Gefährliche Droge
Justiz erwägt Straffreiheit für „Krokodil“-Opfer
BOCHUM Bei der Suche nach der Todesdroge „Krokodil“ im Ruhrgebiet erwägt die Justiz Straffreiheit für Krok-Konsumenten, die als Zeugen aussagen. "Krokodil"-Opfer, die sich aus Angst vor einer Strafe bisher nicht bei der Polizei gemeldet haben, sollen die Polizei mit Schilderungen aus erster Hand unterstützen.von Ruhr Nachrichten
„Wir
werden in solchen Fällen eine Einstellung der Verfahren sehr wohlwollend
prüfen“, sagte der Bochumer Staatsanwalt Christian Kuhnert am Donnerstag. Das
Betäubungsmittelgesetz erlaube das bei Selbstanzeigen ohne Schwierigkeiten.
In Bochum gibt es vier Verdachtsfälle der als hochgefährlich eingestuften
Droge. Drogenärzte hatten bei den Abhängigen die typischen schweren
Weichteilschäden gefunden, die bei dem aus Russland stammenden Drogenmix
vielfach beschrieben wurden. Ein toxikologischer Nachweis der Substanz im
Körper von Süchtigen steht aber bisher aus. Er ist auch nur für wenige Tage
nach der Einnahme möglich.
Abhängige haben Angst vor Strafe
Bis zum Donnerstagmittag konnte die Polizei keine „Krokodil“-Konsumenten direkt
befragen. Die Drogeneinnahme ist strafbar und die Ärzte der Suchthilfe geben
wegen ihrer Schweigepflicht keine Personalien weiter. „Die Abhängigen wagen
sich aus Angst vor Strafe nicht zu uns in die Höhle des Löwen“, sagte der
Bochumer Polizeisprecher Jürgen Leimanzik. Ohne Schilderungen aus erster Hand
sei die Gefahr aber schwer zu beurteilen.
Neue „Krokodil“-Fälle seien bislang nicht bekanntgeworden, sagte der
Polizeisprecher. Zum Gesundheitszustand der vier Verdachtsfälle konnte er
nichts sagen.
Aktualisiert am Mittwoch, 12.10.2011, 10:44 · von FOCUS-Online-Autorin Sarah Wagner
Colourbox
Vom Heroinersatz Desomorphin, auch Krokodil genannt, sind Tausende Russen abhängig. Jetzt ist die Substanz im Ruhrgebiet aufgetaucht. Süchtige laufen Gefahr, lebendig zu verfaulen.
Die lebensgefährliche
Heroin-Ersatzdroge Krokodil, auch „Krok“ genannt, ist in Deutschland
angekommen. Vier Nutzer eines Bochumer Drogencafés hatten die typischen
Symptome gezeigt. Das bestätigte der leitende Arzt der Krisenhilfe Bochum,
Heinrich Elsner. Selbstgemacht aus rezeptfreien Codein-Tabletten: Weil die neue
Droge so leicht und billig zu bekommen ist, sind schon Tausende russischer
Junkies auf sie umgestiegen.
Die chemische Substanz hinter Krokodil ist das Opiat Desomorphin. In
Drogenküchen gewinnen Süchtige den Morphium-Abkömmling, indem sie
codeinhaltigen Pillen unter anderem Farbverdünner, Feuerzeugbenzin und
Phosphorsäure beimischen. Die so entstandene braune Flüssigkeit hat
katastrophale Auswirkungen auf den Körper: Der Name Krokodil rührt daher, dass
die Haut sich grünlich-grau verfärbt und schuppig wird. Die Haut um die
Einstichstelle stirbt ab, am ganzen Körper entstehen wunde und schorfige
Stellen. Der Vergleich mit dem Reptil passt aber auch aus einem anderen Grund:
Die Droge frisst ihre Konsumenten von innen her auf. Nach und nach verfaulen
ganze Körperteile, im Endstadium fällt buchstäblich das Fleisch von den
Knochen. Häufig sind Amputationen die Folge des Drogenmissbrauchs – und
praktisch immer der Tod. Er kommt beispielsweise in Form von Leberversagen oder
Verbluten durch geplatzte Blutgefäße.
Der hausgemachte Heroinersatz
ist aber nicht nur schädlicher als das Original. Ein Krokodil-Rausch hält nur
etwa zwei Stunden an, die Droge muss also viel öfter injiziert werden als
Heroin. Außerdem macht sie noch stärker abhängig, das Aufhören ist entsprechend
hart. Die körperlichen Entzugserscheinungen quälen Betroffene bis zu einen
Monat lang. Im Falle von Heroin sind es „nur“ fünf bis zehn Tage. Abgesehen
davon gibt es aber ohnehin kaum geeignete Entzugseinrichtungen.
Die Abhängigen in Bochum seien der Meinung gewesen, Heroin genommen zu haben.
Sie erlitten dabei aber „katastrophale Haut- und Weichteilschäden“, die sonst
bei Heroin kaum aufträten, sagte der Drogenarzt Elsner. Offenbar sei der Stoff
Abhängigen in der Bochumer Szene ohne ihr Wissen als Heroin verkauft worden,
sagte ein Polizeisprecher. In der Bochumer Szene herrsche ein „Riesenaufruhr“,
erläuterte die Polizei. Auch das Landeskriminalamt sei eingeschaltet.
In Russland kursiert das Rezept für Krokodil auf
einschlägigen Seiten im Internet. Der Rohstoff dafür – die Codein-Tabletten –
ist überall zu haben. Der Verkauf von codeinhaltigen Schmerzmitteln hat sich
dort in den vergangenen Jahren vervielfacht. Laut einem Sprecher des russischen
Gesundheitsministeriums gibt es zwar Pläne, eine Rezeptpflicht für
Codein-Tabletten einzuführen, eine schnelle Änderung sei aber nicht machbar.
Die Opposition wirft der Regierung Pharma-Lobbyismus vor.
Die Droge gibt es in Russland schon seit einigen Jahren, ihr Ursprung liegt
wohl in Sibirien. Große Verbreitung fand „Krok“ aber erst in den letzten
Jahren: Allein im ersten Quartal 2011 seien in Russland 65 Millionen Dosen
Desomorphin sichergestellt worden. Offizielle Schätzungen gehen von rund 100
000 Süchtigen aus, inoffizielle rechnen mit einer Million Abhängigen.
Eine Desomorphin-Suchtepidemie wie in Russland ist in Deutschland aber eher nicht zu erwarten, denn hierzulande sind codeinhaltige Arzneimittel wie Hustenstiller nur auf Rezept zu bekommen.
dpa