Lost Fall

 

Klinisch-Toxikologisches Gutachten Dr. M. Daunderer

 

AZ: S 24/U 769/84

       S. H., geb. 20.08.1928, wohnhaft 8220 Traunstein

 

(….) Um die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse über Lost nicht zu übergehen, wurde ein Zusatzgutachten von Doz. Dr. G. P. angefordert, der in letzter Zeit umfangreiche Erfahrungen bei der modernen Behandlung zahlreicher iranischer Lost-Opfer sammeln und veröffentlichen konnte.

 

Außerdem wurde über eine Anfrage beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information eine Literatur-Recherche zu „Lost Spätschäden, nur Gefäßschäden“ angefordert.

 

Zur persönlichen Qualifikation muss ich betonen, dass ich zwar ein erfahrener klinischer Toxikologie und Alleinautor eines mehrbändigen Handbuches „Klinische Toxikologie“ bin (siehe Fotokopie „Schwefellost, Stickstofflost“), aber bis vor kurzem über keinerlei persönliche Erfahrung bei Lostschäden verfügte.

 

Der einzige mir bekannte anerkannte Kenner dieser Materie war Prof. W., dessen Resumée über 300 Gutachten über Lost-geschädigte ungeheuer eindrucksvoll und wichtig ist (Bl 57). Er schreibt hier in einem anderen Fall, dass er grundsätzlich eine Berufskrankheit annimmt, wenn nach sicherer Lost-Exposition eine M.d.E. von mindestens 20% vorliegt. Fehlende Brückensymptome hält W. sen. nicht für erforderlich. Eine Lungensymptomatik war jedoch stets vorhanden.

Lost - Fall Herr A. L.

 

Herr A. L., *09.10.1920 war vom 24.06.1947 bis 14.10.1950 in der ehemaligen Heeresmunitionsanstalt St. Georgen mit unsachgemäßer Beseitigung von Lost-Munition beschäftigt, was 20 hier vorliegende Originalphotos (u.a. offene Verbrennung, defekte Schutzkleidung u.a.) belegen.

 

Er erlitt besonders schwere Verbrennungen am linken Unterarm, rechten Fußgelenk, am Rücken und an beiden Augen durch die Explosion einer Sprühbüchse.

 

Herr L. wurde seit 12.12.1985 regelmäßig in Abständen von mir untersucht.

 

Diagnosen:

1.         Zustand nach wiederholten Lost-Verbrennungen

2.         Arterielle Gefäßschäden:

Niere: dialysepflichtig

Herz: koronare Herzerkrankung, Z.n. Infarkt

Kreislauf: Hypertonie

Lunge: chron. Bronchitis, restr.

 

Wirkungscharakter von Lost

 

Der einzige mir bekannte anerkannte Kenner dieser Materie war Prof. W., dessen Resumée von 300 Gutachten über Lostgeschädigte ungeheuer eindrucksvoll und wichtig ist. Er schreibt in einem Falle, dass er grundsätzlich eine Berufskrankheit annimmt, wenn bei einem Arbeiter nach sichererer Lostexposition eine M.d.E. von mindestens 20% vorliegt. Brückensymptome hält W. sen. für irrelevant.

 

Als Kampfstoff wurde Schwefellost im 2. Weltkrieg produziert. Seine Entsorgung ist so gefährlich, dass die USA sie auf einem entlegenen Atoll durchführe (400 t Vorräte, deutscher Herkunft). Die ausführliche Beschreibung ist dem Handbuch „Klinische Toxikologie“ zu entnehmen. Schwefellost durchdringt die unverletzte Haut (0,001 mg pro cm2 je Minute, gesteigert durch Temperaturanstieg und höhere Luftfeuchtigkeit). Auch unbeschädigte Kampfanzüge durchdringt Lost nach einiger Zeit. Eine Reinigung dieser Anzüge ist nicht möglich. Die Berufsfeuerwehr München hat daher für einen Lost-Alarmfall die Anweisung, jeden lostverseuchten Schutzanzug sofort zu vernichten, auch wenn er nur eine halbe Stunde benutzt wurde. P. fand jüngst bei seinen Patienten Gefäßschäden als Folge der Kapillarintimaläsion (innerste Auskleideschicht der Haargefäße). Die Schädigung der Lungenkapillaren ist die Ursache der Lungenfunktionsstörungen. Bei entsprechender Disposition kann dies auch zur Manifestation an anderen Organen führen. Klehr fand in der Gruppe der Kampfstoffarbeiter von Traunreuth 80% mit einer koronaren (gefäßbedingten) Herzkrankheit, darunter 37% mit einem Herzinfarkt, sowie 13% mit Lungenembolien.

