage der chronischen Plazentainsuffizienz, so dass die Frage nach einem Bias durch diesen

Einflussfaktor offenbleiben muss. Allerdings erscheint es auch wenig plausibel, dass bei jedem Auftreten einer Plazentainsuffizienz, welche theoretisch ein potentielles Risiko für eine reaktive Astrogliose sein kann, gleichzeitig auch ein erhöhter zerebraler Quecksilberspiegel vorliegen sollte, da diese Faktoren keine ursächlichen Zusammenhänge besitzen.

Somit kann unter den erwähnten Einschränkungen kein anderer Faktor für die steigende relative Zahl positiver Gliareaktionen nachgewiesen werden.

 

5.3.3.2 Allgemeingültigkeit der Ergebnisse

 

Die Auswertung aller Münchener Fälle sowie der Münchener SIDS geben Hinweise dafür, dass sich der Grenzwert für einen beginnenden Effekt von Quecksilber auf die Astrozyten im Sinne der reaktiven Astrozytose innerhalb der Quecksilberdosierungen des untersuchten Kollektives befindet.

In der Literatur gab es jedoch bisher keine exakten Angaben über einen Grenzwert für diese Reaktion beim Menschen, der in unserer Arbeit hätte überprüft werden können. Nach strengen Maßstäben der Statistik ist es nicht gestattet, aus der selben Stichprobe sowohl eine Hypothese zu generieren, als auch die Hypothese in der selben Stichprobe zu beweisen. Somit hat die Statistik in unserer Stichprobe nur explorativen Charakter, die Ergebnisse können nicht beweisend verallgemeinert werden.

Ursprünglich war geplant gewesen, aus der Untergruppe der Vergleichsfälle eine Hypothese zu generieren und diese dann mittels der SIDS-Fälle zu kontrollieren. Dieses Vorgehen musste jedoch wegen der zu geringen Fallzahl der Vergleichsfälle aufgegeben werden. Auch die theoretisch mögliche Unterteilung der Gesamtgruppe in zwei gleich große Untergruppen musste verworfen werden, da in diesem Falle in beiden Gruppen nur wenige Fälle mit hohen

Quecksilberwerten zu finden gewesen wären, so dass eine statistische Auswertung nicht sinnvoll gewesen wäre.

Daher werden die gefundenen Ergebnisse wie folgt bewertet:

In dem untersuchten Kollektiv gibt es Hinweise für einen Grenzwert im Bereich zwischen 7 und 9 ng/g Hg im Frontalhirn. Unterhalb dieses Wertes ist kein Zusammenhang der reaktiven Gliose mit der Höhe der Quecksilberwerte zu erkennen.

Ob sich dieser Grenzwert bestätigen lässt, müssen zukünftige Untersuchung in weiteren Studien zeigen.

 

5.3.4 Einordnung der Ergebnisse in den aktuellen Stand der Wissenschaft

 

Auch wenn die Ergebnisse dieser Arbeit im explorativen Sinne zu deuten sind, kann versucht werden, die gefundene Grenzwerthypothese mit den Ergebnissen von anderen Autoren zu vergleichen und so die Plausibilität der Ergebnisse zu validieren oder zu hinterfragen.

Zwar gibt es - wie oben erwähnt - keine Vergleichsarbeiten am menschlichen Säugling im entsprechenden Dosisbereich. Allerdings fällt auf, dass die in-vitro an Ratten-Gehirn-Kulturen gewonnenen Daten ebenfalls einen ersten Effekt von Quecksilber auf unreife Astrozyten im Dosisbereich von l O'9 M - also im unteren Nanogrammbereich - gezeigt haben (Monnet-Tschudi et al. 1996). Die niedrigsten, allerdings unsicheren Vergleichsdaten für das sich entwickelnde menschliche Gehirn liegen um eine Zehnerpotenz höher und finden sich bei Lapham et al. (1995). Bei den im Rahmen der Seychellenstudie untersuchten

Säuglingsgehirnen fanden sie eine positive Astrogliosereaktion bei Kindern mit Gehirnquecksilberwerten von 50-250 ng/g.

In-vitro kann an Ratten-Gehirn-Kulturen der Effekt beobacht werden, dass sich eine Reduktion der Zellfunktionen im Sinne von einer Reduktion der Enzymfunktionen erst bei um ca. ein- bis zwei Zehnerpotenzen höheren Quecksilberdosen zeigt als der Beginn der Astrogliareaktion (Monnet-Tschudi et al. 1996, Aschner 1996).

