1956 Kindererziehung nicht Othello oder Glucke

Meine Erziehung in Freiheit wurde geprägt von einem tragischen Patientenschicksal.

Ein liebenswürdiger älterer Patient begann ebenso wie sein Sohn ein Medizinstudium in München.

Der Fassungslosigkeit im Stadtviertel, dem Alten Schwabing in München, begegnete mein Vater mit Erfahrungen aus der Oper, er meinte, das sei ein „Othello Syndrom“, eine Eifersucht darauf, dass der Sohn wichtigeres und besseres lernt als der Vater.

Meine Mutter hingegen, bezeichnete ihn lapidar als „Glucke“, die dem Sohn keine Freiheit lasse. Hitzige Diskussionen entbrannten darüber am Mittagstisch. Beeindruckt hatte mich, dass zwei Hochgebildete Menschen zwei völlig verschiedene Meinungen über die gleiche Frage haben können.

An einem Sonntagnachmittag öffnete ich wie immer die Haustüre unserer kombinierten Wohnung mit Praxis, einem typischen Landarztmodell, in dem der Arzt rund um die Uhr greifbar war. Ich entschied spontan, dass „der Arzt anwesend sei“.

Ich rief in die Kaffeerunde mit Gästen: „Die Glucke ist da“. Jeder wusste Bescheid. Vater erwartete was Unangenehmes.

Der Patient war völlig gebrochen, weil sein Sohn spurlos verschwunden war und er schlimmes ahnte.

Vater vermittelte Lebenshilfe wie „sofort zur Polizei, Suchplakate malen und aushängen, rund um die Uhr selbst suchen“.

Erst Wochen später fand man das ausgemergelte Skelett seines Sohnes an einem Baum im nahen Forst hängen.

Kurz darauf hat sich der Vater auch erhängt.

So traurig die Geschichte war, ihr verdankte ich eine Kehrtwende bei meinen Eltern. Die Erziehung wurde plötzlich total frei, Probleme verschwanden sofort beim Stichwort „Glucke“. Statt Pubertätskonflikte gab es noch stärker als vorher gewinnbringende Gespräche über alle Lebensprobleme und besonders viel über medizinische Fragen, da beide Eltern ungeheuer wissensdurstig waren und statt Urlaub stets auf Ärztekongresse fuhren.

Nicht Gängeln, sondern Horizonterweiterung stand in unserer Familie auf der Fahne.

Das bayerische Familienwappen im Petschaft mit dem Schreiber hatte es mir dabei komischerweise am meisten angetan. Es verleitete mich damals zur größten Jahres-Abiturarbeit, die es bis dahin je gegeben hatte mit:

 Die Stellung des Arztes in der Gesellschaft von der Antike bis heute“.

Eine 40 seitige kleine Doktorarbeit mit über 40 Handbüchern als Quelle.

Die Bücher hatten meine Eltern als Ansichtsexemplare in der Medizinischen Buchhandlung ausgeliehen.

 

Durch den aktuellen Fall, in dem die alte Mutter einen angehenden Baubiologen zur Ausbildung „begleiten“ wollte, wurde ich erst wieder dankbar an den Patientenvater erinnert, der mein Leben so positiv beeinflusst hatte.

(Zusatz zu meiner neuen Biografie)