Japanische Mentalität im Gau
Berlin - Es gibt ein Wort, das sich die Japaner in der Gegend von Fukushima verbieten: Flucht. Yasuo Nozaki hat nach diesem Wort im Internet gesucht, weil er herausfinden wollte, ob die Bewohner die Region in Massen verlassen. Was er fand, war eine Debatte im Netz, die seiner Ansicht nach viel über die japanische Seele erzählt: "Wer kann, der versucht zwar, von dort wegzukommen", sagt Nozaki. "Aber es ist den Menschen wichtig, nicht den Eindruck zu erwecken, sie hätten die Hoffnung aufgegeben." So schreibt zum Beispiel die 24-jährige Noji in einem Blog: "Man sollte das nicht als Flucht bezeichnen, sondern als Evakuierung. Die Menschen in Fukoshima sind dort geboren und aufgewachsen. Wir lieben diese Region."
Yasuo Nozaki lebt und studiert seit zehn Jahren in Berlin. Seit den ersten Katastrophennachrichten verbringt er Stunde um Stunde im Internet - zunächst war er einfach auf der Suche nach Informationen für sich selbst. Mittlerweile übersetzt Nozaki die japanische Seele. Für einen Berliner Radiosender surft er durch die sozialen Netzwerke seines Landes. "Wir wollten wissen, was die Menschen bewegt", sagt Wolf Siebert vom rbb-Inforadio. "Also suchten wir nach Helfern, die Japanisch lesen können." Für den Sender geben nun drei Studenten Menschen aus Japan eine Stimme.
Kaum Kritik am AKW-Betreiber
Im Japanischen, so sagt Yasuo Nozaki, existiere kein Wort für die deutsche Idee des GAU. "Während die Menschen in Deutschland über die Konsequenzen der Reaktorkatastrophe reden, beschäftigen sich die Leute mit ganz anderen Fragen." In Tokio diskutieren sie Stromsperren, Einkaufsprobleme und Verkehrschaos. Nozaki hat eine Debatte darüber entdeckt, ob es ein Verstoß gegen die Hoffnung auf Normalität sei, wenn die Baseballsaison unterbrochen bleibt. Die Menschen schreiben sich gegenseitig: "Bitte keine Panikmache." An den Bahnhöfen bilden sich lange Schlangen - weil die Pendler jeden Tag zur Arbeit fahren. "Normalität oder ihr Anschein scheint sehr wichtig zu sein", sagt Nozaki. "Das ist die japanische Disziplin."
Die Studenten haben im Netz auch Beiträge von verzweifelten Menschen gefunden: "Ich bin am Sonntag aus Miyagi nach Fukushima heimgekehrt", schreibt eine Frau. "Allein will ich nicht zurück nach Miyagi, aber ich muss arbeiten, also habe ich keine Wahl. Auch andere Familien gehen trotz der Gefahr der radioaktiven Strahlung arbeiten. Warum kann man nicht einfach seine Familien nehmen und die Flucht ergreifen?" Wakaba aus Sendai schreibt: "Strom, Telefon und seit heute auch das Internet funktionieren wieder, Wasserleitungen und Gas sind jedoch noch nicht benutzbar. Nahrungsmittel gibt es zwar, aber kein Benzin. Es bilden sich lange Schlangen, doch egal wie lang man sich anstellt, man kann doch nur so etwas wie Süßigkeiten kaufen. Meine Eltern befinden sich noch in einem Flüchtlingslager in Miyagi. Dort bekommt jeder ein Reisbällchen am Tag."
Nozaki hat nach Kritik am AKW-Betreiber Tepco gesucht und ist auf wenig gestoßen. Es finde sich jetzt vor allem Bewunderung und Verehrung für die verbliebenen Arbeiter, die sogenannten "Fukushima 50". Er stieß auf den Blog einer Arbeiterin im Kraftwerk, die den Konzern kritisiert hatte. Den Text der Frau konnte er nicht mehr lesen. Sie hatte ihren Blog geschlossen und alles gelöscht. Es tue ihr leid, schrieb sie, sie habe keine Angst und Panik verbreiten wollen. Den Ernst der Lage fand er in einem Forum dokumentiert, in dem Angehörige von Mitarbeitern der Meiler sich austauschen. "Ich habe die Nachricht von meinem Vater erhalten, dass er sein Leben bei der Arbeit einsetzt", schreibt die Tochter eines Arbeiters. "Er sagte, ich solle beten, dass ein Wunder geschieht."