Überträgt man diese Spanne mit Vorbehalt auf das menschliche Gehirn, so fällt auf, dass die oben beschriebenen Quecksilberdosen, bei denen beim Menschen erste klinische Effekte auftraten, in eine Größenordnung fallen, welche ein bis zwei Zehnerpotenzen über dem in unserer Arbeit gefundenen Grenzwert liegen.

 

So wurden für metallisches Hg in arbeitsmedizinischen Studien (WHO 1991, Ritchie et al. 1995, Echevarria et al. 1995 und 1998) erste Effekte ab 40-60 ng/g Hg im Gehirn berechnet - allerdings bei Erwachsenen - und für organische Quecksilberverbindungen ab 125 ng/g bei Kindern (Grandjean et al. 1997).

Auch bei Ratten zeigten sich im Tierversuch erste Verhaltensauffälligkeiten bei Äquivalenzdosen von 40 ng/g Hg im Gehirn (Gilbert und Grant-Webster 1995).

Dieser Zusammenhang kann als ein Hinweis dafür gesehen werden, dass ein Grenzwert für den beginnenden Effekt von Quecksilber auf die Astrozytenfunktion im Sinne der reaktiven Astrozytose tatsächlich in dem durch unsere Arbeit gefundenen Dosisbereich zu suchen ist.

 

5.3.5 Klinische Relevanz

 

Hintergrund dieser Arbeit war die Frage, ob der Quecksilberdosisbereich, dem sowohl der Fetus als auch der spätere Säugling in der Allgemeinbevölkerung ausgesetzt ist, einen Effekt auf Zellen des Nervensystems haben können oder nicht.

Anhand des Kriteriums der reaktiven Astrozytose können unter Berücksichtigung der oben angeführten Einschränkungen folgende Ergebnisse formuliert werden:

1. Bei der Mehrzahl der untersuchten Kinder kann kein Effekt der Quecksilberdosis auf die Astrozyten im Sinne der reaktiven Astrozytose nachgewiesen werden.

2. Bei einer Teilpopulation oberhalb des Grenzwertes von 8 ng/g ist möglicherweise ein Effekt von Quecksilber auf die reaktive Astrozytose nachzuweisen.

3. In-vitro-Studien geben Anhalt dafür, dass eine Funktionseinschränkung im Sinne von verminderten Zellfunktionen erst in einem Dosisbereich zu finden sind, der um ein bis zwei Zehnerpotenzen höher liegt als der erste Nachweis einer reaktiven Astrozytose.

4. Auch die am Menschen in vivo durchgeführten Untersuchungen geben Hinweise für erste Effekte auf kognitive Funktionen in einem Dosisbereich, der eine Zehnerpotenz höher liegt als der bei uns gefundene Grenzwert für einen Einfluss auf die Astrozytenfunktion.

Allerdings fehlen Untersuchungen zum Effekt von niedrigen Dosen metallischen Quecksilbers auf das sich entwickelnde Gehirn. Die für metallisches Quecksilber gefundenen Effekte bei 40-60 ng/g Hg bei Erwachsenen lassen die Interpretation offen, dass bei Säuglingen auch niedrigere Dosen Effekte erzielen könnten.

5. Auch wenn die Astrogliareaktion nach bisheriger Datenlage ein sehr sensitiver präklinischer Marker für Effekte von Neurotoxinen ist, so sind die Astrozyten zumindest in vitro nicht die empfindlichsten Zellen für Quecksilber. Wie oben erwähnt, reagiert die Mikroglia schon bei Quecksilberdosierungen von 10-10 mit einer Aktivierung. Daher wäre auch in Dosierungen im Picogrammbereich ein - möglicherweise regulatorischer - Effekt auf das Immunsystem denkbar, obwohl in diesem Bereich nicht unbedingt mit toxischen Wirkungen im eigentlichen Sinne zu rechnen wäre. Dies ist insbesondere von Bedeutung, da Quecksilber - wie in der Einleitung ausgeführt - auch immunpathogenetisch vermittelte Krankheitsbilder wie z. B. eine Glomerulonephritis bedingen kann.

