Krankenkassen zahlen nicht
Gegenargumente juristische
Zur gerichtlichen Kontrolle der Richtlinien des Gemeinsamen
Bundesausschusses.
Autor: Dr. jur. Peter Holtappels - Dr. med. Wilram Tiemann
Nachdem dargelegt worden ist(1) , dass es dem Gemeinsamen
Bundesausschuss (G-BA) mangels demokratischer Legitimation an seinem
rechtlichen Fundament fehlt und dass die Sozialgerichtsbarkeit sich
verfassungswidrig verhält, wenn sie sich weigert, die Richtlinien des
G-BA einer gerichtlichen Nachprüfung zu unterziehen, wird nunmehr davon
ausgegangen, diese beiden Beanstandungen würden durch Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichtes und durch nachfolgende Aktion des
Gesetzgebers bzw. durch Verfassungsgehorsam der Sozialgerichtsbarkeit
behoben.
Die Sozialgerichte müssten sich dann primär mit der Frage befassen, ob
die im Streit befindliche Richtlinie des G-BA derart geschaffen worden
ist, dass sie Allgemein- Verbindlichkeit gewinnen kann, wie es der
Gesetzgeber in § 91/IX SGB V grundsätzlich vorsieht.(2)
1. Die Rechtsgrundlage für die Schaffung von Richtlinien findet sich in
der Verfahrensordnung vom 20.9.2005, die sich der G-BA gemäß § 91/III/1
SGB V selber gegeben hat.(3) Der Zweck dieser Verfahrensordnung wird in
deren § 1/1 wie folgt definiert: Die Verfahrensordnung bezweckt
transparente und rechtssichere Entscheidungen, die dem allgemein
anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse und dessen Hinweisen zu
Qualität, Versorgungsaspekten von Alter, biologischem und sozialem
Geschlecht sowie lebenslagenspezifischen Besonderheiten entsprechen, die
berechtigten Interessen der Betroffenen angemessen berücksichtigen und
das Gebot der Wirtschaftlichkeit im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB V
beachten.(4)
2. Für den Inhalt jeder neu zu schaffenden Richtlinie sind die in dem
Abschnitt C dieser Verfahrensordnung enthaltenen Vorschriften über die
Bewertung der von den Antragstellern(5) eingereichten Unterlagen
maßgebend. Das gilt insbesondere für dessen § 18/2, mit dem die von den
Antragstellern eingereichten Unterlagen nach dem ihnen beigemessenen
Beweiswert wie folgt klassifiziert werden:
I a Systematische Übersichtsarbeiten von Studien der Evidenzstufe
I b
I b Randomisierte kontrollierte Studien
I c Andere Interventionsstudien
II a Systematische Übersichtsarbeiten von Studien zur diagnostischen
Testgenauigkeit der Evidenzstufe II b
II b Querschnitts- und Kohortenstudien, aus denen sich alle
diagnostischen Kenngrößen zur Testgenauigkeit (Sensitivität und
Spezifität, Wahrscheinlichkeitsverhältnisse, positiver und negativer
prädikativer Wert) berechnen lassen
III Andere Studien, aus denen sich die diagnostischen Kenngrößen zur
Testgenauigkeit (Sensitivität und Spezifität,
Wahrscheinlichkeitsverhältnisse) berechnen lassen
IV Assoziationsbeobachtungen, pathophysiologische Überlegungen, deskriptive
Darstellungen, Einzelfallberichte, u. ä.; nicht mit Studien belegte
Meinungen anerkannter Experten, Berichte von Expertenkomitees und
Konsensuskonferenzen
3. Bevor auf die in dieser Regelung verborgenen Probleme eingegangen
wird, sei eine kurze Darstellung Ihres historischen Hintergrundes
gestattet.
a. Die soeben dargestellte Klassifizierung ist diejenige, die sich in
den letzten 10 Jahren unter dem Titel der Evidence based medicine
(EvBM) herausgebildet hat.(6) Zu Beginn dieser Entwicklung wurde der
Begriff in den Vereinigten Staaten von Amerika wie folgt definiert: EvBM
ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der
gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für
Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten.
Die Praxis der EvBM bedeutet die Integration individueller klinischer
Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer
Forschung. Mit individueller klinischer Expertise meinen wir das Können
und die Urteilskraft, die Ärzte durch ihre Erfahrung und klinische
Praxis erwerben. Ein Zuwachs an Expertise spiegelt sich auf vielerlei
Weise wider, besonders aber in treffsichereren Diagnosen und in der
mitdenkenden und -fühlenden Identifikation und Berücksichtigung der
besonderen Situation, der Rechte und Präferenzen von Patienten bei der
klinischen Entscheidungsfindung im Zuge ihrer Behandlung. Mit bester
verfügbarer externer Evidenz meinen wir klinisch relevante Forschung,
oft medizinische Grundlagenforschung, aber insbesondere
Patientenorientierte Forschung zur Genauigkeit diagnostischer Verfahren
(einschließlich der körperlichen Untersuchung), zur Aussagekraft
prognostischer Faktoren und zur Wirksamkeit und Sicherheit
therapeutischer, rehabilitativer und präventiver Maßnahmen. Externe
klinische Evidenz führt zur Neubewertung bisher akzeptierter
diagnostischer Tests und therapeutischer Verfahren und ersetzt sie durch
solche, die wirksamer, genauer, effektiver und sicherer sind.
Gute Ärzte nutzen sowohl klinische Expertise als auch die beste
verfügbare externe Evidenz, da keiner der beiden Faktoren allein
ausreicht: Ohne klinische Erfahrung riskiert die ärztliche Praxis durch
den bloßen Rückgriff auf die Evidenz "tyrannisiert" zu werden, da selbst
exzellente Forschungsergebnisse für den individuellen Patienten nicht
anwendbar oder unpassend sein können. Andererseits kann ohne das
Einbeziehen aktueller externer Evidenz die ärztliche Praxis zum Nachteil
des Patienten leicht veraltetem Wissen folgen.(7)
b. Das von dem Arzt durch klinische Erfahrung und Praxis erworbene
Können und die dadurch ebenfalls erworbene Urteilsfähigkeit verbunden
mit Kenntnissen, die aus systematischer Forschung außerhalb der Klinik
stammen, bilden danach den besten verfügbaren Beweis. Dieser ist
gewissenhaft, vernünftig und nachvollziehbar für die Entscheidung über
die Fürsorge für den individuellen Patienten zu verwenden. Beides ist
untrennbar miteinander verbunden. Diese Bestimmung des Begriffes ist
noch heute in den USA unangefochten.(8)
c. In dem Bestreben den best evidence available für die best therapy
available zu finden, (9) hatte sich die medizinische Wissenschaft in
den USA bemüht, das reichhaltig veröffentlichte Material zu
katalogisieren und dabei Güteklassen des medical evidence eingerichtet.
