Regelwerk

Addendum zur "Stoffmonographie Quecksilber-Referenz- und Human-Biomonitoring-Werte" der Kommission Human-Biomonitoring des Umweltbundesamtes
- Stellungnahme der Kommission Human-Biomonitoring des Umweltbundesamtes -

(Bundesgesundheitsbl. Nr. 11/2009 S. 1228)



Einleitung

Die Kommission hat im Jahre 1999 die "Stoffmonographie Quecksilber-Referenz- und Human-Biomonitoring-Werte" [1] in dieser Zeitschrift publiziert. Bei der Ableitung der Human-Biomonitoring-(HBM)-Werte wurde die Quecksilberassoziierte Akrodynie (Morbus Selter-Swift-Feer, Feersche Krankheit, "pink disease"), die im Kleinkindesalter auftreten kann, nicht berücksichtigt, weil sie als eine heute sehr seltene Erkrankung angesehen wurde [1]. In der neueren medizinischen Literatur finden sich jedoch immer noch Fallbeschreibungen von Akrodynie [2], sodass sich die Kommission veranlasst sah, sich erneut mit den Wirkungen von Quecksilber (Hg) auf den Menschen, insbesondere mit dem Zusammenhang zwischen Quecksilberkonzentrationen in Blut und Urin und dem Auftreten einer Akrodynie bei Kindern zu beschäftigen.

Geschichte der Akrodynie

Die Bezeichnung Akrodynie leitet sich aus dem Griechischen "Schmerz an den Extremitäten", einem typischen Symptom, ab. Selter beschrieb als Erster acht Fälle von Akrodynie zwischen 1898 und 1903 [3]. Lange Zeit wurden infektiöse Ursachen vermutet [4]. Bilderback publizierte 1925 in den USa die erste detaillierte Beschreibung der Erkrankung [5]. Aus Studien in England, Australien und den USa wurde abgeleitet, dass die größte Häufigkeit von Akrodynie in den ersten zwei Lebensjahren mit einem Maximum bei sieben Monaten liegt [6]. Zwischen 1939 und 1948 verstarben in England und Wales 585 Kinder an Akrodynie, davon allein 103 im Jahr 1947 [7, 8]. Die Letalität wurde mit zirka 7 % angegeben, im Bereich zwischen 5,5 bis 33,3 % [4].

Erst nach einem halben Jahrhundert Unkenntnis über die Ätiologie konnten Warkany und Hubbard in einer umfangreichen Studie an 41 Patienten überzeugend nachweisen, dass Akrodynie durch Hg verursacht wird [9]. Kurz darauf zeigte

Logan in einer Übersicht über die Mortalität an Akrodynie in England und Wales, dass im Jahre 1947 eine deutliche Zunahme der Mortalität von 17 auf 29 pro Million zu verzeichnen war; als Ursache vermutete er Hghaltiges Zahnpulver, konnte aber geänderte Diagnosestandards nicht gänzlich ausschließen [10]. Unstrittig blieb aber, dass die Anwendung von Kalomel als Zahnpulver ("sweet mercury") in den angelsächsischen Ländern viele Fälle von Akrodynie verursacht hatte. Die Tatsache, dass nur eines von zirka 500 gleichartig mit Kalomel behandelten Kleinkindern eine Akrodynie entwickelte [11], hatte offenbar die Erkennung des Zusammenhangs zwischen Hg-Exposition und Akrodynie verzögert.

Etwa gleichzeitig hatten Fanconi und Mitarbeiter über 39 Fälle von Akrodynie berichtet bei Kindern, die Kalomel (mel [gr.] Honig) als Wurmmittel "Wurmschokolade" in der Schweiz und in Deutschland (mehrere Einzeldosen zwischen 150 bis 500mg!) erhalten hatten [7, 12]. Die Krankheit trat acht Tage nach Behandlung auf. Eine weitere Übersicht mit 62 Fällen von Akrodynie, die zwischen 1926 und 1958 in der Vanderbuilt-Universitätsklinik diagnostiziert worden waren, gaben Chamberlain und Quillian [13]. Die Anwendung von Kalomel in der Medizin wurde nicht zuletzt auf Grund dieser Befunde-1960 in den US durch die Food and Drug Administration verboten (zitiert nach [7]). Danach sank die Häufigkeit dieser Erkrankung drastisch.

Im Jahre 198o fielen in Buenos Aires drei Kleinkinder mit den Symptomen von Akrodynie und hohen Hg-Ausscheidungen im Urin auf. Als Ursache stellten sich Stoffwindeln heraus, die in Wäschereien mit Phenyl-Hg als Fungizid im letzten Waschgang behandelt worden waren. Es wurde geschätzt, dass zwischen 7000 und 10.000 Kinder über Windeln exponiert worden waren, mit einer Erkrankungshäufigkeit von unter 1/1000 Exponierten. Auffällig war, dass erst nach Verdopplung der Dosis von Phenyl-Hg in den Windeln Fälle von Akrodynie aufgetreten waren [14].

Übersicht 1

Symptome der Akrodynie

Bei Akrodynie treten nicht immer alle der aufgeführten Symptome auf. Dieunterstrichenen

Symptome wurden in den meisten Fällen beschrieben

Psychische, Neurologische, Vegetative Symptomatik

Wesensveränderung (reizbar, mürrisch, weinerlich, depressiv)

Schmerzen (lanzinierend), Schwellungen an Händen und Füßen

Hypotone Muskulatur, Ataxie, Lähmungen

Adynamie, Apathie

Aopetitlosigkeit, Gewichtsabnahme

Somnolenz, Schlafstörung, Schlafumkehr

Lichtscheu, Irritabilität

Hyperhidrosis bei Normaltemperatur

Tachykardie, Hvpertonie, (Labor Vaniilinmandelsäure-U erhöht)

Hyperglykämie

Tremor

Dermale Symptomatik

Exanthem (morbilliform, rubeoliform, skarlatiniform), Pruritus

Symmetrische Verfärbung an den Akren (bläulichrötlich, Akrozyanose",pinkdisease")

Lammelläre Schuppung an Händen und Füßen

Sonstige Symptome

Haarausfall

Hypersalivation, Ging ivitis, Zahnausfall

Akrodynie heute

Die Symptome der Akrodynie sind vielfältig (Übersicht 1). Typische Symptome, die in den meisten Fällen auftreten, sind: Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, schmerzhafte Schwellung und Verfärbung ("pink disease") an Händen und Füßen, Exanthem, Pruritus, Desquamation an Handflächen und Fußsohlen und Hyperhidrosis, Wesensveränderung mit gesteigerter Reizbarkeit und Erregbarkeit, Tachkardie und Hypertonie.

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