Nothilfe
muss man kennen
Odyssee mit
fünfjähriger Tochter nach Unfall!
Es ist ein Samstag im Juni
2007, 16.15 Uhr. Ich befinde mich mit meinen Kindern auf einem Spielplatz. Es
wird gespielt, gelacht, getobt und geturnt. Doch durch einen markerschütternden
Schrei meiner kleinen Tochter, fünf Jahre alt, wird die Idylle jäh zerstört.
Sie hat auf etwa 50 cm hohen Holzblöcken balanciert und ist dabei ausgerutscht.
Ungebremst landet sie mit dem Bauch auf dem Holzpflock. Abfangen konnte sie
sich nicht, denn die kleinen Arme und Beine sind einfach zu kurz. Sie schreit,
wie ich es noch nie von ihr gehört habe und lässt sich nicht beruhigen. Die
Prell- und Schürfmarke des etwa zehn Zentimeter großen Durchmessers des
Holzpflocks zeichnet sich deutlich auf der Bauchdecke ab. Wir entscheiden uns,
unverzüglich in das Krankenhaus A in der Nachbarstadt zu fahren, denn dort gibt
es auch eine Kinderstation. Und nun beginnt eine unfassbare Odyssee. Im
Krankenhaus A angekommen, widmen wir uns zunächst den bürokratischen
Notwendigkeiten. Meine Tochter hat sich etwas beruhigt. Sie wirkt aber
geschockt, teilnahmslos und von den Ereignissen überfordert. Die
Notfallambulanz hat viel zu tun. Wir nehmen im Wartebereich Platz und hoffen,
dass möglichst schnell ein Arzt wenigstens einen kurzen Blick auf meine Tochter
wirft: eine erste Begutachtung, ob innere Organe verletzt wurden - einfach, ob
was Schlimmeres passiert ist. Eine Stunde später ist noch nichts passiert. Wir sorgen uns, gehen aber davon aus, dass
alles seine Richtigkeit hat. Andere Patienten wollen auch behandelt werden.
Notfälle werden bestimmt korrekt priorisiert.
Nach zwei Stunden werden
wir desillusioniert: Man teilt uns mit, dass ein Notfall reingekommen sei und
die Ärzte sich darum kümmern müssten. Bei den Anwesenden gebe es ja
offensichtlich keine Notfälle. Wer nicht noch weitere zwei bis drei Stunden
warten wolle, solle ein umliegendes Krankenhaus aufsuchen. Unfassbar! Bis zu
diesem Zeitpunkt hat noch niemand nach meiner Tochter geschaut. Woher nimmt der
Mitteiler die Erkenntnis, dass hier keine Notfälle anwesend sind? Wir sind
verzweifelt. Was nun?
Die nächste Idee: Ich rufe
die Rettungsleitstelle an. Die können mir bestimmt sagen, was ich jetzt machen
soll. Hier ist man zunächst auch überrascht oder besser gesagt verwundert
darüber, dass Krankenhaus uns unbehandelt weitergeschickt hat. Wir sollen zur
Ärztlichen Notdienstzentrale kommen. Dort werde ein Arzt meine Tochter
untersuchen. Aber auch hier ist viel los. Bei der Anmeldung erhalte ich die
Auskunft, dass ich noch ein bisschen warten müsse – und den Hinweis, dass man
hier gar nicht die Instrumente und Geräte habe, um meine Tochter gründlich
untersuchen zu können. Uns wird empfohlen, das nächstgrößere Krankenhaus B
anzufahren. Meine Tochter ist vor knapp drei Stunden schwer gestürzt, und bis
jetzt kann mir noch niemand sagen, ob sie ernstlich verletzt ist!
Ein Hoffnungsschimmer:
Nach nur eineinhalbminütiger Wartezeit im Krankenhaus B werden wir in den
Untersuchungsraum für den Ultraschall geführt. Doch hier müssen wir wieder eine
halbe Stunde warten. Es ist gerade ein Notfall angekommen: ein akuter Asthmaanfall.