 

Durch generalisierte Giftwirkung kann es zu Schädigung an allen Organen inklusive Krebsentstehung kommen. Bei Kriegsveteranen standen Lungenbeteiligungen expositionsbedingt im Vordergrund, bei der Kampfstoffentsorgung geschah die Aufnahme bevorzugt über die Haut.

 

Beurteilung:

 

Der weitgehend ungeschützte Umgang bei der Aufarbeitung und die Sekundärwirkung von Lostdämpfen, die angeblich mehrfach zur Evakuierung der Nachbarschaft zwang, führte zu einer chronischen Giftgaseinwirkung. Einmal trat ein dokumentierter Unfall mit den Kampfstoffen hinzu.

 

Die chemische Entsorgung der Kampfstoffe geschah ohne effektiven Atem- und Hautschutz. Die chronische Gifteinwirkung erfolgte insbesondere über die Haut. Da die Gifteinwirkung bei Lost nicht auf den Aufnahmeort beschränkt bleibt, ist es nicht verwunderlich, dass diverse Organschäden auftraten. Wie für alkylierende Substanzen üblich, traten die systemischen Veränderungen nach einer Latenzzeit von 25 Jahren auf.

 

Bei den jüngsten iranischen Lostopfern, die in Europa behandelt wurden, stellte man fest, dass im Gegensatz zu inhalatorischen Vergiftungen mit ihren Lungenkomplikationen bei der perkutanen Vergiftung neben systemischen Organkomplikationen die Gefäßschäden im Vordergrund stehen.

 

Als Ursache der arteriellen Gefäßschäden ist daher mit großer Wahrscheinlichkeit die wiederholte Lost-Vergiftung infolge der beruflichen Tätigkeit zu sehen.

 

Nachdem es sich bei dem „Nierensteinleiden“ in der Anamnese anscheinend um den komplikationslosen Abgang eines kleinen Oxalatsteinchens gehandelt hat und eine eitrige Mandelentzündung jeweils stets mit Penicillin ausgeheilt worden zu sein scheint, muss auch bei den koronarangiographisch nachgewiesenen Gefäßveränderungen in erster Linie an eine Schädigung durch Lost gedacht werden.

 

Vorgeschichte:

 

1966 Verkehrsunfall mit Frakturen der unteren Extremitäten sowie Leberruptur, Laparatomie und Relaparatomie, 1970 Magenresektion, Pylorusstenose, ebenso 1975 wegen gastrointestinaler Blutung (Bl. 1263), angeblich chronischer Alkoholismus (Bl. 1361), rasche Lebervergrößerung (Bl. 1086), 1983 Lungentuberkulose.

 

Der Patient trank nach eigenen Angaben viel Alkohol. „In den letzten Jahren“ ständig steigende Serumkreatinin-Werte.

 

Beurteilung:

 

Die feingeweblichen Untersuchungen der Nieren ergaben Veränderungen, die bevorzugt toxischer Natur waren, aber auch gefäßbedingte Veränderungen traten hinzu. Die Meinung von Dr. M., München, die Nierenschrumpfung sei durch „einen über Jahre bestehenden Hochdruck“ verursacht, ist nicht richtig (Bl. 1714). Bis April 1985, also ein halbes Jahr vor dem Tode, wurde kein Bluthochdruck festgestellt; es findet sich im ganzen Akt kein Hinweis auf die Gabe von Hochdruckmitteln. Bei den zahlreichen Begutachtungen wurde nie ein Blutdruck über 150/85 mmg Hg gemessen. Die angegebenen eingenommenen Phenacetin-Mengen können nicht mit Sicherheit als ursächlich für die Nierenerkrankung gemacht werden.

