Pestizidtests an Menschen
Die US-Umweltbehörde will auf Druck der Chemiekonzerne ein
unter der Clinton-Präsidentschaft erlassenes Moratorium mit einer umstrittenen
Regelung beenden, die auch Tests mit Kindern zulässt.
Zwar wurden einige der schlimmsten Pestizide im Rahmen des
Stockholmer Übereinkommens (1) über persistente
organische Schadstoffe (POPs) verboten, dennoch sind
viele Lebensmittel weiterhin voll mit den Schädlingsgiften, die überall
tonnenweise über die Äcker geschüttet werden und sich verbreiten im Wasser und
in den Böden ausbreiten. Die Belastung der Lebensmittel durch Kombinationen von
Pestiziden steigt weiter an, auch in Deutschland. Neben dem legalen und
illegalen Einsatz von Pestiziden gibt es noch das Problem der gefährlichen
Altpestizide, von denen weltweit Hunderttausende von Tonnen, meist schlecht
oder gar nicht gesichert, als Giftmüll vorhanden sind. Pestizide sammeln sich
im menschlichen Körper an und können zahlreiche Krankheiten mit verursachen,
vor allem bei Kindern. Um herauszufinden, welche Mengen für den Menschen
riskant werden können, werden diese nicht nur an Tieren getestet, sondern auch
an Menschen, die damit zum Versuchskaninchen der Chemieindustrie werden.
Wie Frontal21 im Mai des letzten Jahres berichtete (2),
hatte der Chemiekonzern Bayer über eine Privatklinik das Pestizid Azinphosmethyl an Menschen über 18 Jahren in Schottland
testen lassen. Sie wurden über Zeitungsannoncen gesucht und erhielten 700 Euro
für ein paar Tage im Krankenhaus, um herausfinden, wann das in Kapseln
eingenommene Pestizid zu wirken beginnt.
Menschenversuche werden nach Recherchen von Frontal21 bei
Pestizidherstellern immer beliebter. Im Auftrag von Bayer etwa wurde
Versuchspersonen in Holland ein radioaktiv versetztes Insektizid auf die Haut
aufgetragen. Andere Versuchspersonen inhalierten das Insektizid Cyfluthrin - es findet sich etwa in dem Insektenspray Blattanex von Bayer.
Frontal21
Letztes Jahr wurde bekannt, dass der Lobbyverband der
chemischen Industrie in den USA, der American Chemistry
Council (3) (ACC) einen Test der US-Umweltbehörde EPA
(4) mit 2 Millionen Dollar unterstützen wollte. Bei dieser sogenannten
CHEERS-Studie sollten die Pestizidwerte von Kindern
in 60 Haushalten in Florida gemessen werden, in denen besonders viele Pestizide
verwendet werden. Für den zweijährigen Versuch sollten die Eltern auch das
Verhalten der Kinder mit Video aufnehmen, nachdem diese Pestizide aufgenommen
hatten. Als Entschädigung sollten die Eltern 970 Dollar, die Videokamera,
Kleidung und andere Kleinigkeiten erhalten. Mit den Ergebnissen sollten
gesundheitliche Richtlinien erarbeitet werden.
Nach heftiger Kritik (5), die vor allem darauf zielte, dass
ärmere
Die Umweltbehörde akzeptiert nach heftigen Diskussionen seit
1998 keine von der Industrie finanzierten Forschungsergebnisse mit Versuchen an
Menschen mehr. Die Vorteile solcher Tests an Menschen sind, dass keine Versuche
an Tieren notwendig sind und die Einschätzung des Risikopotenzials genauer ist.
Bei Tierversuchen muss berücksichtigt werden, dass diese weniger empfindlich
für bestimmte Pestizide sein könnten. Der Sinn der Tests an Menschen für die
Industrie ist einerseits Kostenersparnis und andererseits die Chance, die
Grenzwerte hochsetzen zu können. Gegen die
Entscheidung, Tests an Menschen nicht mehr zur Beurteilung zuzulassen, hatten
die Pestizidhersteller 2002 Beschwerde eingelegt, nachdem die Umweltbehörde
unter der neuen Bush-Regierung bereits an die National Academy
of Sciences gewandt hatte, um das Verbot wieder zu
lockern. Das Berufungsgericht entschied 2003, die EPA dürfe nur dann Ergebnisse
der von der Industrie finanzierten Forschung zurückweisen, wenn sie für
Versuche an Menschen klare Richtlinien vorgibt. Eine solche Richtlinie hat nun
die EPA im September im Kontext von Pestizid-Tests veröffentlicht. Nach einer
dreimonatigen Frist zur Kommentierung tritt die Regelung in Kraft.