Zusammenfassend gibt es somit deutliche Hinweise für einen Quecksilbereffekt im oberen untersuchten Dosisbereich. Allerdings dürfte dieser Effekt bei der Mehrzahl der Fälle ein rein paraklinischer Effekt sein, der noch vor dem Auftreten von leichten Funktionseinschränkungen nachzuweisen ist. Da aber in der Toxikologie von individuell unterschiedlicher Empfindlichkeit ausgegangen wird, kann möglicherweise für besonders sensitive Einzellfälle, welche im statistischen Randbereich liegen, auch ein klinischer Effekt wirksam werden. Diese Vermutung kann jedoch durch unsere Arbeit nicht direkt gestützt werden, zumal einzelne Fälle sicherlich in der hohen Hintergrundprävalenz der reaktiven Astrogliose untergehen würden. Soll jedoch, wie bei der Festsetzung von Grenzwerten im Bereich der Toxikologie üblich, ein Sicherheitsbereich von mindestens einer Zehnerpotenz unterhalb des letzten gefundenen Effektes eingehalten werden, so kann unsere Arbeit andererseits keine Unterstützung dafür liefern, diesen Grenzwert in höheren Dosisbereichen anzusetzen, als den von uns untersuchten.

Neben der Unsicherheit, ob die Spanne zwischen Aktivierung der Gliareaktion und ersten funktionellen Effekten auf die Zellen des ZNS von den in-vitro-Versuchen auf den Menschen übertragen werden kann, gibt es einen weiteren Unsicherheitsfaktor in der Ableitung von sicheren Grenzwerten aus der vorliegenden Untersuchung.

Entsprechend der Fragestellung einer möglichen Schädigung der vegetativen Regulationszentren bei der häufigsten Todesursache im untersuchten Kollektiv, dem SIDS, wählten wir Kerne der Medulla oblongata als Indikator für einen möglichen Quecksilbereffekt. Allerdings geben die pathologischen Studien von Minamataopfern Hinweise dafür, dass andere Stellen des Gehirnes, wie z. B. die Area calcarina, noch empfindlicher sind als Strukturen des Hirnstammes (Takeuchi 1977). Insofern kann die Interpretation, dass die Belastungshöhen in unserem Kollektiv für den Großteil der Fälle wahrscheinlich keine funktionellen Effekte nach sich ziehen werden, nicht bedenkenlos auf das gesamte ZNS übertragen werden.

Aussagen über mögliche immunpathogenetisch vermittelte Quecksilbereffekte können durch die vorliegende Arbeit nicht gemacht werden.

 

5.4 Quecksilber und der Plötzliche Kindstod (SIDS)

 

Das SIDS ist in der Altersgruppe von 0-1 Jahr weiterhin mit Abstand die häufigste Todesursache. Zugleich ist gemäß seiner Definition die Ursache des SIDS ungeklärt, auch wenn es mittlerweile viele Hypothesen über die vermutlich mehrstufige Genese des SIDS gibt - siehe Kapitel 1.2.5. Daunderer (1992) brachte das SIDS - bzw. eine Teilpopulation des SIDS - in Zusammenhang mit erhöhter Quecksilberbelastung der Kinder durch mütterliche Amalgamfüllungen. Er folgte damit dem Konzept der mehrstufigen SIDS-Pathogenese. In diesem, im Kapitel 1.2.5 genauer erläuterten Modell, wird eine Schädigungsphase abgegrenzt von der eigentlichen Todesphase. Als erster Schritt soll ein intrauterin schädigendes Milieu durch unspezifische endogene oder exogene pathogene Faktoren zu einer Reifungsstörung u.a. des Nervensystems, insbesondere aber der kardiorespiratorischen Kontrollsysteme im Hirnstamm, führen. Auf diese Weise soll postnatal eine erhöhte Vulnerabilität auf unspezifische, normalerweise den Tod nicht alleine erklärende Belastungsfaktoren gegeben sein, so dass ein eigentlich banaler Auslöser dann auf dem Boden einer Anfälligkeit der vegetativen Kontrollsysteme zum Tode führen kann (Kinney et al. 1992, Becker et al 1990 und 1993).