 

Der Patient bekam mehrmals Mexaform S bzw. plus ein Clioquinol, das sich in sehr seltenen immunologischen Einzelfällen bei Europäern - im Gegensatz zur extrem Häufigkeit bei Japanern, der sog. Gnom-Krankheit, der ca. 20.000 erkrankte zum Opfer fielen - zu schweren Nierenschäden mit Nierenversagen führte (Wiedemann). Eigene Beobachtungen bestätigen dies (Daunderer, 1987). Die dort gefundenen histologischen Veränderungen sind den Veränderungen nach Phenacetinabusus identisch. Die Mexaform-Einnahmen standen in direktem Zusammenhang mit dem anerkannten Unfall, da sie während der dafür nötigen Krankenhausaufenthalte erfolgten. Clioquinol wurde wegen dieser schweren Nebenwirkungen am 01.04.85 weltweit von Ciba aus dem Verkehr gezogen. Der 47jährige Patient starb außerordentlich schnell. Zwischen der Diagnose der Nierenfunktionsschwäche und dem Tod lag ein halbes Jahr. Im Gegensatz dazu überleben Patienten mit einer Phenacetinniere mindestens einige Jahre - allerdings meist mit einer künstlichen Niere. Durch die Nierenschädigung kam es zur Lungenstauung und hierdurch zur Herzschädigung. Die Vergiftung führte zu einer Leberschädigung und wahrscheinlich zu einer Gerinnungsstörung, die die tödliche Massenblutung im Gehirn mitverursacht haben kann. Der unfallunabhängige chronische Alkoholismus verstärkte sicher den schnellen Verlauf des Nierenversagens und war Ursache für die Inkooperation.

Dieser Befund wurde bei der Sektion erhoben.

Lost - Sie leiden heute noch an den Spätfolgen

Ehemalige „Kampfstoffarbeiter“ trafen sich in Traunreut - Erinnerungen an die Munazeit

 

Traunreut. Im Evangelischen Gemeindehaus trafen sich auf Einladung der „Initiative Lost-Geschädigte“ ehemalige Kampfstoffarbeiterinnen und -arbeiter. Ziel dieser Zusammenkunft war es, die gemeinsamen Erinnerungen aufzufrischen und die Arbeiter der Munitionsanstalt St. Georgen über die Spätfolgen, mit welchen auch heut noch nach mehr als 30 Jahren zu rechnen ist, aufzuklären.

 

In einer sehr anschaulich vorgeführten Lichtbildserie gab Hans Schwarz - einer der ersten Kampfstoffarbeiter - mit vielen heute schon historischen Aufnahmen einen Überblick über die ersten Entgiftungsarbeiten.

 

Es begann 1939

Die Anfangsgeschichte der Stadt Traunreut begann bereits 1939 mit dem Aufbau einer Munitionsanlage im St. Georgener Forst. Nach Beendigung des 2. Weltkrieges besetzten die Amerikaner das Territorium. Erst im Jahre 1947 gab die Besatzungsmacht das Gelände der Munitionsanlage wieder ab. Die Staatliche Erfassungsgesellschaft für öffentliches Gut mbH - kurz Steg - konnte daraufhin mit den Lost-Beseitigungsarbeiten beginnen. Nicht nur Lost aus den ehemaligen deutschen Heeresbeständen wurde beseitigt, sondern, so wird von Hans Schwarz betont, auch amerikanische Fliegerbomben mit Gelbkreuzgas wurden hier ebenfalls entgiftet.

 

Mangel an Sicherheit

Von großem Interesse für die Besucher waren die Bilder von der Entschärfung der Sprühbüchsen und von den Kampfstoffentgiftungen. Die unzureichenden Sicherheitsmaßnahmen, die auch zu elf Todesfällen während der Arbeiten der „Heeres-Munitions-Anstalt“ geführt hatten, wurden in diesem Diavortrag nicht beschönigt.

Obwohl alle Kampfstoffarbeiter Gummianzüge und Gasmasken trugen, ließ es sich nach Augenzeugenberichten nicht vermeiden, mit dem Lost beziehungsweise Lostdämpfen in Berührung zu kommen. Immer wieder kamen Verbrennungen vor, die die Haut zerstörten. „Wir konnten damals die Heimtücke dieses Stoffes noch nicht ahnen, da niemand“ - so einer der letzten Munaarbeiter - „uns über die Gefährlichkeit des Lostes aufklärt hätte.“

 