Dabei wurden den zusammenfassenden Berichten (Reviews)(10) über RCTs(11)
die erste Güteklasse unter den wissenschaftlichen Veröffentlichungen
zugeteilt. Sie und die RCTs wurden hinfort als der Goldstandard
bezeichnet. (12)
d. Hervorzuheben ist jedoch, dass der Arzt in den USA in der Praxis in
jedem Einzelfall auf Grund seiner Erfahrung, der seiner Kollegen und der
aus wissenschaftlichen Veröffentlichungen gewonnenen Erkenntnisse über
die von ihm anzuwendende und zu verantwortende Therapie entscheidet.
EvBM ist ihm nur eine Methode, die ihn dabei unterstützt. (13)
e. Einen ganz anderen Verlauf nahm die Entwicklung innerhalb der
gesetzlichen Krankenversicherung der Bundesrepublik: Hier bestimmt der
Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Therapie für die Behandlung
bestimmter, definierter, pathologischer Zustände. Der G-BA nutzt die
Evidenzbasierte Medizin, um die Versorgung der Bevölkerung mit neuen
oder bereits etablierten medizinischen Behandlungsmethoden auf den
neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis zu stellen, (14) oder
- in den Worten des Bundesgesundheitsministeriums -: Der G-BA
entscheidet, was in der GKV möglich ist und was nicht. (15)
f. Der G-BA verbindet mit dem Begriff EvBM nun aber einen völlig anderen
Inhalt. Es heißt im Glossar des G-BA zu dem Begriff: Evidence-based
medicine (EvBM) zielt auf die kontinuierliche Qualitätsverbesserung
medizinischen Wissens, indem aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse
systematisch aufbereitet und für den einzelnen Arzt nutzbar gemacht
werden. Nach festen Verfahrensregeln werden wissenschaftliche
Informationen zu diagnostischen oder therapeutischen Verfahren auf ihre
Aussagekraft und klinische Relevanz überprüft. Hierdurch soll die
Anwendung unwirksamer oder sogar schädlicher Verfahren verhindert
werden. Der Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen(16) wendet das
Verfahren der EvBM bei der Überprüfung des Leistungskatalogs und der
Entscheidung über Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden an. Die
Technik der EvBM wird auch bei der Formulierung von Leitlinien
eingesetzt. (17)
g. Wiewohl in der Methodik, mit der Richtlinien geschaffen werden,
zwischen dem amerikanischen und dem deutschen EvBM kaum Unterschiede
bestehen, kann es in deren Zielrichtung keinen größeren Gegensatz geben:
Dort dient die Richtlinie zur Unterstützung des eigenverantwortlich
handelnden Arztes, hier wird sie genutzt, um diesem Vorschriften zur
Therapie zu machen.
h. Dagegen formiert sich aber seit etwa 2003 der Widerstand der
deutschen Ärzteschaft: Nach einer in diesem Jahr im Deutschen Ärzteblatt
ausgefochtenen Diskussion kamen Kienle et al. zu folgendem Resumèe: Die
Annahme, dass Ärzte die Wirksamkeit ihrer Therapien nie beurteilen
könnten und daher RCT-geprüften Angaben zu folgen hätten, führt zu einer
paternalistischen Regulation von oben, was die Begründer von
Evidence-based Medicine als deren Missbrauch (misuse) bezeichnet
hatten und wogegen sie auf die Barrikaden gehen wollten. (Clinicians
who fear top-down cook-books will find the advocates of evidence-based
medicine joining them at the barricades.) Um diesem Missbrauch zu
entgegnen, muss zusätzlich zu EvBM das Konzept und System der ärztlichen
Urteils- und Erfahrungsbildung, eine Cognition-based Medicine,
expliziert und professionalisiert werden. Eine existenzielle Aufgabe für
den ärztlichen Berufsstand. (18) 2004 formulierte Hoppe sodann: Die
konkrete Anwendung einer evidenzbasierten Leitlinie kann erst nach
Erkennung eines Patientenproblems erfolgen. In dieser Phase dominiert
zunächst die interne Evidenz des einzelnen Arztes, die sich aus
medizinischem Wissen, Praxiserfahrung und den Informationen aus der
konkreten Patent-Arzt-Beziehung ergibt.(19) Bei Kolkmann et al. heißt
es schließlich:
Evidence based medicine hat bei uns nahezu pseudoreligiösen Charakter
angenommen. Sie soll Bedeutung haben für die Beurteilung klinischer
Studien, die Beschreibung und Klassifikation von Krankheiten, für
Therapie- und Diagnosestellung, für Disease-Management-Programme, für
Prävention und Rehabilitation, für Fragen des natürlichen Verlaufs und
der Prognose sowie für die Qualitätssicherung. Evidence based medicine
wird so von vielen eine anscheinend allumfassende Zuständigkeit
zugeschrieben. Übersehen wird dabei die Gefahr, die Medizin auf Biologie
und statistische Mittel zu reduzieren. (20)
4. Gegen die trotz der Gegenstimmen - in der deutschen medizinischen
Wissenschaft und unter Gesundheitspolitikern häufig anzutreffende
Annahme, EvBM vermittle dem Arzt jenen Wissenstand, der ihm ermögliche,
seine Patienten de lege artis mit der besten verfügbaren Therapie zu
versorgen,(21) bestehen nun aber erhebliche grundsätzliche Bedenken:
a. Bei der Bearbeitung der eingereichten Unterlagen wird der G-BA als
erstes die vorgelegten systematischen Übersichtsarbeiten auswerten, denn
ihnen wird gemeinsam mit den in ihnen dargestellten Studien ein
effektiv unanfechtbarer Beweiswert, der so
genannte Goldstandard
beigemessen. Die individuelle berufliche Erfahrung des behandelnden
Arztes rangiert in der in § 20/I der Verfahrensordnung(22)
vorgeschriebener Rangfolge an letzter Stelle. Schon diese Rangfolge der
Quellen menschlicher Erkenntnis steht in einem eklatanten Widerspruch zu
derjenigen, die in den anderen Natur- und Geisteswissenschaften als
selbstverständlich gilt. Danach bewertet der dort tätige Wissenschaftler
faktische Erkenntnisse zuerst durch Vergleich mit seinem präsenten
Wissen, um die daraus abgeleitete Wertung sodann mit der Anderer zu
vergleichen. Bildlich und auf den behandelnden Arzt angewendet: Er eilt
nicht nach der Aufnahme der Diagnose zuerst in die Bibliothek und
erinnert sich seines Wissens erst, wenn er dort nicht fündig wird,(23)
sondern er geht den umgekehrten Weg: Durch Vergleich mit den Wertungen
Anderer falsifiziert, verifiziert oder korrigiert er seine faktischen
Erkenntnisse und deren Wertung. Dieses Verfahren ist es auch, das die
Repräsentanten der deutschen Ärzteschaft in ihren oben zitierten
Äußerungen anmahnen und das zudem alleine sicherstellen kann, dass der
deutsche Arzt seinen zivilrechtlichen Pflichten gegenüber seinen
Patienten nachkommen. Er schuldet diesen nämlich Fürsorge und Sorgfalt in
der Ausübung seiner Tätigkeit und ist deshalb verpflichtet, sich aus
allen ihm verfügbaren, seriösen Quellen jene Kenntnis zu verschaffen,
die es ihm ermöglicht, sie de lege artis zu behandeln. Nur solches
Verhalten entspricht dem dynamischen medizinischen Standard(24) , mit
dessen Einhaltung er seine Haftung vermeiden kann.(25) So wird er also
vorrangig seine Erfahrung, das in seiner Klinik oder bei seinen
unmittelbaren Kollegen akkumulierte und in Konsilien artikulierte Wissen
und sodann die wissenschaftliche Literatur seines Faches für die
Ermittlung der best therapy available verwenden.(26) Dabei hat die aus
der wissenschaftlichen Literatur erworbene Vermehrung der bereits
vorhandenen Kenntnisse nota bene eine ergänzende oder absichernde
Funktion.
