MCS Fall Die ständige Flucht vor der Chemie

 

Lenzerheide Der Döttinger Christian Schifferle leidet unter dem MCS-Syndrom - im Wohnwagen in den Bündner Bergen führt er einen permanenten Überlebenskampf, ignoriert von der Gesellschaft.

 

Frank Reiser

 

Haarspray, Pestizide, Parfüm, Putzmittel, Waschmittel, Lösungsmittel, Medikamente - für gesunde Menschen sind dies alltägliche Gebrauchsmittel. Nicht so für den gebürtigen Döttinger Christian Schifferle. Diese Stoffe machen ihn krank, schwer krank. Er leidet unter der Multiplen Chemikalien Sensitivität

(MCS) und lebt deshalb seit sieben Jahren im Wohnwagen auf der Lenzerheide.

 

Christian Schifferles Wohnwagen steht gleich hinter der Einfahrt zum Campingplatz Gravas auf der Lenzerheide. Nebenan ist das wilde Rauschen des Bergbachs Aua da Sanaspans zu vernehmen, links und rechts erheben sich die Berge des Bündnerlands. Die Szenerie hat etwas Idyllisches. Doch für den in Döttingen aufgewachsenen Schifferle ist die Situation alles andere als idyllisch. «Ich lebe nicht freiwillig hier», sagt er. «Vor sieben Jahren kam ich notfallmässig hierher und dachte, ich würde nur vorübergehend hier- bleiben.»

 

Schlafen im Auto und im WC

 

Was war geschehen? Damals lebte Christian Schifferle in Zürich in einer Sozialwohnung in einem 40-Familienhaus. «Unter mir wohnte eine Kettenraucherin, die zudem ihre Wohnung mit Sprays beduftete. Überall waren Duftstoffe. Aus vielen Wohnungen kamen Waschmitteldämpfe und Duftstoffe. Ich hatte keine Minute mehr gute Luft.» Im Wohnzimmer war ein mit einem Lack behandeltes Parkett verlegt. Der einzige Ort, wo es Christian Schifferle einigermassen aushalten

konnte: das geflieste WC. In einem Hitzesommer, als es in seiner Dachwohnung wieder einmal unerträglich heiss war und die allgegenwärtigen Duftstoffe schwerste Symptome auslösten, flüchtete er auf die Lenzerheide. «Hier schlief ich das erste Jahr im Auto und fing dann an, mich nach und nach einzurichten.»

 

TV und PC hinter Glas

 

Heute besteht Schifferles Domizil aus einem Wohnwagen samt Vorraum. Dieser Vorraum ist mit einer Alufolie ausgekleidet, sämtliche Fugen und Ritzen hat er mittels Klebeband abgedichtet. TV-Gerät und Computerbildschirm befinden sich ausserhalb des Raums hinter einem Fenster. Grund: Auch elektronische Geräte setzen Duftstoffe, Elektrosmog und Chemikalien frei, die den Döttinger krank machen. Von diesme Wohnwagen aus leitet Christian Schifferle eine Selbsthilfegruppe von Umweltkranken. Das Gespräch findet am Gartentisch draussen statt. «Bitte verzichten Sie auf Parfüm, wenn Sie zu mir kommen», hatte er vorgängig am Telefon gesagt. Gleichwohl stellt er bei seinem Gegenüber auf rund zwei Meter Entfernung den Duft von Waschmittel fest. «Es ist für mich, als wenn mein ganzer Körper in Brennnesseln fallen würde», beschreibt er die Situation beim Kontakt mit solchen Duftstoffen. «Wenn schlimme Stoffe da sind, dann bin ich wie gerädert. Die Lunge tut weh, ich habe Krämpfe im Körper, die Schleimhäute sind gereizt.» Seinen Zustand vergleicht Schifferle mit dem einer chronischen Grippe. «An einem guten Tag habe ich einen normalen Grippetag. Aber an einem schlechten Tag fühle ich mich, als wenn ich 40 Grad Fieber haben würde.» Wie bei den meisten MCS-Kranken sind auch bei Schifferle die Grundsymptome chronische Erschöpfung und Weichteilrheuma. Hinzu kommen bei ihm Nahrungsmittelunverträglichkeiten.