Heutige Rechtslage

Würde mit der heutigen Rechtslage über diese Beseitigungsarbeiten geurteilt, so müsste nach Dr. Nikolaus Klehr dies als vorsätzliche Verletzung mit Todesfolge bezeichnet werden: Bereits 70 Milligramm je Kubikmeter reichen nach den Ausführungen des Traunsteiner Mediziners aus, den unmittelbaren Tod herbeizuführen. „Wird der Lost auf der Haut nicht innerhalb von fünfzehn Sekunden nach dem Kontakt entfernt, so kann die Reaktion im Körper bzw. auf der Haut nicht mehr rückgängig gemacht werden; und in diesem Fall muss mit Spätfolgen gerechnet werden.“ Ein Kampfstoffarbeiter berichtete bei dieser Gelegenheit, dass ihnen während den Beseitigungsarbeiten mitgeteilt wurde, innerhalb von 15 Minuten müssten die benetzten Körperteile gereinigt werden.

 

Schreckliche Folgen….

Unmittelbar nach der Einwirkung von Lost bilden sich auf der Haut Blasen; in der Lunge kommt es zu einer Wasseransammlung, die später zum Kreislaufkollaps führt. Da die Einwirkung des Losts auch das Immunsystem zerstört hatte, heilten die Wunden des ehemaligen Kampfstoffarbeiters nur sehr langsam und daher verzögerte sich der Heilungsprozess oft um viele Wochen. Die Reaktion von Lost im Körper verglich Dr. N. Klehr in seinem Referat über die Spätfolgen mit der radioaktiven Strahlung der Atombomben: „Während des 1. und 2. Weltkrieges existierten mit den Kampfgasen bereits vergleichbare Substanzen zur Atombombe, die eine ähnliche Wirkung hervorrufen konnten.“

 

…. auch für die Zukunft

Da die Zellen durch Lost nicht nur zerstört, sondern zum Teil auch verändert werden können, bergen diese Substanzen eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Zukunft in sich. Teilen sich geschädigte Zellen, so entstehen anormale Zellen. Normalerweise können diese defekten Zellen vom Organismus repariert werden. Da allerdings die „Repariereinrichtungen“ im Körper durch die Losteinwirkung ebenfalls geschädigt werden, funktioniert dieser Ablauf nicht, so dass im Organismus der Kampfstoffarbeiter falsche Zellteilungen stattfinden können. - Untersuchungen über die Krebshäufungen bei den Lost-Arbeitern bringen ganz klar die wesentlich höhere Todesursache durch diese Krankheit zum Ausdruck. Als besonders bedrohlich kommt hinzu, dass infolge einer Losteinwirkung (sei dies in Dampf-, Gas- oder Nebelform) jede Krebsart entstehen kann. Neben verschiedenen Formen von Krebs leiden viele ehemalige Kampfstoffarbeiter an einer Erkrankung der Lunge, da durch das Einatmen des Losts dieses Organ sehr stark geschädigt wurde. Eine Erkrankung des Herzens ist ebenso in vielen Fällen zu beklagen. Dr. N. Klehr: „So manch ein Herzinfarkt ist auf die Losteinwirkung zurückzuführen“.

 

Auch Kinder sind betroffen

Einige Munaarbeiter interessieren sich neben den unmittelbaren Spätschäden auch für die Genmutation, da zu befürchten ist, dass einige Kinder ehemaliger Kampfstoffarbeiter infolge einer Genmutation betroffen sind.

 

Viele der bisher erstellten Gutachten werden nach Dr. N. Klehr aus heutiger Sicht nicht mehr dem Kenntnisstand in der Medizin gerecht. Da es den Krankenkassen nicht egal sein kann, für die Folgeerkrankungen zu zahlen, die nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fallen, hat sich die „Initiative Lostgeschädigte“ bereits an die Kassen gewandt und diese auf die Missstände hingewiesen. Sofern ehemalige Kampfstoffarbeiter, die an den Beseitigungsarbeiten in den Jahren 1946 bis 1950 beteiligt waren und auch heute noch an Folgeerkrankungen (Herz-, Lunge-, Hauterkrankungen etc.) leiden und noch keinen Entschädigungsanspruch geltend gemacht haben können, sich diese an die Initiative wenden.