b. Die Vorstellung, der Goldstandard, der in den systematischen
Übersichtsarbeiten der Klasse Ia etabliert sein soll, sei Beweis
wissenschaftlicher Begründung ärztlicher Tätigkeit, offenbart zudem ein
Verständnis von Wissenschaft, das jedenfalls für die anderen Natur-
und Geisteswissenschaften - lange überholt ist.(27) Seit Poppers
Untersuchungen herrscht Konsens in der neueren Wissenschaftstheorie,
dass das Falsifikationsprinzip Bestandteil jeder Wissenschaft zu sein
hat.(28) Das aber schließt die Bewertung eines Forschungsergebnisses als
axiomatisch aus. Kienle und Kiene weisen in diesem Zusammenhang zu Recht
darauf hin, dass der Konzentration der medizinischen Wissenschaft auf
die EvBM Methodik der längst überholte Positivismus des beginnenden
20. Jahrhunderts zugrunde liegt (29) Schließlich dürfte es sich bei der
Annahme, RCTs lieferten einen wissenschaftlich begründeten Schluss von
bekannten Folgen auf deren Ursachen, um einen Fehlschluss handeln: Sie
stellen nämlich lediglich eine Verbindung oder Assoziation her und das
ist kein Beweis für Kausalität, wie sie die Naturwissenschaften
ansonsten jedenfalls anstreben.
c. Jedes ordnungsgemäß durchgeführte Verfahren des randomisierten
Blindversuches ist extrem teuer. Unter den Forschungsinstitutionen hat
es sich deshalb eingebürgert, solche Verfahren durch Sponsoren
finanzieren zu lassen. Diese bestimmen mithin das Thema der jeweiligen
Untersuchung nach Maßgabe des Nutzens, den sie davon haben.(30)
Pharmazeutische Unternehmen, die mit wenigen Medikamenten große Umsätze
machen sind so stellen Kiene und Kienle fest - deshalb die Gewinner in
diesem EBM Biotop(31) . Solche Auftragsforschung mag zwar in ihrer
Methodik wissenschaftlich sein,(32) in der Themenauswahl ist sie es
jedoch offensichtlich nicht. Sie ist zugleich ein offener Verstoß gegen
die medizinische Ethik. Wo Forschung ganz oder überwiegend zum Nutzen
der Mitglieder des medizinisch - industriellen Komplexes(33) betrieben
wird, steht der Mensch eben nicht mehr im Vordergrund. Mit seinem
Beschluss vom 6.12.2005 hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt,
dass derartige Verhaltensmuster nicht mit jenen Voraussetzungen
übereinstimmen, von denen unser Rechtsstaat lebt.(34) Zudem behindert
derartige an außerwissenschaftlichen Interessen orientierte Forschung
zwangsläufig auch deren Fortschritt.
d. Eine Übersichtsarbeit ist eine Zusammenfassung von Studien über ein
bestimmtes medizinisches Thema. Bei den Studien handelt es sich in der
Regel um randomisierte Blindversuche. Die Auswahl der Themen, der
Studien und deren Auswertung obliegt dem Autor der Übersichtsarbeit. Für
die Herstellung von Studien haben sich strikte, international anerkannte
und befolgte Methoden etabliert.(35) Gleiches gilt jedoch nicht für die
Übersichts- arbeiten.(36) Bei deren Prüfung fällt dann auch zuweilen
auf, dass der Autor die Ergebnisse der Studien derart manipuliert hat,
dass das Ergebnis seiner Arbeit seiner vorgefassten Meinung
entsprach.(37) Nun sind die Berichte über derartiges Verhalten aus jeder
modernen Wissenschaft Legion. Sie schaden üblicherweise nur dem Ruf
der jeweiligen Wissenschaft. Hier aber tritt der Schaden immer bei
Dritten, nämlich den in der GKV Versicherten, und zudem als
Gesundheitsschaden auf. Wo keine konkreten Maßnahmen zur Verhinderung
solcher Manipulationen entwickelt werden, sollte auch nicht weiter
unterstellt werden dürfen, dass die Ergebnisse derartiger Arbeiten per
se wahr (Goldstandard) und geeignet wären, als Basis für Richtlinien zu
dienen, mit denen Ärzten Therapien vorgeschrieben werden.
e. Für eine große Zahl von therapeutischen Alltagsaufgaben des Arztes
verbietet sich die Anwendung der EvBM schließlich aus der Natur der
Sache. Für den Nachweis der Notwendigkeit eines operativen Eingriffes
bei einer Appendektomie bedarf es ebenso wenig einer randomisierten
Blindstudie wie für eine Fülle von anderen chirurgischen Eingriffen.
Ähnliches gilt nach den Shapiros für die Psychoanalyse und die
Psychotherapie. (38)
f. Der Aussagewert von RCTs und damit der darauf aufbauenden
Übersichtsarbeiten ist zudem naturgemäß beschränkt. Kliene und Kiene
beschreiben das wie folgt: RCTs können die Frage untersuchen, ob eine
bestimmte Therapie in einem genau definierten Setting für eine
spezifische Gruppe von Patienten mit genau definierter Diagnose einen
bestimmten, aus wissenschaftlicher Sicht relevanten Vorteil bringt.
