Einleitung
Metalle zählen zu den wichtigsten xenogenen Stoffen, die sowohl toxische als
auch immuntoxische Reaktionen beim Menschen hervorrufen können. Mit Sensibilisierungsraten
von bis zu 25 % in der weiblichen und 5–8 % in der männlichen Bevölkerung
gilt Nickel als eines der bedeutendsten Kontaktallergene überhaupt [23]. Seit
einigen Jahren rückt Quecksilber nicht nur wegen seines toxischen, sondern
auch wegen seines immuntoxischen Potentials zunehmend in den Vordergrund. In
Deutschland ist außer durch Zufuhr über die Nahrungskette (Fisch) ein
Großteil der Bevölkerung durch Quecksilber aus Dentalamalgam gesundheitlich
belastet. Die hieraus resultierende chronische Quecksilberbelastung stellt
ein ungeklärtes gesundheitliches Problem dar.
Chronisch Metallbelastete scheinen häufig Spättyp-Immunsensibilisierungen zu
entwickeln. Neuere Studien lassen vermuten, dass die individuelle
Sensibilisierung gegenüber Schwermetallen auf der Induktion spezifischer
T-Zellen beruht, wobei die kontinuierliche, systemische Antigenzufuhr und
gegebenenfalls die individuelle genetische Disposition maßgeblich sind.
Während Nickel einen überwiegend Genotyp-unabhängigen Sensibilisierungsmodus
mit direkter Modifikation von Membranantigenen auf CD4-T-Zellen zu initiieren
vermag, wird Quecksilber direkt in die Zelle aufgenommen.
Durch Hg-Bindung (Hapten) an zelluläre Proteine (Carrier) können Neoantigene
entstehen, die über MHC II-Präsentation Hg-spezifische CD4-T-Zellen
induzieren. Die Induktion spezifischer CD4-Zellen kann über den Th1-Weg
zytotoxische CD8-Effektorzellen oder über den Th2-Weg B-Zellen [22] –
generieren, die Antigen-spezifische Antikörper produzieren. Der Effektormodus
bei Hg-Sensibilisierung ist bisher nicht geklärt. In vitro lassen sich bei sensibilisierten Patienten neben
Hg-spezifischen Gedächtniszellen vom CD4-Helferzelltyp in geringer Menge auch
zytotoxische Effektorzellen vom CD8-Typ [18] nachweisen. Demnach unterliegen
Quecksilber-Sensibilisierungen einem strikten Th1-Effektormodus, die
Entwicklung Metall- oder Hapten/Carrier-spezifischer Antikörper ist eher
unwahrscheinlich.
Generell erhöht jegliche Hapten-Modifikation zellulärer Antigene auch das
Risiko der Autoimmunität. Vor allem das Überspringen der
Neoantigen-spezifischen Immunreaktion auf nicht-modifizierte, strukturell eng
verwandte Antigenstrukturen ("Determinant-Spreading") und die
Demaskierung kryptischer Peptide oder Aktivierung latenter autoreaktiver
T-Zellen bei massiver oder chronischer Antigenzufuhr führen zum Bruch der
Eigentoleranz.
Tiermodelle haben überzeugend die Induktion von Autoimmunität nach
Hg-Exposition demonstriert (Tab. 1). Bei genetisch suszeptiblen Nagern
initiiert Hg-Gabe die Bildung spezifischer Antikörper gegen das nukleäre
Protein Fibrillarin oder das Basalmembranprotein Laminin. Fibrillarin- und
Laminin-haltige Immunkomplexe initiieren eine charakteristische
Immunkomplex-Nephritis. Entsprechende Organ-spezifische Komplikationen mit
Fibrillarin- oder Laminin-spezifischen Antikörpern nach (chronischer)
Hg-Exposition sind beim Menschen nicht bekannt [14]. In der Literatur
existieren nur vereinzelt Berichte über Hg-assoziierte Autoimmunreaktionen
bei akuter Intoxikation oder langjähriger beruflicher Belastung [1, 4, 8, 11,
27]. Antinukleäre Antikörper wurden nur selten gefunden [21, 13].