Hypothesen, welche den Versuch unternehmen, die Quecksilberdynamik u.a. auf das sich entwickelnde Gehirn zu erklären, sind zahlreich. Sie beinhalten, wie ausführlich in der Einleitung beschrieben, als Pathomechanismen die Störung der Proteinbiosynthese, Veränderungen von Membranfunktionen, Carriersystemen und Signaltransduktion, oxidativen Stress, Beeinflussung der Zytoarchitektur sowie Veränderungen in der Neurotransmission. (Choi 1988, Kusznetsov 1990, WHO 1990,1991, Sirois und Atchinson 1996, Vitarella et al. 1996, Aschner 1996, O'Flaherty 1998).

Da aber in den zitierten Arbeiten im Tierversuch sowie in-vitro in der Regel Quecksilberdosierungen angewendet wurden, welche deutlich über den Quecksilberwerten lagen, welche man in der Allgemeinbevölkerung findet, können diese Arbeiten nur als theoretischer Hintergrund für mögliche Quecksilberwirkungen dienen. Sie erlauben jedoch keine Aussage über sichere untere Grenzwerte.

Kleemann et al. (1990) untersuchten in ihrer Arbeit bisher als einzige den Zusammenhang zwischen dem SIDS und unterschiedlichen Neurotoxinen, darunter Quecksilber. Sie konnten jedoch keinen Unterschied in den Nierenquecksilberwerten zwischen SIDS und Kontrollfällen nachweisen.

Auch in unserer Arbeit fand sich im U-Test nach Mann-Whitney kein signifikanter Unterschied in den Quecksilber-Medianwerten zwischen SIDS und Kontrollfällen.

Eine abschließende vergleichende Beurteilung über das Verhalten der reaktiven Astrogliose in beiden Gruppen unserer Studie konnte nicht erfolgen, da etliche Vergleichsfälle infolge der Ausschlusskriterien nicht in die Auswertung der Astrogliareaktion aufgenommen werden konnten. Daher ist die Vergleichspopulation so klein, dass keine sinnvolle Aussage mehr möglich ist. Dieses Problem der Rekrutierung von geeigneten Kontrollfällen ist aus der SIDS-Forschung gut bekannt. Eine Lösung liegt hier vermutlich nur in über mehrere Jahre angelegten Multizenterstudien.

Betrachtet man nur die SIDS-Fälle, so zeigt sich auch in dieser Teilgruppe, wie oben ausführlicher dargelegt, eine hochsignifikante Tendenz zu weniger negativen Gliareaktionen ab einem kritischen Quecksilberwert von 8 ng/g Hg im Frontalhirn. Somit kann auch bei den SIDS die Hypothese aufgestellt werden, dass sich einige der Fälle in einem Dosisbereich befinden, in dem es zu einer nachweisbaren Quecksilberwirkung auf die Astrozyten kommt.

Folgt man auch hier den unter 5.3.1 zitierten in-vitro sowie tierexperimentellen Befunden, so scheint es, dass die reaktive Gliose schon in einem Dosisbereich nachzuweisen ist, in dem noch keine Einschränkungen der zellulären Funktionen von Neuronen und Astrozyten zu finden sind (Monnet-Tschudi et al. 1996, Charlston et al. 1996). Zugleich tritt aber die reaktive Astrogliose bei unreifen Astrozyten schon in einer um eine Zehnerpotenz niedrigeren Quecksilberdosierung auf. Monnet-Tschudi et al. (1996) erklären dies durch die bei unreifen Astrozyten fehlenden Schutz- und Puffersysteme wie Glutathion. Durch die

mangelnde Fähigkeit der unreifen Astrozyten, Quecksilber in nicht reaktiver, gebundener Form zu sequestrieren, könnte die Menge des in der Zelle freien und reaktiven Quecksilbers früher steigen als bei reifen Astrozyten. Außerdem fehlt damit in diesem Moment auch die Schutzfunktion der Astrozyten im Sinne eines Quecksilberpuffers für die Neurone, so dass in den frühen Phasen der ZNS-Entwicklung mit einer höheren Empfindlichkeit der Neurone zu rechnen ist als zu späteren Zeitpunkten.

In der Praxis findet sich der Zeitpunkt der höchsten Sensitivität auf Quecksilber im zweiten Trimenon: Die schwersten Folgen einer intrauterinen Intoxikation mit Methylquecksilber in der Katastrophe im Irak wurden bei Belastungen im zweiten Trimester beobachtet (Marsh et al. 1977). Da dies der kritische Zeitpunkt für die Neuronenmigration ist (Sidman und Rakic 1973), fand man dosisabhängig zum Teil schwerste diffuse Störungen der neuronalen Migration mit folgender Migroenzephalie, Tetraparesen und schweren kognitiven Defiziten (Marsh et al. 1977, Choi et al. 1978).