Diese Information hilft jedoch den meisten Ärzten nicht viel. Vor allem
in die Primärversorgung kommen meist Patienten mit unspezifischen
Symptomen, oft gar keinen Diagnosen, in frühen Krankheitsstadien, mit
mehreren Erkrankungen und mit ganz unterschiedlichen Zielen.(39) In der
Praxis des Einzelfalls ist die Richtlinie also entweder gar nicht
(Geriatrie und Pädiatrie) oder - in anderen Anwendungsbereichen nur
eingeschränkt anwendbar. So berichten Kolkmann et al., man schätze, dass
maximal ein Viertel der Patienten eines normalen Krankenhauses den Ein-
und Ausschlusskriterien solcher Studien entsprechen, sodass streng
genommen die Ergebnisse entsprechender Studien für den einzelnen Kranken
nicht angewandt werden können.(40)
g. Dem entspricht es , wenn Kienle und Kiene - unter Berufung auf eine
amerikanische Studie - folgern, dass die bisherige RCT - Forschung
weniger als 1 % der Patienten betrifft, die medizinische Hilfe benötigen.
Von 1000 Personen der Bevölkerung (USA) haben im Monat
800 Personen eine Erkrankung, Unfall oder Beschwerde
327 erwägen medizinische Behandlung in Betracht
217 besuchten einen Arzt
(113 Allgemeinmediziner, 104 Spezialisten)
65 besuchten Komplementärmediziner
21 suchten eine Ambulanz auf
14 erhielten häusliche Versorgung
13 erschienen in der Notaufnahme
8 stationär wurden aufgenommen, davon <1 in einem akademischen
Krankenhaus.(41)
5. Weil die oben geschilderten Fehler und Widersprüchlichkeiten des EvBM
Verfahrens systemimmanent sind, trüge der G-BA in jedem Verfahren vor
einem Sozialgericht die Beweislast dafür, dass die Richtlinie, die den
Gegenstand des Verfahrens bildet, frei von diesen Fehlern und
Widersprüchlichkeiten ist. Wenn dieser Beweis erbracht worden ist,
müsste sich das Gericht der Frage zuwenden, ob bei der Erstellung der in
diesem Verfahren streitigen Richtlinie weitere Fehler unterlaufen sind.
Das gilt insbesondere für die folgenden, die in der Praxis häufig
auftreten:
a. Fehler bei der Beschaffung der notwendigen großen Zahl an Patienten.(42)
b. Fehler bei randomisierten Zuordnung von Patienten in die
Interventions- bzw. Kontrollgruppe.
c. Die asymmetrische Beweiskraft: Ein negatives RCT-Ergebnis ist kein
Beweis der Unwirksamkeit der Therapie.(43)
d. Sonstige Fehler bei der Durchführung der randomisierten Studie.(44)
e. inkorrekte medizinische Darstellungen bzw. Folgerungen.
Die hier genannten möglichen Mängel sind solche, die unter Verletzung
der genormten Vorschriften und Usancen für die Erstellung einer
Richtlinie entstanden sein können. Für sie trägt deshalb der Kläger die
Beweislast. Hinsichtlich eines möglichen Mangels in der medizinischen
Bewertung wird er ihn nur mit Hilfe eines medizinischen Sachverständigen
führen können.
6. Zusammenfassend ist festzustellen:
" Das vom G-BA für die Erstellung einer Richtlinie gemäß seiner
Verfahrensordnung angewendetes Verfahren der EvBM ist mit derart
gravierenden systemimmanenten Mängeln und Widersprüchen behaftet, dass
es die widerlegliche Vermutung in sich trägt, die auf diese Art
entstandenen Richtlinien seien rechtswidrig.
" Das Verfahren hat häufig weitere Mängel.
" Das Verfahren der EvBM entspricht nicht dem allgemeinen
Wissenschaftsbegriff.
" Die Ergebnisse des Verfahrens der EvBM sind in der medizinischen
Praxis häufig wertlos. Das gilt insbesondere wo es sich um Kinder, Alte
oder multimorbide Patienten oder um Tätigkeitsfelder medizinischer
Tätigkeit wie Chirurgie, Psychoanalyse oder Psycho- Therapie handelt.
" Das Verfahren der EvBM ist häufig von Sponsoren finanziert, die die
Richtung der Untersuchung bestimmen. Das widerspricht der medizinischen
Ethik und hemmt den medizinischen Fortschritt.
" Das Verfahren der EvBM ist geeignet, dem Arzt für seine Tätigkeit im
Einzelfall wertvolle Hinweise zu liefern. Darin aber beschränkt sich
aber auch sein Wert. Es beschreibt insbesondere nicht den Königsweg zur
Heilung von Kranken.
7. Selbst wenn sie mangelfrei entstanden und in der Praxis anwendbar
sind, können Richtlinien gleichwohl rechtswidrig sein. Das ist der Fall,
wenn ihre Anwendung zu verfassungsrechtlich unzulässigen Ergebnissen
führt. Das wissen wir seit der Entscheidung des 1. Senates des
Bundesverfassungsgerichtes vom 6.12.2005(45) . Der Leitsatz dieser
Entscheidung lautet:
Es ist mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem
Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar,
einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder
regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem
Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der
Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten
Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt
liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung
auf den Krankheitsverlauf besteht.
Diesem Beschluss lag der folgende Sachverhalt zu Grunde: Der
Beschwerdeführer litt unter der Duchenne`schen Muskeldystrophie (DMD),
für die es keine wissenschaftlich anerkannte Therapie gibt, die eine
Heilung oder eine nachhaltige Verlängerung des Krankheitsverlaufs
bewirken könnte. Er wurde von einem Facharzt für Allgemeinmedizin
behandelt, der über eine Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung
nicht verfügte. Bei seiner Behandlung wurde die Bioresonanztherapie
angewandt, die 1999 unter der Nummer 17 in die Anlage B der heutigen
Richtlinie Methoden Vertragsärztlicher Versorgung übernommen wurde und
damit gemäß § 1/II dieser Richtlinie von der vertragsärztlichen
Versorgung ausgeschlossen war.(46) Unter dieser Therapie nahm die
Krankheit gleichwohl einen günstigen Verlauf, was die konsultierten
Ärzte der Orthopädischen Klinik einer Technischen Hochschule bestätigten.
Die Sozialgerichte wiesen den Anspruch auf Ersatz der für die Behandlung
aufgewendeten Kosten unter Hinweis auf die Rechtslage (§ 135/I SGB V)
durch alle Instanzen ab. Das Bundesverfassungsgericht hob das Urteil des
Bundessozialgerichtes jedoch auf und wies dieses an, auf der Grundlage
der in seiner Entscheidung entwickelten und im Tenor seiner Entscheidung
zum Ausdruck gebrachten Grundsätze neu über die Revision zu befinden.
Die Entscheidung ist unter verschiedenen Gesichtspunkten gewürdigt
worden.(47) Hier soll lediglich untersucht werden, welche Auswirkung sie
auf die Spruchpraxis der Sozialgerichte haben könnte.