 

Quelle: Traunsteiner Wochenblatt, 20. August 1982

 

Wirkungscharakter von Lost

 

Als Kampfstoff wurde Schwefellost im 2. Weltkrieg produziert. Die ausführliche Beschreibung siehe beiliegendem Handbuch-Artikel. Schwefellost durchdringt die unverletzte Haut (0,001 mg pro qcm je Minute), gesteigert durch Temperaturanstieg und Luftfeuchtigkeit. Auch durch unbeschädigte Kampfanzüge dringt S-Lost nach einiger Zeit hindurch. Eine Reinigung dieser Anzüge ist nicht möglich. Die Berufsfeuerwehr München hat daher für einen Lost-Alarmfall die Anweisung, jeden Lost-verseuchten Schutzanzug sofort zu vernichten. P. fand jüngst bei seinen Patienten Gefäßschäden als Folge der Kapillarläsion (innerste Auskleideschicht der Haargefäße). Die Schädigung der Lungenkapillaren ist die Ursache für die Lungenfunktionsstörung. Bei entsprechender Disposition kann dies auch zur Manifestation an anderen Organen führen. K. fand in der Gruppe der Kampfstoffarbeiter von Herrn S. 80% mit einer koronaren (gefäßbedingten) Herzkrankheit, darunter 37% mit Herzinfarkten, sowie 13% mit Lungenembolien.

Andere bekanntere Organschäden bis hin zur Krebsentstehung sind für diesen Fall unwesentlich.

 

Aktenlage

 

Nach eigenen, belegten und nicht widersprochenen Angaben hatte Herr S. vom 15.7.46 bis 11.8.48 in Betrieben gearbeitet, die Kampfstoffe wie Lost verbrannten und entgifteten. Diese Lost-Verbrennungen fanden täglich statt und geschahen unter primitivsten Schutzmaßnahmen der Arbeiter. Die völlig veralterten Schutzanzüge wurden nie auf ihre Dichtigkeit geprüft, die Atemschutzmasken wurden ungeprüft solange verwendet, bis hinter dem Filter eine Atemreizsymptomatik auftrat. Teile des Körpers waren nicht durch Schutzkleidung geschützt.

 

Bis 1950 lebte er in Holzbaracken auf dem Gelände der ehem. Landesmunitionsanstalt in St. Georgen, die fast ständig von einer Lostgaswolke eingehüllt war.

 

Bei der staatlichen Erfassungsgesellschaft kam er beim Entgiften der Kampfstoffbekleidung in der Entgiftungsabteilung täglich mit Lost in Berührung. Die extreme Unfallhäufigkeit (angeblich 11 Todesfälle) und Gefährlichkeit dieser Arbeit wird belegt (Bl.  164) dadurch, dass 20 Arbeiter in 6 Wochen schwere Lostunfälle erlitten, darunter zweimal Herr S.

 

Einmal sei Herr S. angeblich nach Losteinwirkung fast eine Woche erblindet (Bl. 24).

 

Seit 1.5.76, dem 48. Lebensjahr erhält er eine EU-Rente. Laut Aufzeichnungen der AOK Trostberg sind folgende kampfstoffbedingte Arbeitsunfähigkeitstage verzeichnet:

 

Eitr. Lidrandentz. 29.7.47 - 16.8.47 (19 Tage)

Kampfgasverätzung 15.9.47 - 4.10.47 (20 Tage)

Lostverätzung li. Fuß 8.3.48 - 22.4.48 (15 Tage)

Lostverbrennung Fuß 23.4.48 - 23.5.48 (31 Tage)

 

Herr S. hatte demnach in den drei Jahren seiner Tätigkeit mit Lost vier schwere Unfälle mit einer unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit von 85 Tagen! (Bl. 38R).

 

Spätere (relevante) Erkrankungen:

 

Sept. 1975 Profundaplastik, Sympathekt. li. Bein,

12.10.78 Hinterwandinfarkt, Eisenmangelanämie

19.07.79 periph. Durchbl.störg., Bypass re. Bein,

24.11.80 periph. Durchbl.störg., 2. Bypass re. Bein

 

Im Januar 1980 kam es wohl aufgrund der salicylhaltigen Schmerzmittel wegen der Gefäßverschlussschmerzen zur Haematemesis (Magenblutung) unter Marcumar.

 

Familienvorgeschichte

 

Der Vater starb mit 58 Jahren an Lungenkrebs, die Mutter mit 62 Jahren an Thrombose. Ein Bruder erlitt einen Herzinfarkt.

 

Untersuchungsbefund

 

58-jähriger Mann, leichtes Übergewicht (177 cm, 75 kg), pyknisch, guter Allgemein- und Ernährungszustand, wirkt vorgealtert; sichtbare Schleimhäute sind gut durchblutet, feucht.