Umfangreichere Untersuchungen zur Frage der Autoimmunität bei
Quecksilberbelastung liegen allerdings bis heute nicht vor.
Wir haben uns vorgenommen, die Prävalenz von Autoantikörpern bei Patienten
mit chronischer Quecksilberbelastung aus Dentalamalgam gründlich zu
untersuchen. In einer vorangegangenen Untersuchungsreihe an 118 Patienten mit
Immunsensibilisierung gegenüber verschiedenen Schwermetallen hatte sich
bereits ein signifikant häufigeres Auftreten bestimmter
Antikörperspezifitäten angedeutet, wobei Quecksilber- und
Cadmium-sensibilisierte Patienten besonders betroffen waren [10].
Bemerkenswert war der hohe Anteil von Antikörpern gegen Nervengewebsantigene
und zelluläre Antigene ungeklärter Spezifität, bei denen es sich
wahrscheinlich um Hitze-Schock-Proteine handelte. Die Untersuchungen wurden
jetzt mit einer Amalgam-belasteten, stark Quecksilber-immunreaktiven
Patientengruppe vertieft.
Patienten und Methoden
Insgesamt wurden 46 Patienten (31 Frauen und 15 Männer) mit chronischer
Belastung durch Dentalamalgam und nachgewiesener Immunsensibilisierung
gegenüber Quecksilber untersucht. Die Altersverteilung lag zwischen 23 und 69
Jahren, das Durchschnittsalter bei 44 Jahren. Es lagen keine Angaben über berufliche Quecksilberbelastungen vor,
derzeit bestehende sowie relevante Vorerkrankungen waren nicht bekannt. Neben
vereinzelten lokalen Symptomen wie Stomatitis, Parodontitis standen in den
meisten Fällen uncharakteristische chronische Beschwerden wie Kopfschmerzen,
Migräne, Gelenkschmerzen, Müdigkeit, Parästhesien, Gedächtnis- und
Konzentrationsstörungen sowie Leistungsabfall im Vordergrund. Die
Immunsensibilisierung gegenüber Quecksilber wurde im modifizierten
Lymphozyten-Transformationstest (LTT) bestätigt [23, 31].
Um auch geringe Zahlen zirkulierender Gedächtniszellen zu erfassen, wurden
106 Patientenlymphozyten in 1 ml Medium (10% AB-Serum) eingesetzt [31]. Beim
LTT werden Stimulationsindices (SI) von >3,0 in Gegenwart des Antigens als
positiv gewertet. Alle Patienten wiesen eine mittelstarke (Stimulationsindex
> 5) bis starke Reaktion (SI > 10) auf. Das Autoimmunscreening
beinhaltete Antikörper
• gegenüber Zellkernen: ANA-Immunfluoreszenz an Hep-2 Zellen (Titer ab
1:80 wurden dokumentiert)
• gegen ENA/Extrahierbare Nukleäre Antigene: ENA - Immunoblot
• gegen NV-Antigene/Nervengewebsantigene (Myelin, Axon, Neurofilamente,
Neuroendothel, Neuronenkerne): Immunfluoreszenz an Gewebeschnitten aus
Kleinhirn und Ischiasnerv
• gegen Ganglioside, GFAP/"Glial Fibrillary Acidic Protein"
und MBP/Myelin-basisches Protein: ELISA
• gegen Heat-Shock-Proteine: Immunoblot mit Hep2-Zellysat nach
Hitzeschock beziehungsweise Hg-Intoxikation.
Ergebnisse
In der vorangegangenen Untersuchung auf Autoantikörper bei 212
Metall-belasteten Patienten, von denen 118 im LTT gegenüber einem oder
mehreren Metallen spezifische Sensibilisierungen aufwiesen, waren
verschiedene Organ-unspezifische Antikörper aufgefallen [10]. Antinukleäre
Antikörper fanden sich signifikant häufiger als bei Unbelasteten – jedoch nur
in niedrigen Titerstufen. Ähnliches traf auf Serotonin- und
Schilddrüsen-Antikörper zu. Bemerkenswert war allerdings die Prävalenz
verschiedener NV-Antikörper bei Metall-sensibilisierten Patienten (Tab. 2),
wobei Quecksilber und Cadmium deutlich überrepräsentiert waren [10].