In der vorliegenden Untersuchung wurden jedoch nur Kinder untersucht, welche nach der Geburt verstorben waren, nicht jedoch Feten. Somit können nur Rückschlüsse auf die zum Zeitpunkt des Todes nachweisbaren Effekte des Quecksilbers auf die Astrozyten gezogen werden. Ob bei einer noch höheren Vulnerabilität der Neurone und Astrozyten vor der Geburt auch ein Effekt auf die reaktive Astrozytose in um eine Zehnerpotenz niedrigeren Dosen als in der vorliegenden Untersuchung nachzuweisen wäre, ist denkbar, kann jedoch (…….)

 

6. Zusammenfassung

 

Während Quecksilber schon seit mehreren Jahrhunderten aus arbeitsmedizinischen Zusammenhängen als neurotoxischer Risikofaktor für beruflich exponierte Personen bekannt war, haben erst die großen Vergiftungsperioden in Minamata und Niigata (Japan) sowie im Irak Quecksilber auch als umweltmedizinischen Risikofaktor für breite Bevölkerungsschichten in das öffentliche Bewusstsein gerückt.

Eine besonders hohe Empfindlichkeit auf Quecksilber scheint dabei das sich entwickelnde, unreife Gehirn zu haben. Schon bei mütterlichen Haarmethylquecksilberdosen von 10 µg/g - bzw. umgerechnet bei kindlichen zerebralen Methylquecksilbermengen von 125 ng/g -

während der Schwangerschaft muss mit ersten negativen Effekten auf die kognitiven Funktionen der Kinder im späteren Leben gerechnet werden. Solche Belastungen mit Methylquecksilber werden vor allem in vorwiegenden Fischesserpopulationen leicht erreicht.

In mitteleuropäischen Breiten liegen die mittleren Quecksilberwerte jedoch in niedrigeren Bereichen, bei Säuglingen wurden mittlere zerebrale Quecksilberwerte von unter 10 ng/g beschrieben. Außerdem ist in unseren Breiten mit einer relativ höheren Belastung durch metallisches Quecksilber aus Amalgamfüllungen zu rechnen, während das organische Quecksilber aus dem Fischverzehr bei uns nur für ca. 30 - 40  der Quecksilberbelastung verantwortlich ist. Für die Toxizität von metallischem Quecksilber fehlen jedoch Angaben von kritischen Dosierungen für das sich entwickelnde Gehirn.

 

Auf schädigende Einflüsse durch bisher alle untersuchten Neurotoxine reagieren die Astrozyten des ZNS mit der Ausbildung einer unspezifischen Schädigungsreaktion, die „reaktive Astrogliose" genannt wird. Dabei kommt es unter anderem zu einer Exprimierung des sauren Gliafaserproteins, GFAP.

Nach bisherigen Erkenntnissen tritt diese Reaktion auf Quecksilber schon in Dosierungen auf, in denen weder ein Neuronenuntergang noch ein negativer Effekt auf die Funktionsproteine von Astrozyten und Neuronen nachzuweisen ist. Somit ist diese Reaktion als sehr sensitiver Marker der sogenannten „non-neuropathic-neurotoxicity" gut geeignet.

 

Ziel dieser Arbeit war es. Hinweise dafür zu finden, ob die in unseren Breiten zu findenden, relativ niedrigen alltäglichen Quecksilberbelastungen einen pathologischen Effekt auf das kindliche Gehirn haben können. Entsprechend des besonderen Risikos des noch nicht vollständig ausgereiften Gehirnes legten wir unser besonderes Augenmerk auf die Quecksilberbelastung innerhalb des ersten Lebensjahrs.

Um eine Antwort auf die Frage nach einem Quecksilbereffekt in der angesprochenen Risikogruppe zu bekommen, führten wir einen Vergleich der Stärke der reaktiven Astrogliose mit der Höhe der Gehirnquecksilberwerte von insgesamt 71 innerhalb der ersten zwei Lebensjahre verstorbenen Säuglingen bzw. Kleinkindern durch. Auf Grund der relativ niedrigen Sterbezahlen im Untersuchungszeitraum bezogen wir sowohl Proben von 13 Fällen aus dem laufenden Sektionsgut der Rechtsmedizin der FU Berlin aus den Jahren 1993 und 1994 sowie von 58 Fällen aus dem laufenden Sektionsgut der Rechtsmedizin der

Universität München aus den Jahren 1989 bis 1994 in unsere Untersuchung ein.