Keine Dyspnoe, keine Zyanose, keine Ödeme, kein Ikterus.

Verstärkte Gefäßzeichnung, multiple senile Pigmente an Schultern und Rücken, seborrhoische Warzen, unauffälliger Hautturgor, tastbare Lymphknoten nicht vergrößert.

 

Kopf:

Normal konfiguriert, kein Druck- oder Klopfschmerzen, freie Nervenaustrittspunkte, Bewegung aktiv und passiv schmerzhaft nicht eingeschränkt.

 

Augen:

Stabismus divergens, Fern- und Lesebrille, Pupillenreaktion auf Licht und Konvergenz unauffällig, ebenfalls Führungsbewegungen.

 

HNO:

Freie Nasenatmung, Ohren äußerlich unauffällig.

 

Mundhöhle:

Unter und Oberkiefer-Vollprothesen.

 

Hals:

Halsumfang 41 cm, unauffällige Gefäßzeichnung, keine Gefäßgeräusche, Struma Grad I.

 

Thorax:

Rundrücken, Thorax symmetrisch gewölbt, seitengleiche Atemexkursionen.

 

Lungen:

Vesikuläratmen, bds. basal vereinzelt Giemen, sonorer bis hypersonorer Klopfschall, Atemgrenze bds. An physiologischer Stelle ausreichend verschieblich. Stimmfrenitus unauffällig.

 

Herz:

RR 180 / 95 mm Hg, Puls 90/min.

Herztöne leise, keine pathol. Geräusche. Herzaktion regelmäßig, palpatorisch und perkutorisch unauffällig.

Brustumfang inspiratorisch 105 cm, expiratorisch 96 cm.

 

Abdomen:

Gut eindrückbar, keine Resistenzen, kein Druckschmerz, keine Abwehrspannung.

Abdomenumfang 97 cm. Li. Abdomen Narbe nach Sympathektomie, an beiden Hüften nach Bypassop.

 

Leber:

2 Querfinger unter dem Rippenbogen tastbar vergrößert, perkutorisch 12,5 cm in MCL. Gallenblasenlager nicht druckempfindlich.

 

Milz:

Nicht tastbar.

 

Nieren:

Kein Druck- bzw. Klopfschmerz.

 

Genitalien:

Äußerlich unauffällig. Bruchpforten geschlossen.

 

Rektum:

Unauffällig. Prostata von normaler Größe und Konsistenz.

 

Skelett und Extremitäten:

Obere BWS leicht klopfschmerzempfindlich. Gesamte WS frei beweglich. Grobe Kraft beider Unterschenkelmuskul. Etwas verringert. Seitengleiche Hauttemperatur auch an den Beinen.

 

Gefäßstatus:

Keine Varizen, venös unauffällig.

Pulse der A. carotis, A. radialis bds. Seitengleich gut, der A. femoralis bds. Nur schwach tastbar. A. poplitea, A tibialis post. und Adorsalis pedis bds. Nur sehr schwach tastbar.

 

ZNS:

Grob klinisch unauffällig mit normal auslösbaren physiologischen Sehnenreflexen, keine Spastik, keine Koordinationsstörungen, Oberflächen- und Tiefensensibilität intakt. Psychisch kooperativ, keine Aggravationsneigung, Depression.

Schmerzen nach Gehstrecke von 20m in beiden Beinen (links stärker als rechts).

 

Einzelbefunde

 

Die Teste auf eine durchgemachte Hepatitis-B zum Ausschluss einer virusbedingten Leberschädigung sind negativ (Bl. 8). Antikörper nach einer Hepatitis A bestehen.

Ebenso sind alle relevanten Tumormarker negativ 8Bl. 8).

EKG: Sinusrhythmus, Linkstyp, F 76/min., PQ 0,14“, QRS 0,08“, QT 0,38“, Q in II und avf. Ungest. Erregungsablauf.

