1976 Massenvergiftungen durch sorglosen Umgang mit Giften
Bei zahlreichen
Massenvergiftungen fanden sich immer wieder die gleichen Verhaltensweisen bei
Verursachern und Betroffenen.
-In der Toni Pfülf Grundschule wollte ein Kindergarten Schwimmen gehen.
Der Bademeister hatte die Chlorkonzentration verwechselt. Chlorgaswolken zogen
durch die Umkleideräume. Der vorausgehenden Klasse von Mädchen wurde es übel,
sie waren erregt, eine fiel um. Es wurde als typische Hysterie von Mädchen abgetan.
Die Kindergartenkinder reagierten anders auf die Giftgaswolken: sie wurden
apathisch und husteten viel und heftiger als die Älteren.
Die
Kindergärtnerinnen schlugen auch wegen des beißenden Geruchs Alarm. Die Kinder
wurden von mir im Giftbus der Feuerwehr mit Dexamethason- Spray behandelt,
untersucht und nach Stunden zu ihren Eltern heimgefahren.
- An der
Streitfeldstraße hatte ein betrunkener Chemiefahrer in den Kellertank mit Säure
eine Lauge gefüllt, weil er die Einfüllstutzen verwechselte. Eine Chlorgas Nietrosegaswolke
breitete sich aus.
Da man meinte, drei
Lehrlinge seien eingeschlossen, kam es zu einer großen Feuerwehraktion. Über 50
Firmenangehörige drängten sich dicht als Zuschauer. Sie wurden von der
ausdringenden Giftgaswolke vergiftet, drei von ihnen sogar schwer. In der
Anfangshektik hatte niemand Zeit für die Schaulustigen.
-In einer
Berufsschule hatten die Imbissverkäufer die Laibe Leberkäse bis 6 Monate (!)
lang hinten im Kühlschrank stehen und jeweils die vorderen verkauft. Als sie die
alten verkauften, mussten sich die Schüler kurze Zeit darauf erbrechen. Als
nach der Pause 2 Schüler sich beim Direktorat deswegen krank meldeten, wurden
sie als Simulanten abgewiesen. Erst als auch ein Lehrer, der mitgegessen hatte,
erkrankte, wurde die Sache aufgerollt. Ausgerückt an den Unfallort wurde von
mir auch eine angebissene Semmel aus einem Abfallkorb zur Untersuchung
mitgenommen. Hämisch äußerte darauf der Lieferant des Leberkäse, nachdem er die
verdorbene Semmel aus dem Behandlungsraum geklaut hatte: "Was machen Sie
jetzt, wenn Sie den Verursacher nicht mehr haben?" Ich ließ von allen das
Erbrochene untersuchen und bei allen fand man die gleichen Bakterien des
verdorbenen Essens im Mageninhalt.
- Dramatisch wurde es
nach dem Anruf des Feuerwehrarztes Dr. Nardy
von Regenstauf, der
vom Giftnotruf wissen wollte, wie man Nitrose
Gase im Blut
nachweist. Zahlreiche Feuerwehrleute seien durch Löschwasser, das nach einem
Scheunenbrand in das Düngemittellager
einbrach, schwer
damit vergiftet. Ich riet ihm alle, die damit Kontakt hatten, vorsorglich mit Dexamethason-
Spray zu versorgen, damit er keine Spättodesfälle riskiert. Ich bot ihm die
Vorräte
der Toxikologie an.
Nachts kam dann der Rückruf, er brauche jetzt
Medikamente und
Personal, denn er habe den Katastrophenfall ausrufen lassen und alle Autofahrer,
die am ganzen Freitag an diesem Brand vorbeifuhren an seinen Ort
zurückbeordert. Von den geschätzten 18.000 standen schon 4.000 vor seiner Türe.
Ich rückte mit beiden Giftbussen der Berufsfeuerwehr aus. Bei meiner Ankunft
standen schon mehrere Tausend frierende, erbost Wartende vor der Tür. Ich
entwarf ein Informations- und Behandlungsblatt, ließ es eilig vervielfältigen,
informierte mit Megaphon die Wartenden, beriet den Katastropheneinsatzstab, alarmierte
die Bundeswehr mit der Bitte um Ärzte und weitere Dexamethason- Sprays und
informierte die Presse ohne auf die Hintergründe einzugehen. Zum Glück kamen
nur 4500 zur Behandlung. Die wirklich bedrohten Feuerwehrleute waren vorher
schon längst korrekt behandelt Aber
lustige Details waren zu beobachten, wie das Landen eines Hubschraubers mit
Ärzten, die aufgeregt fragten "wo die E 605-Vergifteten seien und was sie
machen sollten". Sie waren zum Teil von Operationen aus dem OP
geholt worden. Ich
beruhigte sie, schickte sie zur "Gulasch-
Kanone" und
schickte sie dann heim, denn zwei Bundeswehrärzte hatten jeweils in den
Giftbussen nach exakter Einweisung die Sache fest im Griff. Die Unterteilung in
Männer und Frauen zum Abhören
der Lunge hatte sich
prima bewährt.