In der untersuchten Altersgruppe ist das Sudden Infant death Syndrome die häufigste Todesursache. Daher wählten wir, der Theorie der pränatalen Schädigung von vegetativen Kontrollzentren bei diesem Krankheitsbild folgend. Kerngebiete in Medulla oblongata und Pons für unsere Untersuchung aus, welche an der Atem- und Kreislaufregulation beteiligt sind.

Für die histologische Bearbeitung wurden bei der Sektion Blöcke aus Medulla oblongata und Pons entnommen und zunächst in 10  Formalin fixiert. Die histologische Bearbeitung beinhaltete die Arbeitsschritte Einbetten von Gewebescheiben in Paraffin, Herstellung von 5 um dicken Praffinschnitten, Auftragen auf Objektträger, Beschichten mit Kaninchen-Anti-GFAP-Antiserum und Färben mittels Avidin-Biotin-Complex. Das histologische Vorgehen bei Berliner und Münchner Proben entsprach sich.

Für die toxikologische Quecksilberbestimmung wurden für die Berliner Proben der Rest der Medulla oblongata sowie Proben aus dem Frontalhirn in geschlossenen Gefäßen aus Polystyrol asserviert und umgehend bei - 60 Grad Celsius tiefgekühlt. Die Quecksilberbestimmung erfolgte im Institut für Rechtsmedizin der Universität München mittels Atomabsorptionsspektrometrie.

Für die Münchener Proben war schon durch Drasch und Mitarbeiter die Quecksilberbestimmung mit derselben Methode vorgenommen worden.

Die quantitative Auswertung der Stärke der Astrogliareaktion erfolgte mit dem Bildanalysesystem Quantimet von Leica. Mittels dieses Bildauswertungssystemes wurden in einer Auswertung die Fläche der reaktiven, mit GFAP-Ak-markierten, Astrozyten im Bereich des Nucleus dorsalis nervus vagus berechnet. In einer zweiten Analyse wurde die Fläche an reaktiven Astrozyten im Bereich der Kerne der medianen Raphe bestimmt.

 

Bei den Berliner Proben ergaben sich für Gesamtquecksilber im Frontalhirn ein Median von 1,03 ng/g Feuchtgewicht sowie in der Medulla oblongata ein Median von 0,65 ng/g Feuchtgewicht.

Bei den Münchner Proben fand sich für Gesamtquecksilber im Frontalhirn ein Median von 3,7 ng/g Feuchtgewicht. Damit zeigten sich die Münchner Gesamtquecksilberwerte im Frontalhirn im U-Test nach Mann-Whitney mit p < 0,01 signifikant höher als die Berliner Gesamtquecksilberwerte im Frontalhirn. Aus diesem Grund konnten die beiden Untergruppen in der Korrelation von Quecksilberhöhe und Stärke der Astrogliose nicht gemeinsam beurteilt werden. Als Ursache der Differenz wird am ehesten ein methodischer Fehler bei der Lagerung der Berliner Proben angenommen.

Entsprechend der Frage nach einem Quecksilbereffekt bzw. der Frage nach einem unteren kritischen Wert für die Quecksilberwirkung im untersuchten Dosisbereich wurde nun die Stärke der reaktiven Astrogliose in den Vergleich gesetzt zu der Quecksilberhöhe bei den einzelnen Proben. Die Instrumentalisierung der Stärke der Astrogliareaktion erfolgte dabei - neben der graphischen Darstellung - durch eine dichotome Trennung in „positive" und „negative" Gliareaktionen mit dem Unterscheidungskriterium: „negativ" bei weniger als 100000 µm2 an Fläche reaktiver Astrozyten und „positiv" bei größer oder gleich 100000 µm2 an Fläche reaktiver Astrozyten.

Dabei zeigte sich für die Münchener Proben ein Anstieg der relativen Häufigkeit der  positiven Astrogliareaktionen in der medianen Raphe ab einem Grenzbereich von 7-9 ng/g Gesamtquecksilber sowohl in der Gesamtgruppe der Fälle als auch bei singulärer Betrachtung nur der SIDS-Fälle.