 

Diskussion

 

Alle Überlebenden der Kampfstoffentgiftungsanlagen in Traunreuth sind krank. Diejenigen mit einer Lungen- oder Tumorsymptomatik haben aufgrund des derzeiten Wissenstandes eine Berufskrankheitsrente erhalten. Soweit bekannt waren alle Raucher. Bis vor kurzem war unbekannt, dass Schwefellost auch Gefäßschäden hervorruft. Erst die aufwendigen Untersuchungen kurz nach der Vergiftung und nach einem längeren Intervall von G. P. (Wien) und P. F. (Recklinghausen) haben dies belegt. Eine Lostvergiftung schädigt ausnahmslos alle Organe. Natürlich ist das Organ, das die höchste Giftkonzentration abbekommt am meisten gefährdet. Lostvergiftete Soldaten erleiden daher bevorzugt Lungenkomplikation und als Spätschäden Lungenkarzinome.

 

Die Gruppe der Lostarbeiter von Traunreuth macht hier global eine besondere Ausnahme. Es wurde zwar mit Atemschutzmasken gearbeitet, aber allein die Beschreibung von Herrn S., dass er den typischen Knoblauchgeruch von Lost wahrgenommen hat, belegt, dass die Atemschutzmasken undicht waren bzw. nicht immer getragen wurden.

 

Herr S. erlitt bei seiner Arbeit vier Lostunfälle. Es waren die Augen (mit vorübergehender Erblindung) und die Füße betroffen. Insbesondere die Lost-Verätzung der Füße führte zu langen Krankenzeiten (66 Tage). Die Unfälle waren am 15.9.47, 8.3.48 und 23.4.48 (Bl. 38).

 

Hierbei wurde nach neuesten medizinischen Kenntnissen das Epithel der Kapillaren geschädigt.

 

Das Besondere an diesem Fall ist, dass diese Schädigung nicht wie bei den übrigen Lost-Opfern zu Lungenkomplikationen geführt hat, sondern auf Gefäßveränderungen in der Peripherie beschränkt blieb. Eine familiäre Disposition (Mutter starb angeblich an einer Thrombose, ein Bruder erlitt einen Herzinfarkt) förderte diese Prädilektion.

 

Ebenso förderte das frühere Rauchen (bis 1975 bis 30 Zig. pro Tag) diese Komplikation wesentlich.

Aus der Weltliteratur ist wohl bekannt, dass Zigarettenrauch die Organkomplikationen nach Lostexposition begünstigt.

So wies J. E. Norman 1975 an Kriegsveteranen nach, dass nur Raucher von den Lostexponierten einen Lungenkrebs bekamen.

 

Es ist möglich, aber noch nicht eindeutig geklärt, dass die Lostbedingten Veränderungen der Gefäßwand zu dem Bluthochdruck geführt hatten, der das Gefäßleiden letztlich ebenso beschleunigt hat. Andererseits ist auch bekannt, dass Lost zur Nierenschädigung führt, was ebenso Ursache des Bluthochdrucks sein kann.

 

Auch die prädiabetische Stoffwechsellage kann ursächlich auf eine Lostbedingte Schädigung der Bauchspeicheldrüse zurückzuführen sein.

 

Als Brückensymptome werden eine chronische Bronchitis und Kopfschmerzen im Anschluss an die Augenverätzung durch Lost am 29.4.47 beschrieben.

 

Wahrscheinlich kam es durch das frühzeitige (1975) Aufhören des Rauchens nach Eintritt der Gefäßkomplikationen zum Sistieren der Progredienz der Lungensymptomatik. Gewöhnliche arteriosklerotische Veränderungen hätten sicher eine wesentlich stärkere Progredienz und eine deutlichere Beteiligung des Gehirn (Denk-, Merk- und Schlafstörungen), der Augen (Augenhintergrund, Sehstörungen) und der Nierengefäße (deutliche Nierenfunktionseinschränkung) hervorgerufen.

 

Der bisherige 13jährige Verlauf nach Beginn der ernsten Erkrankung spricht gegen die Annahme einer üblichen arteriosklerotischen Erkrankung.

 

Die einmalige Häufung von vier Lostvergiftungen und die damit verbundene große Giftaufnahme müssen in jedem Fall zu Spätschäden führen.

 

Auch die Leberparenchymschädigung muss in diesem Rahmen gesehen werden.

 

Zur Frage des Zusammenhangs mit der Lostvergiftung denken wir an den großen deutschen Lostspezialisten, Prof. W. sen., der postulierte, dass grundsätzlich eine Berufskrankheit anzunehmen ist, wenn eine M.d.E. von mindestens 20% vorliegt.