Die Vorergebnisse ließen sich in der aktuellen Untersuchungsreihe bestätigen.
Abb. 1 zeigt das Vorkommen der verschiedenen Autoantikörperspezifitäten bei
dem jetzt untersuchten Patientenkollektiv mit Quecksilbersensibilisierung. Es fanden sich stark gehäuft Antikörper, die als Hitze-Schock-Protein Ak
identifiziert werden konnten (32/46, 69,6%), und Antikörper gegen NV-Antigene
(Ak gegen Axone 22/46, 47,8%; Neurofilamente 22/46, 48%; Ganglioside 19/46,
41,3%; Myelin-basisches Protein 14/46, 30,4%). Antinukleäre Antikörper lagen
mit Titer bis 1:160 in niedriger Konzentration vor. Nur einzelne Patienten
wiesen Werte über 1:320 auf. Das Fluoreszenzmuster war fast durchgehend
gesprenkelt. Fibrillarin-Ak konnten in keinem Fall identifiziert werden
(ENA-Blot). Auch Kollagenose-typische Antikörper (Sm, RNP, SS-A, SS-B, Scl-70
und Jo-1) waren nicht nachweisbar.
Mehrere Antigene, die im ENA-Blot häufig reagierten (Molekulargewicht
zwischen 40 und 70 kD) und bis dato nicht eindeutig zuzuordnen waren, wurden
charakterisiert. Schwermetalle zählen zu den Umweltstressoren, die
Körperzellen zur Expression von Schutzfaktoren wie Metallothioneinen oder Hitze-Schock-Proteinen
(HSP) veranlassen (Abb. 2). HSP werden an Hand ihres Molekulargewichts in
unterschiedliche Familien eingeteilt, unter anderem sHSP (20-50 kD), HSP
60, HSP 70 und HSP 90. Häufig wiederkehrende Induktion von HSP kann zur
Entwicklung HSP-spezifischer Autoantikörper führen, so dass diese als Marker
für chronischen zellulären Stress gelten können.
Zur Charakterisierung der Hg-assoziierten Antikörper wurden Hep-2-Zellen mit
Quecksilberchlorid (1 µg/ml) inkubiert bzw. Hitze-behandelt (42 °C), das
Zellysat anschließend elektrophoretisch aufgetrennt und auf Blotstreifen
transferiert. Einzelne HSP wurden mit monoklonalen Antikörpern gegen
definierte HSP-Antigene der MG-Klassen 47, 60, 70 und 90 identifiziert. Mit
dieser Technik konnte bestätigt werden, dass die im ENA-Blot gefundenen bis dato nicht charakterisierten Antikörper tatsächlich
gegen Hitze-Schock-Proteine gerichtet sind. Abb. 3 zeigt die Prävalenz der
verschiedenen HSP-Antikörperklassen bei den Hg-sensibilisierten Patienten.
Fast alle Ak-positiven Patienten wiesen Antikörper gegen HSP 60 auf (28/32,
87,5%), zirka 31% (10/32) auch HSP-70-Ak, während die übrigen Spezifitäten
kaum vorkamen (je zirka 10%). Nicht-belastete Kontrollen lagen bei allen
untersuchten HSP-Antikörperspezifitäten unter 10%.
Zur besseren Einschätzung wurden auch bei Patienten mit rheumatoider
Arthritis (RA), bei denen ein gehäuftes Auftreten bekannt ist, HSP-Antikörper
gemessen (Abb. 4). Die Metall-belasteten Personen wiesen nicht nur wesentlich
häufiger (70 versus 20%), sondern im Einzelfall auch höher konzentrierte
HSP-Ak auf. Die Prävalenz von Zellkernantikörpern (ANA) war dagegen in der
RA-Gruppe wesentlich höher (39,5 versus 12%).
Neben den HSP-Ak fanden sich innerhalb des Quecksilber-reaktiven Kollektivs
vor allem Antikörper gegen Nervengewebsantigene: Neurofilamente, Axone,
Ganglioside, gefolgt von Ak gegen Myelin-basisches Protein und GFAP (Abb. 1).