Das Bundesverfassungsgericht hat diese Entscheidung zwar auf eine
Fallgruppe beschränkt, sie aber nicht als Ausnahme dargestellt, die nur
der Durchsetzung von Gerechtigkeit im Einzelfall diene. Es hat damit die
Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses allerdings nur indirekt
- in Frage gestellt.(48) Diese Tatsache wie der wenig konziliante Ton,
in dem der Senat mit dem Bundessozialgericht umgesprungen ist, legt die
Frage nach dem Grunde nahe. Er könnte in der Stellungnahme liegen, die
der G-BA auf Auforderung des Senates zu diesem Fall abgegeben hat. Diese
lautet:
Eine Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung in
Fällen, in denen eine nicht allgemein wissenschaftlich anerkannte
Methode im konkreten Fall Wirkung zeige, werde nicht befürwortet. Der
Wirkungsnachweis im Einzelfall sei nicht zu führen. Der vermeintliche
Erfolg einer Therapie stelle sich oftmals nur als positive
Krankheitsentwicklung heraus, die kurze Zeit später durch einen Rückfall
in die alten Leiden beendet werde. Selbst wenn eine Krankheit als
ausgeheilt gelten könne, sei es nicht möglich nachzuweisen, dass der
Heilerfolg auf die gewählte Behandlungsmethode zurückzuführen sei. Das
liege daran, dass Krankheiten in vielen Fällen in einem nicht
vorhersehbaren oder rekonstruierbaren Spontanverlauf heilten. Bekannt
sei auch die Wirkung von Behandlungen ohne medizinisch-physischen
Ursachenzusammenhang (Placebo-Effekt). Würde sich die Ansicht
durchsetzen, die Krankenkassen seien auch bei Wirkung einer Methode im
Einzelfall zur Kostentragung verpflichtet, sähe man sich mit dem
Grundproblem konfrontiert, dass sich die Wirkung einer Therapie
allenfalls ex post feststellen lasse, Arzt und Patient aber vor dem
Behandlungs- beginn die geeignete Therapie bestimmen müssten. Eine
Kostenerstattung aufgrund eines Wirksamkeitsnachweises im Einzelfall
würde die medizinisch unverantwortliche Entscheidung für unerforschte,
riskante Methoden mit geringer Wirkungswahrscheinlichkeit bei Auftreten
eines eher zufälligen Behandlungserfolgs belohnen. Zudem wäre der
Patient, bei dem die Methode zufällig nicht angeschlagen habe,
finanziell benachteiligt. Des Weiteren würden unkontrollierte
Heilversuche zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung unterstützt.
Schließlich würde eine Flut von Rechtsstreiten darüber ausgelöst, ob ein
Behandlungserfolg vorliege und was die Ursache für ihn gewesen sei.(49)
Diese Stellungnahme könnte Empörung der Mitglieder des 1 Senates des
Bundesverfassungsgerichtes wohl begründet haben: Wer meint, eine bei
einem todkranken Menschen wirksame Therapie dürfe diesem vorenthalten
werden, weil ein Rückfall möglich oder die Kausalität nicht nachzuweisen
sei oder es sich bei der Linderung seiner Leiden um den Placebo-Effekt
gehandelt haben könnte, verkennt sowohl die rechtlichen wie auch die
ethischen Pflichten jedes Arztes.(50) Rechtlich völlig unerträglich ist
zudem die in der Stellungnahme zum Ausdruck gebrachte Grundeinstellung
gegenüber einem Patienten mit einer lebensbe- drohenden Krankheit. Die
Anerkennung einer neuen Behandlungsmethode soll für ihn nach Ansicht des
G-BA so lange ausgesetzt werden, bis sich deren allgemeine Wirkungsweise
ex ante nachweisen lässt.(51) Damit aber wird er de facto zum Tode
verurteilt. Die Antwort des Bundesverfassungsgerichtes auf diese
Zumutungen blieb nicht aus. Es sah sich veranlasst, den deutschen
Behörden (dem G-BA) und Fachgerichten folgendes in Erinnerung zu rufen:
Das Leben stellt einen Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen
Ordnung dar. Behördliche und gerichtliche Verfahren müssen dieser
Bedeutung und der im Grundrecht auf Leben enthaltenen grundlegenden
objektiven Wertentscheidung gerecht werden und sie bei der Auslegung und
Anwendung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungs- rechts
berücksichtigen.(52)
Aus dieser Feststellung des Bundesverfassungsgerichtes wie aus seinem
Urteilstenor ergibt sich ein Prüfschema, das in Anlehnung an Francke und
Hart und das Urteil des BSG vom 4.4.2006 für die Begründung einer
verfassungsrechtlichen Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen
außerhalb der Regelungen des SGB V genutzt werden kann(53) Danach muss
1. eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Krankheit
vorliegen, für die
2. eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende
Behandlungmethode nicht zur Verfügung steht, für die aber
3. eine Methode gewählt wird, die
4. auf Indizien gestützt,
5. die Wahrscheinlichkeit einer Aussicht auf
6. Heilung oder jedenfalls eine spürbare positive Einwirkung auf den
Krankheitsverlauf
7. verspricht.
8. Darzustellen bleibt, inwieweit sich der Beschluss des
Bundesverfassungsgerichtes analog oder entsprechend anwenden lässt.
a. Das BSG hat die Grundsätze des Beschlusses in seinem Urteil vom
4.4.2006 auch auf Arzneimittel angewendet,(54) dabei jedoch folgende
Vorbedingungen gestellt:
1. Es darf keine Verstoß gegen das AMG vorliegen und
2. Vor der Behandlung müsse eine sowohl abstrakte wie auf den
Versicherten bezogene konkrete Kosten/Nutzen Analyse erstellt werden und
schließlich
3. müsse sie fachärztliche Behandlung entsprechend der ärztlichen Kunst
durchgeführt und ausreichend dokumentiert werden.