 

Da Herr S. seit 1.5.76 eine EU-Rente wegen seiner Gefäßschäden erhielt, die nach oben gesagtem lostbedingt sind, ist seit diesem Zeitpunkt auch eine Berufskrankheitsrente fällig.

 

Zusammenfassung

 

1.         Nach neuesten Erkenntnissen liegt bei Herrn S. H. eine Erkrankung im Sinne einer Berufskrankheit durch Lost (Ziff. 1311 BeKV) vor.

2.         Entfällt.

3.         Die Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt seit 1.5.76 100%.

 

Literatur:

 

Beiliegend.

 

Eigenhändig verfasst:

 

Gez.: Dr. med. Dr. med. habil. Max Daunderer

Leitender Arzt TOX CENTER MÜNCHEN

 

Lost - Fallbericht Herr F. S.

 

Vorgeschichte:

 

Nach Angaben von Herrn S. arbeitete er vom 02.02. - 12.08.1948 in der Kunststofffabrik Bobingen bei der ehemaligen Muna St. Georgen in zwei Schichten, jeweils zu acht Stunden. Er lebte dort in Holzbaracken und war Tag und Nacht Dämpfen des in der unmittelbaren Nachbarschaft verbrennenden Losts ausgesetzt.

Bei der Entgiftung von Tränengas erhitzte er das Weißkreuz als salzige Masse aus Fässern, versetzte es dann mit Schwefelsäure und gab zur Bindung Eisenpulver hinzu bis zur Entstehung einer Kunststoffmasse.

Nach etwa 18 Tagen Arbeitsunfähigkeit, 1.06.05.1948 Verätzung beider Füße, 2. Kampfstoffverbrennung. Nach etwa 10 Jahren Beginn mit Juckreiz in der Nase, häufigem Schnupfen, Hautausschlägen, laufende Behandlung bei Hautärzten und in der Hautklinik. Seit 1977 wiederholte Exzisionen von Tumoren, meist im Gesicht. Dann traten Magen-Darm-Beschwerden hinzu und seit 1984 auch Durchblutungsstörungen, die bis zur Gefäßstenose in der linken Leiste führten. Am 06.06.1984 Embolektomie A. femor. superfic. 1977 Nierentumor recht. Mehrfache Ohroperationen bds., Hörgerät (seit der Kindheit Probleme mit dem rechten Ohr). Seit 1976 (Bl. 42) zunehmendes Zittern der Hände, Gleichgewichtsstörungen, Gangunsicherheit. Wegen Ohr- und Augenschäden Aufgabe des erlernten Berufes als Uhrmacher.

Verheiratet, drei Kinder, 47, 38 und 34 Jahre. Vor 7 Jahren Rauchen aufgehört (20 Zig./die).

 

Jetzige Beschwerden:

 

Schmerzen beim Gehen in beiden Unterschenkeln und in den Gelenken. Ruheatemnot, Schwank-Schwindel, besonders beim Aufstehen und schnellen Bewegungen, vermehrte Speichelsekretion und Schluckprobleme bis zum Erbrechen, Brennen im Hals, Hypersekretion in der Nase und im Rachen.

 

Untersuchungsbefund:

 

71jähriger Mann, deutlich reduzierter AZ, bei gutem EZ, 159 cm, 66 kg 01K.

Keine Zyanose, kein Ikterus, Beine kalt.

Diverse Haut-Akanthome im zentrofacialen Gesichtsbereich, die zum Teil maliguitätsverdächtig sind.

 

Lunge:

Massives Giemen und Pfeifen über beiden Lungen, mäßiggrade, bronchitische Rasselgeräusche (Dr. W. Daunderer).

 

Herz:

Normaler erster und atemabhängiger, gespaltener zweiter Herzton.

RR 160/90, Puls 84

(Dr. W. Daunderer)

 

Ohr:

(Audiogramm 21.12.1987): Hörverlust re 46%, li 51%.

 

Lungenfunktion:

Forcierte Vitalkapazität erniedrigt auf 0,83 (Soll 2,86), maximale Ausatemgeschwindigkeit erniedrigt auf 1,68 (Soll 6,74), Lungenwiderstand 0,24 (Soll 0,30).

 

Sektor Echo:

Mäßiggradig vergrößerter rechter Ventrikel, und Vorhof mit deutlicher Hypertrophie, geringer gekammelter Perikarderguß über dem rechten Ventrikel, normal großer linke Ventrikel, leichte Septumhypertrophie.