- Wirklich schlimm
war aber der Fall in München Ismaning. Ein Wochenenddienst Arzt rief am
Giftnotruf an, er und seine
Familie seien auch
schwer krank, er habe nachts 50 Hausbesuche bei
Schwerkranken
gemacht. Alle hätten nach Eislutschen Durchfälle und hohes Fieber. Er denke an
Ruhr. Wir waren zwar nicht zuständig, aber niemand helfe ihm, denn es war ein
langes Wochenende vor dem
ersten Mai. Die
Antibiotika seien im weiten Umkreis vergriffen. Ich empfahl ihm, jeweils
Stuhlröhrchen und Kohle auszugeben. Er bat flehentlich um Hilfe. Ich rückte mit
beiden Giftbussen aus und
verständigte alle
Behörden per Funk. Der Leiter des Rettungsdienstes, Herr Seuß, übernahm vor Ort
die Aufstellung und Adressübermittlung von Notarzt-Teams. Der damalige Rot Kreuz
Arzt und spätere Justitiar der Ärztekammer, Herr Kollege F., übernahm auf mein
Geheiß ein Team.
Als ich hörte, dass
im Altenheim und im Säuglingsheim ebenfalls Schwerkranke mit den gleichen
Erscheinungen lagen, vermutete ich als Quelle das Trinkwasser. Dann fiel das
Telefon des Dienstarztes, die einzige Kontaktstelle für Kranke aus. Die
Bundespost sah keine Möglichkeit zur Hilfe. Da bat ich per Funk über den Chef
der Feuerwehr den technischen ABC-Zug um Hilfe. Sie kamen sofort mit einer
Wagenkolonne. Einer stieg aus, ging in die Arztpraxis, klemmte das defekte
Nebentelefon ab und kam nach 5 Minuten freudestrahlend zu mir. Alles klappte
wieder.
Mein Vater sagte
immer, derjenige ist der beste Arzt, der weiß, wer was am besten kann.
Der Chef des Gesundheitsamtes
und der Chef des staatlich chemischen Untersuchungsamtes für die Stuhlproben
waren im langen Wochenende fort. Die Polizei suchte sie vergeblich.
Da holte ich den Chef
der Infektionsabteilung, Dr. Holzer,
Krankenhaus Schwabing an den Unfallort. Er sagte zu, binnen weniger
Stunden 200 der Schwerkranken in sein Haus aufzunehmen. Er glaubte nicht an
eine Ruhr. Nachts kamen die gesuchten Chefs dazu, alle diskutierten lebhaft.
Die Ärzte versorgten pausenlos hunderte von Bettlägerigen zuhause. Das Klinikum
rechts der Isar lieferte aus Katastrophenvorräten tausende Kohlekompretten.
Morgens kam nun das
erste Ergebnis der Bakteriologie: Shigella sonnei crusei, die Ruhr. Jetzt musste
es das Trinkwasser sein. Ich verlangte eine umfassende Information der Bevölkerung
über Radio und Lautsprecher. Es wurde der Katastrophenfall ausgerufen. Ich
richtete in der Schule das Hauptquartier ein, bestellte von einer
Arzneimittelfirma
Antibiotika, ließ Alkohol zur Desinfektion von unserer Klinikapotheke abfüllen,
organisierte Informations- und Arzneiabgabe in der Bevölkerung und informierte
laufend die Wartenden über Megaphon. Der Landrat, der Bürgermeister, die
Feuerwehr, der ABC Zug, alle waren enorm hilfsbereit. Die Feuerwehr stellte
Container mit Trinkwasser und die Verpflegung der über 300 Helfer sicher. Dann
kam die Bestätigung: Ruhr im Trinkwasser. Herr München- grub sich eine Toilette
am Wasserturm und brachte aus Israel die Ruhr mit.
Zuletzt verständigte ich meinen Chef zur Übernahme als Leitender
Notarzt. Bis dahin
hatte er seinen 50. Geburtstag gefeiert. Seine Frau sagte: "das war sein
schönstes Geburtstagsgeschenk".
- Die größte
Massenvergiftung in München nach dem Kriege kündigte sich in mehreren
Telefonanrufen verschiedener Großfirmen an, in denen gleichlautend geschildert
wurde, dass etwa 30 Minuten nach dem Verzehr von Schaschlik in Rahmsoße alle
gleichzeitig zur Toilette rasten. Der erste hatte Glück, die anderen mussten sich erbrechen und machten oft gleichzeitig
mit Durchfall in die Hose. Ich ließ die Großküche ermitteln, sie war in
Fürstenfeldbruck.
Sie erklärte, 5500
Essen ausgeliefert zu haben und befürchtete, dass die Eier der Soße
möglicherweise verdorben waren. Aufgrund der schnellen Symptomatik und dann
auch im bakteriologischen Nachweis war klar, dass es sich um Staphylokokken,
d.h. Eitererreger in der Soße handelte.