Bei Kontrollpersonen werden Antikörper gegen NV-Antigene der hier
untersuchten Spezifität
generell in weniger
als 5% der Fälle nachgewiesen.
Diskussion
Tierexperimentelle Untersuchungen mit Quecksilber, Silber, Nickel, Gold,
Beryllium und anderen Schwermetallen haben eindrucksvoll bewiesen, dass durch
Haptenisierung körpereigener Proteine spezifische T-Zellen induziert werden
können. Auch beim Menschen gilt die Induktion Metall-spezifischer T-Zellen
mittlerweile als gesichert [2]. Im Tiermodell ist der Einfluss von Metallen
auf die Entstehung von Autoimmunität bis hin zu organspezifischen
Autoimmunerkrankungen belegt, für einen Teil der Metalle konnte darüber
hinaus das verantwortliche Neoantigen identifiziert werden (zum Beispiel
Fibrillarin und Laminin im Falle von Quecksilber [16, 20, 24]).
Verschiedene Mechanismen auf zellulärer, biochemischer und molekularer Ebene
kommen in Betracht (Abb. 5): Metallhaptene binden außerhalb oder innerhalb
Antigen-präsentierender Zellen (APC, z.B. Makrophagen) an körpereigene
Carrierproteine. Bei intrazellulärer Fragmentierung dieser Komplexe können
atypische Spaltprodukte entstehen, die im Komplex mit MHC-II-Determinanten
als "Neoantigene" auf der Zelloberfläche präsentiert werden. Unter
bestimmten Bedingungen – genetische Prädisposition mit geeignetem MHC-Typ, Dauer, Ort und Intensität der Metallexposition –
werden Antigen-spezifische CD4-Zellen induziert.
Metalle können andererseits auch körpereigene Peptide, die von MHC-Molekülen
auf der Zelloberfläche präsentiert werden, modifizieren (Neoantigene) oder
demaskieren (kryptische Peptide). Auch Determinanten der MHC-Moleküle auf der
Zelloberfläche selbst können alteriert werden und damit zu einer spezifischen
Immunantwort führen. Beim Menschen entwickeln sich über die CD4-
Zellinduktion offensichtlich ausschließlich zelluläre Sensibilisierungen im
Sinne einer Typ-IV-Reaktion über den Th1-Weg (Kontaktallergie). Die Induktion
Antigen-spezifischer B-Zellen über den Th2-Weg mit Bildung spezifischer
Antikörper ist dagegen bislang nur im Tiermodell bewiesen [8].
Durch "Determinanten Spreading" sind im Tiermodell auch Antikörper
gegen "eigene", nicht-modifizierte Antigene wie Fibrillarin
induzierbar. Aus den wenigen Literaturdaten, aber auch aus den eigenen
Voruntersuchungen waren keine Hinweise auf vergleichbare spezifische
Autoimmunreaktionen beim Menschen zu gewinnen. Auch die jetzige Untersuchung
bei Patienten mit einem hohen Anteil Quecksilber-spezifischer T-Zellen hat
keine Anhaltspunkte für monospezifische Autoantikörper erbracht.
Dagegen waren überraschend ausgeprägte unspezifische Autoimmunreaktionen
gegenüber HSP und NV-Antigenen vorhanden. Besonders die Prävalenz der Ak
gegen HSP60 ist hervorzuheben. HSP dieser Gewichtsklasse werden vorwiegend in
Mitochondrien exprimiert (Tab. 3), wo sie den Transfer nukleär kodierter
Proteine der Atmungskette unterstützen [28]. HSP 70 werden im Cytosol,
teilweise aber auch in Mitochondrien exprimiert. Die mitochondriale
HSP-Expression ist Glutathion-abhängig. Oxidativer Stress mit GSH-Verbrauch
führt zu HSP-60/70-Induktion. GSH-Restoration durch N-Azetylzystein
supprimiert die HSP-Bildung [35]. Zu den am besten dokumentierten toxischen
Wirkungen von Quecksilber gehört gerade der
zelluläre Verbrauch von GSH durch Hg-Komplexierung (Hg-GSH und Hg-(GSH)2) und
Hg-Abtransport sowie die Akkumulation reaktiver Sauerstoffverbindungen (ROS)
durch Enzymhemmung und den GSH-Mangel. Eigene Untersuchungen an Monozyten und
Lymphozyten haben den zellulären Glutathionverbrauch durch Metalle bestätigt
(Abb. 6). Folgerichtig ist auch die verstärkte Expression von HSP-Spezies
durch Hg (und andere Schwermetalle) dokumentiert [30].