Die Begründung des BSG für diese Auflagen erinnert an das berühmte
Kreuzbergurteil vom 14.6.1882, mit dem das preußische OVG der
preußischen Polizei ihre Neigung zu paternalistischen Bevormundung der
Untertanen Ihrer Majestät abgewöhnt hat. Es besteht kein Anlass, solchem
Verhalten zu einer Renaissance zu verhelfen.
b. Ist der Beschluss des BverfG wie ein Gesetz auszulegen, so ist er
auch auf andere Einzel- fälle analog anzuwenden. Das gilt für die
Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), die ihr verwandte progressive
Bulbärparalyse, die Mukoviszidose, die Glasknochenkrankheit und Chorea
Huntington. All diesen Krankheiten ist gemeinsam, dass sie regelmäßig
tödlich sind und für sie eine allgemein anerkannte, medizinischem
Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht. Fraglich
ist, ob und inwieweit die Grundsätze des Beschlusses des BverfG auch
entsprechend angewendet werden können. Das BSG hat in den
Terminberichten 18/06 Hinweise zu einer von ihm offenbar beabsichtigten
derartigen Erweiterung des Anwendungsbereiches gegeben. So wird
überlegt, die Grundsätze auch bei Erkrankungen anzuwenden, die zwar
weder lebensbedrohlich noch regelmäßig tödlich, jedoch angesichts ihrer
Schwere und des Ausmaßes der aus ihr folgenden Beeinträchtigungen dem
wertungsmäßig gleichzustellen seien. Als gravierende gesundheitliche
Beeinträchtigung wird auch die drohende Erblindung erwähnt und
schließlich sollen ausfüllungsbedürftige Versorgungslücken die
entsprechende Anwendung der vom BverfG entwickelten Grundsätze ebenfalls
rechtfertigen. So erfreulich solche Entscheidungen im Einzelfall für die
betroffenen Versicherten sein mögen, der Mangel in dieser Aufzählung
liegt in ihrer fehlenden Systematik. So wird sich eine an objektiven
Maßstäben orientierte und gleichmäßige Praxis der
Leistungsgewährung(55) nicht erreichen lassen.(56)
9. Wir kommen unter Einschluss der Untersuchung zur demokratischen
Legitimation des G-BA und zur Justitiabilität der Richtlinien
desselben(57) - zu folgendem Ergebnis:
" Es gibt guten Grund für die Annahme, der zuständige 1. Senat des
Bundesverfassungsgerichtes werde demnächst entscheiden, es fehle dem
G-BA an der notwendigen demokratischen Legitimation.
" Gleich guten Grund gibt es für die Annahme, die deutsche
Sozialgerichtsbarkeit werde sich des Art. 19/IV GG erinnern oder vom
Bundesverfassungsgericht dazu angehalten werden.
" Kommen die bisher verabschiedeten Richtlinien sodann auf den
gerichtlichen Prüfstand, so werden die meisten von ihnen den Test nicht
bestehen, schon weil der G-BA den Beweis ihrer Freiheit von
systemimmanenten Mängeln nicht wird erbringen können.
Das Ergebnis dieses Szenarios wäre nun keineswegs eine
gesundheitspolitische Katastrophe, wie das gerne kolportiert wird,
sondern vielmehr die Rückkehr der deutschen Medizin auf den Pfad der
Tugend: Der G-BA würde sich zuvörderst der Korrektur seiner bisherigen
Richtlinien durch Einbeziehung der jeweiligen medizinischen und
juristischen Standards zu widmen haben. Er sollte dabei davon ausgehen,
dass jeder deutsche Arzt seinen Beruf grundsätzlich im wahren Sinne
dieser Worte nach bestem Wissen und Gewissen ausübt.(58) Zur
Verdeutlichung unserer Ansicht mag jenes Bild verhelfen, das sich zu
Anfang des siebten Buches der Politeia von Platon findet: Hinter den
gefesselten Höhlenmenschen befindet sich das Licht, das ihre Schatten
auf die Wand vor ihnen wirft. Die Schatten sind nicht die Wahrheit, das
Licht ist es.
Dr. jur. Peter Holtappels - Dr. med. Wilram Tiemann
Datum: 14.12.2006
Dr. Peter Holtappels
Windmühlenstieg 5
22607 Hamburg
Tel.: 40 824259
Fax.: 40 81957320
e-mail: mailto:peter@holtappels.de
Dr. med. Wilram Tiemann
Facharzt
An den Schwingewiesen 20
21682 Stade
Te.: 04141 88288
Fax.: 04141 982782
Literatur:
1) www.medizinrecht.de/
Aktuell/ Kostenfreie Beiträge bzw.
MedizinRecht.de Newsletter vom 08.12.06
2) Nach § 91/IX SGB V sind die Beschlüsse des Gemeinsamen
Bundesausschusses mit Ausnahme von.....für die Versicherten, die
Krankenkassen und für die an der ambulanten ärztlichen Versorgung
teilnehmenden Leistungserbringer und die zugelassenen Krankenhäuser
verbindlich.
3) Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 20. September
2005, veröffentlicht im Bundesanzeiger 2005 S. 16 998, in Kraft getreten
am 1. Oktober 2005
4) Schon bei der ersten Lektüre dieser Vorschrift entsteht Befremden:
Wenn in einem demokratischen Rechtsstaat die Verwaltung meint, sie könne
Vorschriften kreieren, die rechtssicher sind, dann ist dort über die
Gewaltenteilung offensichtlich noch nicht genügend nachgedacht worden.
5) Antragsberechtigt sind nach § 11/II der Verfahrensordnung die an dem
Verfahren beteiligten Institutionen des Gesundheitswesens.
6) Anlässlich der Verleihung der Salomon-Neumann-Medaille durch die
DGSMP an den Gemeinsamen Bundesausschuss bezeichnete die DGSMP die
Verfahrensordnung als ein Schlüsseldokument Evidenzbasierter Medizin.
(Presseverlautbarung des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 27.9.2006)
7) David L Sackett, William M C Rosenberg, J A Muir Gray, R Brian
Haynes, W Scott Richardson in Evidence based medicine: what it is and
what it isn"t; BMJ 1996;312:71-72 (13 January). Evidence based medicine
is the conscientious, explicit, and judicious use of current best
evidence in making decisions about the care of individual patients. The
practice of evidence based medicine means integrating individual
clinical expertise with the best available external clinical evidence
from systematic research. By individual clinical expertise we mean the
proficiency and judgment that individual clinicians acquire through
clinical experience and clinical practice. Increased expertise is
reflected in many ways, but especially in more effective and efficient
diagnosis and in the more thoughtful identification and compassionate
use of individual patients" predicaments, rights, and preferences in
making clinical decisions about their care. By best available external
clinical evidence we mean clinically relevant research, often from the
basic sciences of medicine, but especially from patient centred clinical
research into the accuracy and precision of diagnostic tests (including
the clinical examination), the power of prognostic markers, and the
efficacy and safety of therapeutic, rehabilitative, and preventive
regimens. External clinical evidence both invalidates previously
accepted diagnostic tests and treatments and replaces them with new ones
that are more powerful, more accurate, more efficacious, and safer. Good
doctors use both individual clinical expertise and the best available
external evidence, and neither alone is enough. Without clinical
expertise, practice risks becoming tyrannised by evidence, for even
excellent external evidence may be inapplicable to or inappropriate for
an individual patient. Without current best evidence, practice risks
becoming rapidly out of date, to the detriment of patients. Deutsche
Übersetzung von Holger Pschichholz, Abteilung für Medizinische
Informatik, Universitätsklinikum in Freiburg (www.evidence.de)
8) Sackett: EVBM is the integration of clinical expertise, patient
values, and the best evidence into the decision making process for
patient care. Clinical expertise refers to the clinician"s cumulated
experience, education and clinical skills. The patient brings to the
encounter his or her own personal and unique concerns, expectations, and
values. The best evidence is usually found in clinically relevant
research that has been conducted using sound methodology.
http://www.hsl.unc.edu/
Services/Tutorials/EvBM/whatis.htm
9) Diesem therapeutischen Ethos kann man nur zustimmen. Kienle und Kiene
in Besonderheiten bei der Evaluation der Anthroposophischen Medizin:
Die Beurteilung des Nutzens im Spannungsfeld von EBM und medizinischer
Realität. www.merkurstab.de
10) Systematische Übersichtsarbeit über randomisierte kontrollierte Studien
11) Randomized controlled trials.