 

   Entsprechend der Fragestellung wurde dieses Ergebnis im Sinne der Hypothese gedeutet, dass sich ab einem Quecksilberwert von 7-9 ng/g Hg ein beginnender Effekt der Quecksilberwirkung auf die Ausbildung einer reaktiven Astrogliose abzeichnet.

Die Frage, ob dieser Effekt eine statistische Signifikanz zeigt, wurde im zweiten Auswertungsschritt mit dem statistischen Instrument des Fisher-Yates-Test untersucht. Im Fisher-Yates-Test zeigt sich ein signifikanter Unterschied der relativen Häufigkeit an positiven bzw. negativen Astrogliareaktionen oberhalb des vermuteten kritischen Wertes von 8 ng/g Hg im Vergleich zu den Fällen unterhalb des Wertes von 8ng /g Hg.

Dabei fanden sich folgende Signifikanzniveaus:

1. Für alle Münchner Fälle (SIDS und Vergleichsfälle 0-24 Monate Sterbealter) p<0.05 (p=0,015)

2. Für alle Münchner Fälle (SIDS und Vergleichsfälle 0-12 Monate Sterbealter) p<0.01 (p=0,0085)

3. Für alle Münchner SIDS p<0.05 (p-0,0149)

Die Untergruppe München-Vergleichsfälle war für eine statistische Auswertung zu klein, ebenso die Anzahl der Fälle, bei denen im histologischen Schnitt der Nucleus dorsalis nervus vagus getroffen worden war. Dennoch zeigte sich bei der letzten Gruppe in der graphischen Abbildung eine ähnliche Tendenz zu weniger negativen Astrogliareaktionen im Nucleus dorsalis nervus vagus ab einem Grenzbereich von ca. 5-6 ng/g Hg. Allerdings war im Nucleus dorsalis nervus vagus die Stärke der Astrogliareaktion insgesamt um den Faktor 1,5-2 niedriger als im Bereich der medianen Raphe.

Die Bewertung der Gesamtergebnisse erfolgte dahin, dass sich im untersuchten Kollektiv ein Hinweis darauf ergibt, dass ab einem Dosisbereich von 7-9 ng/g Hg im Frontalhirn ein Effekt des Quecksilbers auf die Ausbildung der reaktiven Astrogliose zeigt. Da die vorliegende Arbeit aber die erste unter dieser Fragestellung war und da sowohl Hypothese als auch statistische Bestätigung im selben Kollektiv erfolgte, haben die Ergebnisse explorativen Charakter und sollten in weiteren Studien überprüft werden.

 

Zur klinischen Relevanz ist unter Berücksichtigung der Literatur zu sagen:

Die Mehrzahl der Fälle liegt mit den Quecksilberwerten im Frontalhirn unterhalb der vermuteten kritischen Dosis von etwa 8 ng/g Hg. Einige Fälle zeigen jedoch erste Effekte im Sinne einer reaktiven Astrogliose.

Folgt man in-vitro sowie tierexperimentellen Studien, so findet man funktionelle Einschränkungen in Dosisbereichen, welche mindestens eine Zehnerpotenz höher sind als die Dosierungen, in denen erste Effekte im Sinne einer Astrogliose nachzuweisen sind.

Somit kann die vorliegende Arbeit zwar Hinweise für erste Effekte einer Quecksilberwirkung im untersuchten Dosisbereich liefern. Argumente für zu erwartende

Funktionseinschränkungen können daraus jedoch eher nicht abgeleitet werden.

Noch vorsichtiger sollte die Interpretation hinsichtlich der Rolle von Quecksilber als Teilrisikofaktor für die Entstehung des SIDS vorgenommen werden.

Da in der vorliegenden Arbeit keine Totgeburten untersucht wurden, kann über einen intrauterinen Effekt von Quecksilber keine sichere Aussage getroffen werden. Besonders zu berücksichtigen ist hierbei, dass nach Angaben der Literatur die Empfindlichkeit von unreifen Astrozyten im Vergleich zu reifen Astrozyten um eine Zehnerpotenz höher sein soll.

Dr.Daunderer: Diese Doktorarbeit unseres Famulus wurde von mir angeregt!