Dann kommt ein Arzt und untersucht endlich per Ultraschall den Bauchraum meiner
Tochter. Die ist mittlerweile völlig irritiert. Das Untersuchungsergebnis ist
für uns sehr besorgniserregend: Der Arzt erkennt "eine unklare
Flüssigkeit" an einer Niere, die er nicht deuten kann. nun kommt aber für
mich absolut unverständlich noch hinzu, dass der Arzt mir erklärt, dass er
normalerweise nur Erwachsene untersuche und sich bei den kleinen Organen der
Kinder nicht so auskenne. Sicherheitshalber (?!) sollen wir die nächstgelegene
Kinderklinik anfahren - sofort.
Also doch - es ist das eingetreten,
was wir befürchtet hatten. Ich als medizinischer Laie schließe aus der
Tatsache, dass eine Flüssigkeit im Bauchraum meiner Tochter festgestellt wurde,
dass etwas Schlimmeres passiert ist. Warum sollten wir sonst unverzüglich zur
Uniklinik fahren? Angst und Sorge nehmen zu. Der behandelnde Arzt schickt uns
zunächst aber noch einmal zurück in den Warteraum der Unfallambulanz. Hier
eröffnet uns eine Krankenschwester, dass für die Uniklinik erst noch ein
Arztbrief geschrieben werden müsse. Das werde aber noch "etwas
dauern", weil die Ärztin anderweitig auf der Intensivstation beschäftigt
sei. Das ist zu viel! Meine Tochter ist vor fast fünf Stunden gestürzt und der
Ultraschall zeigt eine unklare Flüssigkeit an der Niere. Ich bringe der
Krankenschwester gegenüber sehr deutlich mein Unverständnis darüber zum
Ausdruck. Ich werde hier keine Minute länger auf einen Arztbrief warten.
Nach kurzer Diskussion mit
der Krankenschwester über für mich banale Formalitäten fahren wir ohne
Arztbrief zurück in die Uniklinik. Dort kommen wir gegen 22.00 Uhr an. An der
Anmeldung erklären wir die Situation, werden aber trotzdem nicht mit
Anmeldeformalitäten verschont. In der Notaufnahme der Kinderklinik warten
bereits drei Kinder. Aber nachdem wir der diensthabenden Krankenschwester den
Sachverhalt und unsere Sorge erklären, kommen wir zügig dran. Erstmals an
diesem Nachmittag oder Abend fühlen wir uns gut aufgehoben.
Um 22.30 Uhr wird von
einem Facharzt der Ultraschall gemacht. Mit dem Nervenkostüm ist es nicht mehr
zum Besten bestellt, und in großer Sorge warten wir auf das Ergebnis der
Untersuchung. Aber wir können aufatmen. Der Arzt im Krankenhaus B hat etwas
falsch gedeutet. Es sind keine inneren Organe verletzt. Außer der
oberflächlichen Abschürfung und der Prellung der Bauchdecke ist nichts
Schlimmeres passiert und wir können beruhigt nach Hause fahren. Als wir mit
unserer im Auto eingeschlafenen Tochter zu Hause ankommen, ist es 0.15 Uhr.
In meinen Ausführungen
habe ich bewusst keine Daten oder Namen eingebracht, weil ich niemanden
denunzieren will. Eine medizinische Beurteilung des Dilemmas liegt mir fern.
Nein, ich möchte ausschließlich um Verständnis für besorgte Eltern bitten und
mein Unverständnis über sechs Stunden banger Ungewissheit zum Ausdruck bringen.
Ärztinnen und Ärzte, die sich angesprochen fühlen, aber auch
Krankenhausleitungen und Politiker, sollten ihr Möglichstes tun, um medizinische
Notfallodysseen, wie die hier geschilderte, zum Einzelfall werden zu lassen.
Die kinderärztliche Notfallversorgung scheint mir in vielen Regionen nicht
(mehr) optimal geregelt zu sein.
- Ein besorgter Vater (DÄ
22.2.08,375).