12) Diese Bezeichnung wird im angelsächsischen Bereich aber auch für
Medikamente oder Therapien der ersten Wahl benutzt: Levodopa is the
gold-standard therapy for Parkinsons disease.
13) Tonelli verwirft die gesamte Klassifizierung und vertritt die
Ansicht, der Arzt habe seine Kenntnisse aus fünf Quellen zu beziehen:
(1) empirical evidence, (2) experiential evidence, (3) physiologic
principles, (4) patient and professional values, and (5) system
features.( Respir Care. 2001 Dec;46(12):1435-40; discussion 1440-1.)
14) Pressemitteilung des G-BA vom 27.9.2006
15)
http://www.die-gesundheitsreform.de/solidarisch_versichern/grundlagen/selbstverwaltung/index.html
Die Rechtsgrundlage für diese Omnipotenz findet sich in § 92/I SGB V.
Danach beschließt der Gemeinsame Bundesausschuss die zur Sicherung der
ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewährung für
eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der
Versicherten. Er kann dabei die Erbringung und Verordnung von Leistungen
oder Maßnahmen einschränken oder ausschließen, wenn nach dem allgemein
anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse der diagnostische oder
therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit oder die
Wirtschaftlichkeit nicht nachgewiesen sind. Nach § 91/IX SGB V sind die
Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses mit Ausnahme von.....für
die Versicherten, die Krankenkassen und für die an der ambulanten
ärztlichen Versorgung teilnehmenden Leistungserbringer und die
zugelassenen Krankenhäuser verbindlich.
16) Nunmehr Gemeinsamer Bundesausschuss
17) (http://www.g-ba.de/cms/front_content.php?idcat=32)
18) Dt Ärztebl 2003; 46: A-3000
19) Zeitschrift für ärztliche Fortbildung und Qualität im
Gesundheitswesen Jahrgang 98, Heft 3, 05-2004, Seiten 174-175 2), so
auch Franke/Hart, MedR2006 3 S 131/134.
20) Dt Ärztebl. 2004; 20: A 1409 ff 1412. Dagegen Kühlein 2004; 26: A
1879. Wie Kolkmann et al. auch Wichert, Dt Ärztebl. 2005; 22: A 1569.
Vergl. auch Antes Dt Ärztebl 1999; 96: A-616622 und Kritische Aspekte
der Nutzung und Bewertung evidenzbasierter Literatur und Leitlinien in
BQS Qualitätsreport 2004 Kapitel 33, S. 355 ff
(http://www.bqs-qualitaetsreport.de/2004/grundlagen/Recherche/kritische_aspekte).
21) Dass sich Entscheidungen zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens
nicht allein auf die Analyse und Bewertung der vorliegenden Evidenz
stützen lassen, das ist die eine Wahrheit. Natürlich sind kulturelle
Normen, Traditionen und ökonomische Rahmenbedingungen wie
Machtverhältnisse in der Gesellschaft immer maßgeblich beteiligt. Die
andere Wahrheit aber ist, dass die Fortentwicklung des
Gesundheitssystems weniger beliebig und deutlich transparenter verläuft,
wenn die evidenzbasierte Medizin systematisch in die
Entscheidungsprozesse eingebunden ist. Dass wir heute mit dem G-BA, in
Kooperation mit dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im
Gesundheitswesen und beratenden Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern an diesem Punkt angelangt sind, das ist ein
entscheidender Fortschritt, das ist eine Innovation für unser
Gesundheitssystem (Der stellvertretene Vorsitzende des G-BA am
27.9.2006 in einer Presse -mitteilung des G-BA)
22) Soweit qualitativ angemessene Unterlagen dieser Aussagekraft nicht
vorliegen, erfolgt die Nutzen-Schaden-Abwägung einer Methode aufgrund
qualitativ angemessener Unterlagen niedrigerer Evidenzstufen. Die
Anerkennung des medizinischen Nutzens einer Methode auf Grundlage von
Unterlagen einer niedrigeren Evidenzstufe bedarf jedoch auch unter
Berücksichtigung der jeweiligen medizinischen Notwendigkeit zum Schutz
der Patienten umso mehr einer Begründung, je weiter von der Evidenzstufe
1 abgewichen wird.
23) So aber wohl Genzel, wenn er schreibt, die EvBM solle die ärztliche
Erfahrung und die praktische Anwendung mit in die Entscheidung
einbeziehen...Erfahrungsbasierte Standards sind ..dort möglich, wo eine
wissenschaftliche Evidenz nicht erreichbar ist. (in Laufs/Uhlenbruck,
Handbuch des Arztrechtes 3. Aufl. 2002 RN 76c)
24) DGMR Workshop 2003 - Empfehlungen (MedR 2003, 711) Der medizinische
Standard gibt den jeweils aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen
Erkenntnisstand unter Berücksichtigung praktischer Erfahrung und
professioneller Akzeptanz wieder. Er wird aus einzelnen
Forschungsergebnissen, Lehrmeinungen und institutionalisierten
Expertenkommissionen gewonnen und ist niedergelegt in
Originalpublikationen, wissenschaftlichen Übersichtsarbeiten und
Lehrbüchern. Hieraus können sich verschiedene, aber auch gleichwertige
Behandlungswege ergeben. Dieser Standard kennzeichnet den Maßstab für
medizinische Behandlungsabläufe, der sowohl für das ärztliche
Berufsrecht, das Arzthaftungsrecht und die strafrechtliche
Verantwortlichkeit als auch im sozialrechtlichen Behandlungsverhältnis
gleichermaßen gilt, vgl. § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V. (Dazu auch Wienke in
Hess. Ärzteblatt 12/2003 S. 640 ff)
25) Laufs in Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechtes 2. Auflage 2002
§ 3 RN 16; § 6 RN 30; § 39 RN 6 und 9; § 99 RN 3 ff und 20 ff.; § 100 RN
6 ff.
