Lebensmittelverpackungen Bisphenol A evtl.
hirnschädigend
Ein Weichmacher in Lebensmittel-Verpackungen steht seit Jahren im Verdacht,
die Gesundheit zu gefährden. Jetzt stellt sich heraus, dass schon winzige
Mengen der Substanz namens Bisphenol A die Hirnentwicklung bei Kindern und
Ungeborenen stören könnten. Behörden sind alarmiert.
Experten verdächtigen den chemischen Weichmacher Bisphenol A (BPA) schon lange,
der Gesundheit von Verbrauchern nicht eben zuträglich zu sein. Ergebnisse einer
jetzt im Fachblatt "Endocrinology"
veröffentlichten Studie rücken die Substanz jetzt weiter ins Zwielicht - und
könnten massive Auswirkungen auf den europäischen Verbraucherschutz haben.
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Ein Forscherteam
um Scott Belcher von der University of Cincinnati
konnte erstmals im Tierversuch zeigen, dass BPA gerade in kleinsten Dosierungen
die Hirnentwicklung beeinflusst. Offensichtlich blockiert die über die Nahrung
aufgenommene Chemikalie die Aktivität des körpereigenen Hormons Östrogen, das
für die Entwicklung bestimmter Hirnregionen unerlässlich ist.
Belchers Team hatte Ratten über einen Zeitraum von
lediglich sechs Minuten eine hoch verdünnte BPA-Lösung in den Teil des Gehirns
gespritzt, der bisher als unempfindlich gegenüber BPA galt: den so genannten
zerebralen Kortex. Das Ergebnis der anschließenden Untersuchung der Rattenhirne
könnte sich als "kleine Sensation in der BPA-Diskussion erweisen, falls es
auch anderen Forschergruppen gelingt, die Ergebnisse zu reproduzieren",
kommentiert Jürgen Kundke, Sprecher des Berliner
Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR).
Die Substanz entfaltete in Belchers Tierversuchen
wenige Minuten nach Verabreichung eine verheerende Wirkung: Sie stoppte den
Signalweg des weiblichen Sexualhormons Östrogen und damit die natürliche
Entwicklung der Gehirnzellen - unabhängig vom Geschlecht der Tiere. Das
Problem: BPA scheint insbesondere in jenen winzigen Mengen extrem zu wirken,
denen der Mensch im Alltag ausgesetzt ist. Je niedriger die Konzentration der
Substanz, desto höher war in Belchers Versuchen die
schädigende Wirkung auf das Hirngewebe.
Jährlich werden Millionen Tonnen produziert
Brisant ist die Studie vor allem deshalb, weil Bisphenol A aus dem Leben der
Verbraucher kaum mehr wegzudenken ist. Seit den fünfziger Jahren setzt die
chemische Industrie die Substanz bei der Herstellung von Plastikverpackungen
aller Art ein. "Bisphenol A ist eine Grundchemikalie, die in Mengen von
etwa einer Million Tonnen pro Jahr produziert wird", erklärt Thomas Simat, Professor am Institut für Lebensmittelchemie der TU
Dresden. "Sie ist toxikologisch sehr gut untersucht."
Allerdings hatte bis jetzt niemand erforscht, wie BPA in kleinsten Dosierungen
wirkt. Belcher zufolge setzt die Gefährdung des Menschen
bereits vor der Geburt ein, weil BPA die Embryonalentwicklung des Gehirns
stört. Um das herauszufinden, hatten die Pharmakologen das Fötenwachstum der
Ratten verfolgt und die Tiere nach Ablauf bestimmter Fristen seziert.
Weil junge Ratten als besonders gutes Tiermodell gelten, konnte Belcher daraus Rückschlüsse auf die Entwicklung des
menschlichen Fötus ziehen und die Zeit vom Beginn des letzten
Schwangerschaftsdrittels bis zu den ersten Lebensjahren des Kindes
nachvollziehen. "Es besteht Grund zur Sorge", erklärte Belcher SPIEGEL ONLINE. Der Professor für Pharmakologie und
Zell-Biophysik hält es für "sehr wahrscheinlich", dass es die bei den
Ratten beobachtete Wirkung auch beim Menschen gibt. "Es gibt zwar wichtige
Unterschiede zwischen Menschen und Nagetieren", so Belcher,
"aber BPA hatte bisher bei jeder Art von Tieren - seien es Säugetiere,
Fische oder Amphibien - ähnlich schädliche Effekte."