«Wenn ich in eine Wolke mit Lösungsmitteln oder Haarspray gerate, dann habe ich

Sprach- und Konzentrationsprobleme. Ich fange an zu stottern und finde die Worte nicht mehr.» Zudem reagiert Schifferle extrem auf Gifte, die in der Landwirtschaft ausgebracht werden. Aus diesem Grund zog er in jüngeren Jahren vom Land in die Stadt, wo die Luft für ihn je nach Lage sogar noch besser ist als auf dem Land. In der Stadt hingegen ist wiederum die Nähe der Menschen das Problem. Wie will man dem Nachbarn verständlich machen, dass er Rücksicht nehmen und beim Gebrauch von Reinigungsmitteln und Duftstoffen zurückhaltend sein soll?

 

Permanenter Überlebenskampf

 

Zwar ist auch die Lenzerheide eher ländlich, aber hier ist Schifferle wenigstens nicht ständig umgeben von Agrochgemie und anderen chemischen Stoffen in der Luft. Wenn allerdings Hochsaison herrscht und Wohnwagen an Wohnwagen steht, dann wird das Leben für den MCS-Kranken auch hier zur Qual. Denn mit den Touristen kommen auch die Stoffe, die Christian Schifferle krank machen. Dann gibts nur eine Möglichkeit: Ab ins Auto und weit weg in den Wald, wo im Freien auf einem Liegestuhl geschlafen wird, auch im Winter. Ist ein solches Leben lebenswert? Christian Schifferle spricht von einem permanenten Überlebenskampf und ist froh, wenn er wieder einen Winter auf dem Campingplatz überstanden hat. Dieses Jahr sei es einigermassen gegangen. «Aber letztes Jahr hatte ich eine Lungenentzündung und konnte diese nicht behandeln, weil ich keine Medikamente vertrage.» Bei minus 20 Grad musste der schwer kranke Mann am Brunnen Wasser holen und zuerst noch das Eis wegpickeln. Den Sanitärbereich des Campings kann er nicht betreten. Dort hats meist zu viele Desinfektionsmittel und Parfüms in der Luft. «Ich brauche einen grossen Lebenswillen und auch einen spirituellen Glauben, sonst wäre ich nicht mehr am Leben», sagt Schifferle der auch einen gewissen Stolz empfindet, sein Leben an diesem Ort so leben zu können. «Aber es findet eine Verwahrlosung statt, denn ich habe kein fliessendes Wasser und auch keine Waschmaschine.» Wenn er könnte, würde er seine Zelte hier oben innert kürzester Zeit abbrechen und umziehen in ein biologisch umgebautes Haus. Solche Häuser gebe es und auch in diesem Bereich kompetente Architekten seien vorhanden. «Aber es fehlt uns ein Geldgeber, der das finanziert. Schon vor 20 Jahren besichtigte ich solche Häuser, aber ich hatte nie die Finanzen dafür.» Neben dem Geldgeber benötigten die MCS-Kranken jemanden, der bei der Suche nach solchen Häusern und bei der Realisierung der notwendigen Umbauten hilft. «Wenn man derart krank ist fehlt einem die Kraft, so etwas durchziehen zu können.» Eine biologische Siedlung mit viel Umschwung, damit die krankmachenden Stoffe verdünnt werden: Das wünschte sich Christian Schifferle für die Zukunft. Eine Waldlichtung, das wäre der ideale Ort und auch sein Traum. Eine Utopie, gewiss. Aber Schifferle kennt MCS-Kranke, die dank der Unterstützung ihrer Partner Orte zum Leben gefunden haben. Das gibt ihm Kraft und Hoffnung. «Vielleicht finden wir ja einen lieben Menschen, der eine Stiftung für MCS-Kranke ins Leben ruft oder für uns eine Wohnbaugenossenschaft gründet.»

 

 

11.05.2006 08:20

 

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