Ich ließ alle
Münchner Kliniken verständigen, schickte beide Giftbusse an die Einrichtungen
mit den meisten Schwerkranken, zu den drei leichteren schickte ich informierte
Notärzte. Erkrankte bekamen Kohle, Schwerkranke Kochsalzinfusionen. Die ersten
50
Patienten schickten
wir in Kliniken weit vor München. Die Krankenhäuser baten wir, Betten leer zu
machen. Auf der Theresienwiese, dem Oktoberfestplatz, planten wir ein
Notlazarett der Bundeswehr. aufzustellen. Das benötigte aber sehr lange Zeit.
Nur 220 Schwerkranke
(Alte, Schwangere) mussten in Kliniken
aufgenommen werden, der Rest durfte nach Kohlegabe wieder heim.
Alles verlief
glimpflich, da alle Betroffenen rechtzeitig behandelt wurden. Viertelstündlich
erfolgten Rundfunkmeldungen.
- Der toxikologische
Notarztdienst Ambulanz München wurde vom Gesundheitsamt nach Aichach geholt um
Dutzende Patienten mit den Katastrophenvorräten DMPS zu spritzen. Zahlreiche
Anlieger einer arsenhaltigen Sondermülldeponie, die von einem Fluss
ausgewaschen wurde, waren chronisch damit vergiftet.
Auf Anforderung eines
Hautarztes wurden dann über 120 Bewohner des unmittelbar neben der Deponie
gelegenen Ortes Gallenbach mit dem Gegengift behandelt. Er hatte alle Patienten
mit arsentypischen Veränderungen sie Warzen zusammengefasst.
Danach wurde die
Arsenquelle beseitigt.
- Zum Beistand eines
Arztes in Bergisch Gladbach musste der
toxikologische Notarztdienst Ambulanz München zur Erkennung und Behandlung von
chronischen Vergiftungen einer bebauten Sondermülldeponie ausrücken. Die
Ergebnisse führten dazu, dass die Stadt entgegen ihren jahrelangen Beschlüssen
die Häuser rückkauften und die Wohnsiedlung verwaiste. Obwohl die Bewohner
dadurch schlagartig gesund wurden, verweigerten die Krankenkassen die
Bezahlung, als ob sie mit der Genesung nicht einverstanden wären.
- Der toxikologische
Notarztdienst Ambulanz München wurde auf den Flughafen gerufen, als eine
Maschine mit 220 schwer vergifteten Urlaubern aus Sri Lanka landete. Schnell
stellte ich auf dem Flugfeld fest, dass die Mayonnaise im Mittagsessen die Ursache
einer Massenvergiftung mit Staphylokokken war. Allein mit meinen
Rettungssanitätern und ihrem Chef versorgte ich alle Passagiere. Bis auf wenige,
die ins Krankenhaus mussten, konnten alle nach Trinken einer Kohlelösung
beschwerdefrei nach Düsseldorf heimfliegen.
- Eine Anliegerin der
Formaldehyd-Produktionsanlage der Spanplatten-
Fabrik Pfleiderer in
Bad Tölz litt unter schwersten Nervenausfällen, die bis zur Schlaganfall
Symptomatik führten. Sie hatte extrem hohe Ameisensäurewerte, das Abbauprodukt
von Formaldehyd, wenn die Nervenstörungen am höchsten waren. Viele Anlieger
litten an ähnlichen Vergiftungszeichen, ein Bub an Asthma, wenn es stank.
Der Notarztdienst
rückte an einem belasteten Tag aus. Beim Eintreffen vor Ort stellte die schuldbewusste
Firma sofort ihre
Anlage ab. 50 Bewohner wurden untersucht. Sie hoben den Gifturin erst dann auf,
als es aus der Firma stank nämlich gleich nach Abrücken des Notarztteams. Bei
allen Kranken wurden wieder extrem hohe Giftwerte gefunden. Die höchsten Werte
hatte der asthmakranke Bub. Weil die Werte so hoch waren, glaubten die Gegner
an Laborfehler.
In Wirklichkeit waren
es typische Werte von extrem durch Gift geschädigten Leuten, da täglich dort
40.000 Liter Formaldehyd verdunsteten.
Die Firma Pfleiderer
stellte eine Betrugsanzeige gegen den Notarzt dienst, weil dieser den Einsatz
nur gefahren hätte, um Geld zu
verdienen. Es wurde
jedoch kein Pfennig dafür gezahlt. Das Strafverfahren wurde wegen erwiesener
Unschuld gegen den Notarztunternehmer eingestellt. Ich erhielt vom Ärzteverband
eine Disziplinarstrafe von 8000.-DM, da ich als Notarzt angeblich nicht zu
Vergifteten außerhalb der Stadt hätte fahren dürfen. Als toxikologischer
Notarzt der Berufsfeuerwehr München durfte ich es jedoch vorher oft und nachher
auch noch (Brand in Aalen).
Die Firma Pfleiderer
stellte die 20 Jahre alte Formaldehydanlage ein, als die Regierung Formaldehyd- Meßststellen im Ort
einrichten wollte; das Gebäude steht seither leer.
Die Wahrheit siegt:
Diese Erfolge werden von
mir besser als ein Verdienstorden empfunden.
(Auszug aus meiner neuen Biografie)