PlasticsEurope, der Verband der Kunststofferzeuger in
Deutschland, sieht das freilich anders. In einer internen Bewertung, die
SPIEGEL ONLINE vorliegt, heißt es über Belchers
Arbeit: "Aus der Studie liegen keine Hinweise vor, dass die Beobachtungen
beim Menschen zu nachteiligen Folgen führen". Insbesondere die Methodik
von Belchers Versuchen wird angegriffen. So seien
direkte Injektionen ins Hirn nicht mit oraler Aufnahme zu vergleichen, außerdem
sei die Anzahl der Versuchsratten viel zu gering.
Doch der neurotoxische Effekt, den BPA auf das hormonelle System ausübt, dürfte
weitaus größer sein als bislang angenommen. Um welche Größenordnungen es sich
handelt, verdeutlich ein Vergleich. Die von Belcher
ausgemachte toxische Dosis entspricht in etwa der Menge eines Fünftel
Würfelzuckers, der in einem Stausee mit 2,7 Milliarden Litern Wasser aufgelöst
ist. Chemisch ausgedrückt sind das etwa 0,23 Teile pro Trillion (ppt) oder 0,23 Nanogramm Bisphenol A pro Kilogramm
Trägermaterial.
Alte Substanz, neues Risikoprofil
Das wie ein künstliches Hormon wirkende BPA steht seit Jahren im Verdacht, die
Gesundheit des Menschen zu gefährden. So erschienen bis heute über hundert
Fachpublikationen, die sich mit den Auswirkungen von BPA befassen. Für
Aufmerksamkeit sorgte zuletzt ein im Fachblatt "Cancer"
veröffentlichter Bericht darüber, wie BPA in Tierversuchen Prostatakrebs
auslöste. Dieses Potential haben auch andere Untersuchungen bestätigt.
Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hatte
sich schon 2003 mit derartigen Fällen befasst und den Stand der Dinge
unmissverständlich bewertet. Es gebe "Anlass zur Besorgnis", da die
Untersuchungen "auf ein mögliches erbgut- und fortpflanzungsgefährdendes
Potential von BPA hindeuten", heißt es in einer am 17. April 2003
veröffentlichten Stellungnahme des BfR.
Überraschend sei, dass die Schädigung des Erbguts schon bei einer "außerordentlich
niedrigen Dosierung" von 0,02 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht
gefunden worden sei.
Über Geschirr, Besteck und Einwegflaschen aus Kunststoff sowie die
Innenbeschichtung von Dosen gelangt Bisphenol A in den menschlichen Körper.
Nach Angaben des BfR nimmt ein erwachsener Mensch pro
Tag etwa 0,48 Mikrogramm BPA pro Kilogramm Körpergewicht auf. Bei Kindern
beträgt die Menge sogar 1,6 Mikrogramm. Das ist mehr als 695 Mal so viel wie
jene Menge, die Belchers Team jetzt im Tierversuch
als hirnschädigend ausmachte.
Risiko von BPA könnte neu bewertet werden
Dass bisher noch keine Behörde auf die Effekte in kleinsten Dosierungen
aufmerksam wurde, ist für Axel Allera vom Institut
für klinische Biochemie an der Universität Bonn nicht verwunderlich: "Man
hat sich ausschließlich mit den Wirkungen bei hohen Konzentrationen
befasst", sagt der Endokrinologe. Den Einfluss kleinster Chemikalienmengen
auf den Organismus habe man über Jahrzehnte hinweg vernachlässigt - gerade bei
BPA.
Deutsche Behörden sehen das jetzt ähnlich. Die von Belcher
nachgewiesene toxische Menge sei "eine vollkommen neue Dimension",
erklärt BfR-Sprecher Kundke.
"Wir nehmen die Studie zur Kenntnis." Erkenntnisse über Schäden, die
BPA bereits bei Menschen angerichtet haben könnte, gibt es nicht. Denn bisher
wurde laut Kundke und Belcher
noch nirgendwo auf der Welt eine entsprechende epidemiologische Studie
durchgeführt. Allera sieht darin keinen Grund zur
Entwarnung: Man müsse die Forschung über das Risiko von BPA in geringen
Dosierungen nun "endlich vorantreiben".
Mittlerweile mahlen die behördlichen Mühlen. Belchers
Papier liegt nicht nur dem BfR vor, das auf
nationaler Ebene ein Verbot der Chemikalie in bestimmten Verpackungen
aussprechen könnte. Die Publikation hat inzwischen auch die Europäische Behörde
für Lebensmittelsicherheit (EFSA) in Parma erreicht, in der ebenfalls Fachleute
des BfR sitzen. Dort wird jetzt über eine
Neubewertung des Risikopotentials von Bisphenol A nachgedacht, wie Kundke SPIEGEL ONLINE mitteilte. Allerdings: "Bis es
zu einer rechtswirksamen Entscheidung kommt, können Jahre vergehen."
Spiegel online
13.12.05