Die Welt
Autor: Martina Goy| 18.03.2011
"Japaner gehen anders mit Angst um"
Konsul Hiroyuki Yakabe spricht über die Gefühle angesichts der Atom-Katastrophe
Er lebt seit mehr als zehn Jahren in Deutschland. Sein Sohn ist in Eppendorf geboren. Nach einem Zwischenspiel im schweizerischen Bern, arbeitet Hiroyuki Yakabe seit zweieinhalb Jahren wieder für das japanische Generalkonsulat in der Stadt. Ein Gespräch über Mentalität, Konsensgesellschaft und Identität
Herr Yakabe, die Welt schaut voller Bewunderung auf Ihr Volk und die unglaubliche Disziplin, aber auch fast stoische Ruhe, mit der die Menschen auf die Katastrophen in ihrem Land reagieren.
Hiroyuki Yakabe: Japaner sind so erzogen. Sie zeigen keine Gefühle. Man kann ihre Stimmungen nicht am Gesichtsausdruck erkennen. Das heißt aber nicht, dass sie keine tiefen Gefühle haben. Sie gehen nur anders damit um. Selbst jetzt, wo sie all diese schrecklichen Dinge erleben, ist ihre Mentalität, dass sie zuerst tief in sich hinein hören.
Selbst wenn sie eigentlich Todesangst haben müssten, bleiben ihre Landsleute höflich zueinander...
Hiroyuki Yakabe: Japan ist ein Land, das geübt ist im Umgang mit Erdbeben. Alle wissen, dass es so ein schreckliches Erdbeben alle 100 Jahre gibt. Und weil das so ist, haben die Menschen das richtige Verhalten trainiert. Schon als Kinder lernen sie es. Japaner wissen auch, wie wichtig es ist, den anderen Menschen im Blick zu haben. Sie wissen, was immer ich mache, betrifft auch einen anderen. Deshalb nehmen sie Rücksicht aufeinander. Deshalb bewahren sie auch in Notzeiten Ruhe, stehen geduldig Schlange für Benzin oder Lebensmittel. Bei uns gibt es auch keine Plünderungen. So etwas machen Japaner nicht.
Es heißt Benzin und Lebensmittel sind knapp. Es kommt zu Hamsterkäufen...
Hiroyuki Yakabe: Es ist die Sorge um die Angehörigen, die dazu führt. Es ist ja menschlich, dass jeder versucht, für die Alten und Kranken das Notwendigste zu besorgen.
Hilft der Glaube an eine Religion, Schicksalsschläge wie diese zu ertragen, zu akzeptieren?
Hiroyuki Yakabe: Ich weiß nicht, ob es eine Erklärung ist. Aber Japaner leben in einer konsensorientierten Gesellschaft. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Unser Hauptnahrungsmittel ist der Reis. Reisfelder brauchen sehr viel Wasser, damit die Pflanzen gedeihen. Jeder Japaner weiß, benutzt er zuviel Wasser, schadet er dem Reisanbau. Man denkt nicht nur an sich selbst.
Wie empfinden Sie hier in Deutschland die Debatte um deutsche Kernkraftwerke, während in Fukushima die Atomkatastrophe droht?
Hiroyuki Yakabe: Ich diskutiere nicht über die deutsche Atomdebatte. Aber ich glaube nicht, dass es eine solche Debatte derzeit in Japan geben könnte.
Einige Kritiker werfen besonders den Deutschen vor, hysterisch und panisch zu reagieren. Japan liegt mehr als 9000 Kilometer entfernt. Das Risiko, dass es eine Strahlenwolke von dort bis nach Hamburg schafft, ist gering. Dennoch hat die Bundesregierung ihren Atomkurs verändert und Mailer vom Netz genommen. Ist die Reaktion übertrieben?
