MCS Fall CR
Das Leben außerhalb der eigenen Wohnung ist für
Cornelia van Rinsum riskant. Denn „draußen“ ist die Luft belastet mit Abgasen,
Zigarettenqualm und anderen Schadstoffen. Aber auch Spuren von Parfum, Rasierwasser
oder Weichspüler stellen für sie eine Gefahr dar. Auf diese Chemikalien
reagiert die Dreiundfünfzigjährige nämlich allergisch, ihr Immunsystem spielt
verrückt: Sie bekommt kaum noch Luft, die Welt um sie herum fängt an, sich zu
drehen, und sie reagiert immer langsamer. Manchmal kippt Cornelia van Rinsum
auch einfach um, weil sich irgend jemand Deo unter die Achseln sprüht, eine
Creme auf die Haut aufträgt oder ein Duftstein in der Toilette liegt. „Die
Gifte fressen sich bis ins Gehirn“, sagt Rinsum, eine ruhige, ausgeglichen
wirkende Frau, die überlegt spricht und der man ihr Alter nicht ansieht.
Richtig sicher fühlt sie sich eigentlich nur noch in den eigenen vier Wänden.
Sie lebt in Heusenstamm in einer Wohnung im siebten Stock - weit weg von den
Gerüchen der Innenstadt. Vom Balkon aus sieht sie den Wald. Die Fenster im
Wohnzimmer und im Badezimmer stehen offen, damit es ordentlich zieht und sie
frei atmen kann.
Atemnot, Krämpfe, völlige Erschöpfung
Die Möbel im Wohnzimmer sind schon mehr als zwanzig
Jahre alt, aber die Ausdünstungen neuer Holze und Polster würde sie nicht
vertragen. „Ich würde sofort puterrot anlaufen.“ Seit einiger Zeit reinigt
Rinsum ihre Wäsche mit indischen Nüssen aus dem Reformhaus, damit möglichst
keine Chemikalien mehr an ihre Kleidung gelangen. Es war 1997, als sich ihr
Alltag schlagartig änderte. Damals stellte ihre Ärztin die Diagnose „MCS“ -
Multiple Chemische Sensibilität. Vermutlich haben Lösungsmittel die Krankheit
ausgelöst. Ihr Arbeitgeber war in einen Rohbau gezogen, innerhalb weniger
Wochen wurden Teppiche verlegt, Raumteiler gesetzt und Wände gestrichen. „Ich
kam in den Raum, und mir blieb die Luft weg vor lauter Dämpfen.“ Sie reagierte
mit Atemnot, Krämpfen, völliger Erschöpfung. Noch heute brauche sie manchmal
drei Tage, um sich von den Symptomen zu erholen. Rinsum hat damals eine
Selbsthilfegruppe gegründet, um sich mit anderen auszutauschen und damit
Betroffene merken, daß sie nicht allein sind. Einer von ihnen trägt seine
dunkle Sonnenbrille hoch auf der Nase, damit ihn das Licht nicht so schmerzt.
Es sticht im Kopf. Er ist 50 Jahre alt und möchte seinen Namen nicht nennen,
weil er seit elf Jahren um seine Rente kämpft. Er fürchtet sich, hat Angst vor
dem, was noch alles auf ihn zukommt. Die Symptome werden mit jedem Tag
schlimmer: Er kann keinen Supermarkt mehr betreten, kein Flugzeug besteigen,
kein Schwimmbad aufsuchen, nicht einmal mehr mit dem Bus fahren. Er meidet die
Zivilisation, soweit es geht. Vor 14 Jahren war er das erste Mal
zusammengebrochen. „Ich hatte bis dahin mein ganzes Leben lang inmitten von
Giften gearbeitet“, sagt er. Er hatte lange Zeit als Automechaniker sein Geld
verdient, manchmal bei geschlossenen Toren und blubbernden Motoren unter den
Wagen gelegen und geschraubt. Bis er krank wurde. Eine Untersuchung habe
ergeben, daß der Quecksilberanteil in seinem Körper um ein Vielfaches zu hoch
sei. „Er ist bis zum Hals voll damit“, sagt Cornelia van Rinsum. Nach Angaben
von Umweltmedizinern werden immer mehr Menschen durch Gerüche krank. Auslöser
können Insektensprays, Farbe, Duftstoffe und vieles mehr sein. Die Chemikalien
greifen das Immunsystem an, bis es schließlich zusammenbricht. Dann beginnen
lange Leidenswege. Zwar versuchen sich die Betroffenen zu organisieren und für
ihr Anliegen - eine möglichst geruchsfreie Umwelt ohne Chemikalien - zu
kämpfen. Aber es ist ein aussichtsloser Kampf. „Wir alle müssen unser
Bewußtsein für diese Problematik noch viel mehr schärfen“, sagt Cornelia van
Rinsum.
„Ich bin hilflos“
Auch die Heusenstammerin mußte erst lernen, mit der
neuen Situation umzugehen. Nachdem die Krankheit festgestellt worden war, blieb
sie zunächst monatelang daheim. Eine Nachbarin kaufte für sie ein. Später hat
sich Rinsum sämtliche Metallfüllungen aus den Zähnen entfernen lassen. Die
mehrere Jahre dauernde Prozedur war Teil ihrer Entgiftung. Und sie hat ihren
Geruchssinn geschärft: „Ich rieche wie ein Tier.“ Wenn einer sieben Stockwerke
tiefer Unkrautvernichtungsmittel spritzt oder jemand im Haus neue Möbel
bekommt, dann erschnuppert sie das sofort. Aber nicht nur die eigentliche
Krankheit ist das Problem. „Viele denken ja noch immer, daß wir Spinner sind“,
sagt Rinsum. Daß sie simulierten und psychisch gestört seien. Der 50 Jahre alte
Leidensgenosse war sogar zwei Monate in der Psychiatrie, weil ihm niemand seine
Beschwerden abnahm. Tatsächlich verschlimmerten sich dort seine Leiden noch -
wegen des scharfen Putzmittels, dessen Geruch sich in den Gängen ausbreitete
und ihm beinahe das Bewußtsein raubte. „Heute bin ich an einem Punkt angelangt,
an dem ich sage: Ich bin hilflos.“ Schon das Staubsaugen strenge ihn so an, daß
er sich danach Stunden Wenn Gerüche zur Gefahr werdenins Bett legen müsse.
Rinsum hat einen Teppich, der mit Flohmittel in Kontakt gekommen war, acht
Jahre lang auf dem Balkon ausgelüftet und den Geruch danach noch immer nicht
vertragen. Schließlich hat sie ihn für viel Geld waschen lassen, jetzt liegt er
wieder im Flur. Gern würde sie neue Möbel dazustellen: einen Schrank, der nicht
so massiv ist wie der alte, einen Tisch und eine passende Sitzecke. Vielleicht
wird sie es sogar wagen und hoffen, daß es gutgeht. Aber sobald der Kopf rot
anläuft, weiß sie, daß die Möbel wieder hinausmüssen.
F.A.Z., 27.10.2006 27. Oktober 2006