Erbkrankheiten vermeintliche führten zur Euthanasie

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Der Nachholbedarf ist groß: Laut der Berliner Umfrage weiß kaum ein Medizinstudent, dass sich die deutsche Ärzteschaft weit mehr als die Durchschnittsbevölkerung nationalsozialistisch organisiert hatte. Leicht entsteht der Eindruck, die medizinischen Verbrechen im Nationalsozialismus seien nur von einigen wenigen gewissenlosen Ärzten begangen worden, die sich von der NS-Ideologie verführen hatten lassen. Dabei wurde Hitlers Machtergreifung von vielen freudig begrüßt: 45% aller Ärzte traten nach 1933 in die NSDAP ein. Im gleichen Jahr gingen die beiden größten ärztlichen Standesorganisationen, der Hartmannbund und der Deutsche Ärztevereinsbund, mit dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund (NSDÄB) ein Bündnis ein. "Viele deutsche Ärzte haben sich im Ersten Weltkrieg bereits an energisches ,Durchgreifen' und Missachtung der Patientenrechte gewöhnt, schon lange vor 1933 den späteren nationalsozialistischen Herrschern bereitwillig, ja begeistert angedient", schreibt der Arzt und Medizinhistoriker Till Bastian in seinem Buch "Furchtbare Ärzte".

Zwar gab es einige, die sich im Widerstand gegen Hitler engagierten und dafür mit dem Leben bezahlten: Hans Scholl und andere Mitglieder der Münchner Widerstandsgruppe "Weiße Rose" studierten Medizin, auch im Hamburger Widerstand beteiligten sich Ärzte. Dennoch schlossen sich nur ein paar Dutzend organisierten Gruppen an. Öffentlichen Widerstand leisteten Mediziner jedoch nur in Ausnahmefällen. Viele unterstützten das Nazi-Regime bis zuletzt und gaben nach dem Krieg vor, immer schon dagegen gewesen zu sein - wie zum Beispiel der berühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch. Der Chefarzt der Berliner Charité protestierte im privaten Kreis gegen Euthanasie und Antisemitismus, zählte jedoch Hitler und Goebbels zu seinen Patienten und stellte sich dem System als Generalarzt der Wehrmacht zur Verfügung.

Ein Grundpfeiler der nationalsozialistischen Ideologie - die Rassenhygiene - wurde von deutschen Ärzten aus den Ideen des Sozialdarwinismus (survival of the fittest) und der Eugenik mit- und weiterentwickelt. Das Ziel der Rassenhygiene war die "Erhaltung und Fortpflanzung der biologischen Rasse unter den günstigsten Bedingungen", die "Verbesserung" des Volksbestands durch die Mittel der "Auslese" und "Ausmerze". Rassenhygiene wurde Pflichtfach an den Universitäten, Fächer wie Eugenik und Wehrmedizin ersetzten traditionelle Gebiete wie Infektionslehre und Physiologie. Dazu wurde das in der Nazi-Zeit äußerst beliebte Medizinstudium - Medizinstudenten mussten nicht als Soldaten an der Front kämpfen - wegen des hohen Ärztebedarfs in den Kriegsgebieten immer stärker auf schließlich vier Jahre verkürzt. Dieses System brachte schlecht ausgebildeten Nachwuchs hervor: Plötzlich sollten die Jungärzte verletzte Soldaten operieren, obwohl ihnen Grundkenntnisse im Fach Chirurgie fehlten. Dafür kannten sie sich in "Erbbiologie" bestens aus.

Auch viele Ärzte, die schon vor der Machtübernahme praktiziert hatten, übernahmen diese Ideologien kritiklos. 1934 trat das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Kraft. Darin wurde die Zwangssterilisierung von Menschen mit Schwachsinn, Schizophrenie, Fallsucht, erblicher Blindheit und Taubheit, körperlichen Missbildungen oder schwerem Alkoholismus beschlossen. Etwa 350.000 Menschen wurden unfruchtbar gemacht - von ganz normalen Medizinern an ganz normalen Krankenhäusern wie der I. Universitätsfrauenklinik München: 1.345 Frauen wurden dort zwangssterilisiert. Auch am Massenmord an behinderten und geisteskranken Männern und Frauen beteiligten sich "ganz normale Ärzte".

Ärzte im Dritten Reich

Weiße Kittel mit braunen Kragen