Hiroyuki Yakabe: Ich maße mir nicht an, dazu etwas zu sagen. Mich beunruhigt etwas anderes. Noch sind die Japaner ruhig, reagieren vernünftig. Ich bin in Sorge, dass die überhitzte Diskussion aus den anderen Ländern die Menschen im Katastrophengebiet erreicht und verunsichert. Das sollten wir alle gemeinsam verhindern. Die Welt ist inzwischen so gut vernetzt, kaum etwas bleibt verborgen, wir können das Ausland nur bitten, uns zu helfen, Vernunft zu bewahren, damit keine Panik ausbricht.
Was können die Hamburger tun, um zu helfen?
Hiroyuki Yakabe: Ich bin froh, mich an dieser Stelle für das gezeigte Mitgefühl, die spontanen Hilfsangebote sowie Spenden der Hamburger bedanken zu können. Unser Dank gilt auch der deutschen Regierung, die sich mit dem THW an der Suche nach Vermissten beteiligt hat. Insgesamt waren bisher 785 internationale Suchmannschaften vor Ort.
In den Berichten über Ihr Land war zu hören, es fiele der japanischen Regierung schwer, Hilfe aus dem Ausland anzunehmen. Es passe nicht zum Stolz der Japaner.
Hiroyuki Yakabe: Das ist falsch. Schon nach dem Erdbeben 1995 in Kobe hat Japan dankbar Hilfe aus dem Ausland angenommen.
Derzeit ist es schwierig, Hilfsgüter in die Katastrophengebiete zu bringen. Wie ist Ihr Kenntnisstand?
Hiroyuki Yakabe: Wir haben regelmäßig Kontakt zum Außenministerium in Tokio. Die Hilfsgüter kommen auf dem Flughafen an. Aber dann wird es schwierig, weil Straßen unpassierbar sind. Es ist auch kompliziert, die Verteilung und Logistik der Güter zu koordinieren.
Sind Sie persönlich von dem Unglück betroffen?
Hiroyuki Yakabe: Nein, ich stamme aus einem anderen Teil Japans. Aber ich weiß von einem Kollegen, dessen Eltern zwar das Unglück überlebt haben, der aber keinen Kontakt zu seiner weiteren Verwandtschaft hat.
Wie gut klappt die Kommunikation im Land und ins Land hinein und hinaus? Funktionieren Telefone?
Hiroyuki Yakabe: Japan ist ein technisch hoch entwickeltes Land. Die großen Telefonanbieter haben sofort nach dem Erdbeben eine Sonderfunktion an Mobilhandys aber auch Festnetzapparaten über Satellit frei geschaltet. Über eine besondere Zahlenkombination kann man kostenlos eine Nachricht hinterlassen beziehungsweise Nachrichten abhören. So erfahren die Menschen etwas über das Schicksal ihrer Angehörigen. Sie haben sicherlich im Fernsehen die langen Schlangen vor den öffentlichen Telefonzellen gesehen. Das ist der Grund dafür.
Derzeit kämpfen offiziell 50 Männer in Fukushima, um die vollkommene Zerstörung des Atommailers und damit eine unkontrollierbare Verstrahlung zu verhindern. Sie riskieren ihr Leben. Sind das besonders mutige Männer oder ist auch das japanische Mentalität?
Hiroyuki Yakabe: Viele Japaner sind stolz auf ihre Arbeit. Wenn dann so etwas passiert, will man etwas tun, etwas leisten. Das ist in Deutschland sicherlich nicht anders.
Hierzulande bleibt man in der Regel nicht lange genug beim selben Arbeitgeber um wirklich Identität zu entwickeln.
Hiroyuki Yakabe: Das ist auch in Japan nicht mehr so einfach. Lebenslang für die gleiche Firma zu arbeiten ist nicht selbstverständlich. Dennoch bemühen sich derzeit alle Japaner, ihren Teil beizutragen. Einfach indem sie weiter arbeiten, ihren Alltag beibehalten.
Von Katja Bauer, aktualisiert am 19.03.2011 um 09:43
http://www.welt.de/print/die_welt/hamburg/article12872095/Japaner-gehen-anders-mit-Angst-um.html