Bei "vernachlässigten und missbrauchten" oder
geistig behinderten Kindern ist eine Zustimmung auch der Erziehungsberechtigten
nicht erforderlich
Die Regelung (8) ist ein typisches Produkt von Orwellschem Neusprech, heute würde man sagen: von Spin-Doktoren, die
mit Sprache verschleiern, um was es geht. Der Titel der Regelung heißt schon
einmal: "Protections for
Subjects in Human Research". Zudem wird betont,
dass es hier um ein "striktes Verbot von absichtlichen Pestizidtests an
Menschen" geht, wenn es sich dabei um "schwangere Frauen oder
Kinder" handelt, sie würden auch besser geschützt, wenn es um andere Tests
geht, bei denen sie nicht absichtlich Pestiziden ausgesetzt werden.
Absichtliche Aussetzung bedeutet, dass die Versuchspersonen nur im Rahmen des
Versuchs mit den Pestiziden in Kontakt kommen. Zudem würde der Schutz aller
Versuchspersonen für Tests gestärkt, die von Unternehmen finanziert und von der
EPA anerkannt werden. Um das zu überprüfen, müssen vor dem Test Informationen
über diesen eingereicht werden. Zudem würde ein unabhängiger Human Studies Review Board zur
Begutachtung der Tests an Menschen eingerichtet.
Was eigentlich erst einmal ziemlich eindeutig klingt,
erweist sich dann doch eher als Regelwerk zur Öffnung von Ausnahmen für das
angeblich strikte Verbot, Tests an schwangeren Frauen und Kindern
durchzuführen. Dabei werden Schutzmaßnahmen, die ansonsten für die medizinische
Forschung vorgeschrieben sind, weit unterlaufen. So heißt es beispielsweise,
dass der Independent Review Board (IRB) bei Kindern
(unter 18 Jahren) überprüfen muss, ob die Zustimmung dieser zu den Tests
erfolgt ist. Wenn aber "die Fähigkeit einiger oder aller Kinder so
beschränkt ist, dass sie nicht vernünftig befragen kann … so ist die Zustimmung
der Kinder nicht zwingend für die Fortführung der Forschung." Doch selbst
bei Kindern, die ihre Zustimmung geben könnten, wären Ausnahmen möglich.
Zustimmen müssten auch die Erziehungsberechtigten. Bei Eltern würde es auch
reichen, wenn nur ein Elternteil zustimmt.
Es sind aber noch weitere Ausnahmen vorgesehen. So sollen
Tests an Kindern oder Menschengruppen erlaubt sein, für die die Zustimmung der
Eltern oder des Vormunds keine "vernünftige Anforderung für den Schutz der
Versuchspersonen" darstellen. Als Beispiele werden "vernachlässigte
oder missbrauchte Kinder" genannt. Vorgesehen ist auch, dass die Regeln
für Tests, die außerhalb der USA durchgeführt werden, teilweise oder ganz
ausgesetzt werden können. Danach können die Chemiekonzerne ihre Tests im
Ausland durchführen lassen, wo es keine oder kaum Schutzmaßnahmen gibt. Die
Ergebnisse würden dennoch anerkannt werden. Und wenn es sich um
wissenschaftlich gültige, aber ethisch nicht korrekte Tests (ethically deficient) handelt,
können diese herangezogen, wenn die Umweltbehörde damit ihren Aufgaben
nachkommen und beispielsweise Grenzwerte festlegen kann. Man würde dies auch
gerne dann zulassen, wenn dabei schwangere Frauen und Kinder absichtlich
Pestiziden ausgesetzt wurden.
Links
(1) http://www.pops.int/
(2) http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/11/0,1872,2125355,00.html
(3) http://www.americanchemistry.com/s_acc/index.asp
(4) http://www.epa.gov/
(5)
http://www.wired.com/news/politics/0,1283,67180,00.html?tw=wn_tophead_3
(6)
http://www.sfgate.com/cgi-bin/article.cgi?f=/n/a/2005/07/28/national/w154803D03.DTL
(7)
http://yosemite1.epa.gov/opa/admpress.nsf/b1ab9f485b098972852562e7004dc686/e1902d8a6561c7ba85257075004f4f4c!OpenDocument
(8) http://www.epa.gov/fedrgstr/EPA-GENERAL/2005/September/Day-12/g18010.htm
(Quelle: Telepolis Artikel-URL: [url]http://www.telepolis.de/r4/artikel/21/21389/1.html[/url])
Florian Rötzer 19.11.2005