26) Laufs a.a.O. und Antes Dt Ärztebl 1999; 96: A-616622 Heft 10
27) So auch von Wichert, Deutsches Ärzteblatt 102/A-1569 ff
28) Popper, Wissenschaft: Vermutungen und Überlegungen in Vermutungen
und Überlegungen, Bd. I S. 46 ff. So auch Köbberling in AMF online
-http://www.uni-duesseldorf.de/AWMF/konfer/wissmed1.htm
29) a.a.O. S. 3 Ihre Ansicht EvBM lasse die ärztliche Fähigkeit zur
Beurteilung der Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen außer Acht,
überzeugt jedoch nicht. Sackett schließt sie mit der Referenz auf die
individual clinical expertise ein und nicht aus. ( Siehe oben FN 7)
30) De Maeseneer et al The need for research in primary care Lancet
362 1314 1319 (2003); Kienle und Kiene a.a.O S. 10
32) Auch das scheint nicht immer gewährleistet, so wenn der
Vizepräsident von Eli Lilly, Patty I. Raley, sich in einer wissen-
schaftlichen Zeitschrift völlig unkritisch zu den RCTLS äußert.( Science
Editor, September October 2000, Vol 23 Nr 5 157)
33) Dörner K. Der gute Arzt, 2. Auflage, 2003: S.18
35) Der Grad der Übereinstimmung des Studienergebnisses mit der
Wirklichkeit (Validität) wird dabei ebenso geprüft, wie die Freiheit der
Studie von systematischen Fehlern (bias).
36) Obwohl insbesondere die Cochrane Collaboration sich erfolgreich
darum bemüht. Vergl dazu Antes; Dt Ärztebl 1999; 96: A-616622
37) So zum Beispiel Kienle Der sogenannte Placeboeffekt (1995) in
welcher Arbeit Beecher nachgewiesen wird, dass er Studien manipuliert hat.
38) The Powerful Placebo, Arthur K und Elaine Shapiro, 1997 S. 230 ff
41) a.a.O. S. 4, N Engl J Med 2001, 344:2021-2025, www.annfammed.org/vol 2/suppl.1/March/April 2004
42) Altman et al Absence of evidence is not evidence of absence in BMJ
1995; 311:485 (19 August) Dazu auch die Studie des Monats September 2006
des Deutschen Netzwerks evidenzbasierter Medizin, in deren Besprechung
nicht gerügt wird, dass eine Studie über Konjunktivitis nicht auf 300
Patienten in drei Gruppen beschränkt sein sollte.
(http://www.ebm-netzwerk.de/netzwerkarbeit/september)
43) Altman et al. A.a.O.; Kienle und Kiene a.a.O. S. 7 mit weiteren
44) Kiene beschreibt die folgenden Faktoren: Therapiefehler, falsche
Dosierung; zusätzliche und kompensatorische Behandlung; spezifisch
wirksame Placebobehandlung; Drop-outs und Non-Compliers; Kontamination
und Intention-to-treat Analyse; Mangelnder Informed Consent;
Gefälligkeitsauskunft, experimentelle Unterordnung; Mangelnde
Differenzierungskraft der Erhebungsmethode; Tendenz zu mittelwertigen
Angaben; Gruppenangleichung (Nivellierung); Konditionierungseffekte;
Kognitive Interaktionen; Störung des Arzt-Patienten-Verhältnisses;
Fehlattribution; Simplifiziertes Studiendesign (Mega-Studien) (Kienle
und Kiene a.a.O. S. 9 mit weiteren Nachweisen)
6.12.2005(http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs
20051206_1bvr034798.html), NJW 2006/891 ff.
46) Sie war es nach § 135/I SGB V auch schon zuvor, weil ine positive
Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses in Form einer Richtlinie
nicht vorlag. (BSG 16.9.1997 1 KR 28/95; BSGE 81,54, NJW 1999/1805 ff
47) Siehe dazu die Besprechungen von Kingreen in NJW 2006/877 ff., von
Franke und Hart in MedR 2006/131 ff und die Darstellung des Falles in
Tolmein Keiner stirbt für sich allein Bertelsmann 2006; S. 103 ff.
Besonders interessant in diesem Zusammenhang die Ausführungen von
Francke und Hart zu den Standards des Heilversuches (a.a.O., S. 133 ff)
48) Kingreen meint, es sei ohnehin an der Zeit, das
verwaltungsrechtliche Unikat der Außenwirkung der Richtlinien zu
49) BVerfG, 1 BvR 347/98 vom 6.12.2005, Absätze 45 und 46,
http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs
20051206_1bvr034798.htmla.a.O. In
50) Der Gesetzgeber hat allerdings in der Einzelbegründung zu § 2/I
SGB V - schon 1988 formuliert, es sei nicht die Aufgabe der
Krankenkassen, die medizinische Forschung zu finanzieren und zwar auch
dann nicht, wenn neue Methoden im Einzelfall zu einer Heilung der
Krankheit oder Linderung der Krankheitsbeschwerden
führten.(BT-DR.11/2237. S. 157)
51) anderer Ansicht das BSG, SozR 3-2050 §13 Nr.2
53) a.a.O S. 133, BSG, Urteil vom 4.5.2006 (B 1KR 7/05), RN 21
55) BSG 19.2.2003 (B 1 KR 18/01 R), Abs. 14
56) Der Einwand, damit würde der Scharlatanerie Tor und Tür geöffnet,
vermag nicht zu überzeugen: Ob eine gewählte Behandlungsmethode den
Kriterien des BverfG entspricht, ist durch die Sozialgerichte notfalls
mit Hilfe von Sachverständigen - nachprüfbar. Gleiches gilt für die
Frage, ob die gewählte Behandlungsmethode dem Gebot der
Wirtschaftlichkeit entspricht. Und was den in der deutschen
medizinischen Literatur häufig mit Herablassung behandelten
Placeboeffekt angeht: Wenn die Annahme der Shapiros richtig ist, dass
jede schulmedizinische Therapie zu ein bis zwei Dritteln auf Hoffnungen
zurück geht, die daran geknüpft sind (The Powerful Placebo: From Ancient
Priest to Modern Physician Arthur K. Shapiro, Elaine Shapiro, Johns
Hopkins University Press 2001 S. 230) so handelt es sich doch
offensichtlich um einen Effekt medizinischer Behandlungsmethoden, der
besser genutzt als belächelt werden sollte. Diese Behandlungsmethode ist
zudem offensichtlich von allen die preiswerteste, weshalb der G-BA sie
wo immer möglich - fördern und nicht überheblich verdammen sollte.
58) Dann könnte die Vorstellung von Schmidt Assmann wahr werden,
wonach der G-BA geeignet sei, als Sachverständigengremium in Zukunft
die Gewährleistungsaufsicht zu führen. (NJW 2004/1689/1695)