Heat-Shock-Proteine zählen zu einer phylogenetisch hochkonservierten Proteinfamilie, die durch verschiedenste physikalische
und chemische Reize (neben Schwermetallionen sind dies Hitze, Oxidantien,
Medikamente, Infektionen, Entzündungen, Tumore, UV-Strahlung, Radiatio,
metabolische Defekte, etc.) induziert werden. Untereinander zeigen die
verschiedenen HSP-Familien eine Sequenzhomologie von mindestens 40%,
gegenüber bakteriellen HSP sogar von 60% (Tab. 3).
Die hohe Sequenzhomologie zu bakteriellen HSP und die außerordentliche
Immunogenität dieser Proteine sind die Ursache der erhöhten Inzidenz von
HSP-Autoantikörpern nach Stressinduktion! Die spezifische mitochondriale
Toxizität von Hg erklärt in diesem Zusammenhang die bemerkenswerte Prävalenz
von HSP-60-Ak bei chronisch Hg-Belasteten. Es ist anzunehmen, dass HSP-60-Ak nicht nur bei den hier untersuchten
Hg-Belasteten mit spezifischer Immunsensibilisierung vorkommen, sondern auch
bei gleichermaßen Hg-Belasteten ohne spezifische Sensibilisierung.
Quecksilber und vor allem Methylquecksilber verfügen über ein hohes
neurotoxisches Potential, wobei sie durch Endozytose und retrograden
Transport in Nervenzellen gelangen und dort lokale Entzündungsreaktionen bis
hin zu Demyelinisierungen auslösen können. Auch in Nervenzellen dominiert die
prooxidative Wirkung von Quecksilberverbindungen, die darüber hinaus durch
den spezifischen neuronalen Mangel an adäquaten Schutzmechanismen wie
Glutathion und Stressproteinen (Metallothioneine, HSP) besonders fatale
Folgen für die Integrität des Nervengewebes hat [26].
Die vorliegenden Ergebnisse zeigen eine starke Prävalenz von Autoantikörpern
gegen NV-Antigene wie Neurofilamente, Axone, GFAP, MBP und Ganglioside. Die
hohe Diversifizität der NV-Antikörper und das offensichtliche Fehlen
monospezifischer Autoimmunitätsmechanismen machen auch hier unspezifische
Reaktionsmechanismen wahrscheinlich. Das Auftreten unterschiedlicher
NV-Autoantikörper wird häufiger nach toxischer Schädigung des Nervengewebes
beschrieben [9], wobei dessen "immunologische Privilegierung"
maßgeblich ist. Die geringe Präsenz spezifischer Immunmechanismen im
Nervengewebe hat zur Folge, dass die immunologische Toleranz gegenüber
beispielsweise toxisch freigesetzten NV-Antigenen gering ist und – vor allem
bei chronischer Antigenfreisetzung – vermehrt Autoantikörper gegen die
eigenen Antigene entstehen können. Darüber hinaus haben einige Myelinproteine
ausgeprägte Sequenzhomologie mit HSP, speziell mit HSP65. Kreuzreaktivität
von Hg-induzierten HSP-Ak mit Myelinantigenen könnte daher die
toxisch-induzierte Autoimmunität gegenüber
Nervengewebe verstärken [6].
Die beiden herausragenden Autoimmunitätsphänomene bei chronischer
Quecksilberbelastung sind demnach nicht als Neoantigen-spezifische Reaktionen,
sondern am ehesten als Konsequenzen der Toxizität von Quecksilber zu
verstehen, vor allem als Folge von gesteigertem oxidativen Stress [3]. Die
klinische Relevanz dieser Autoimmunreaktionen ist offen. Wenn auch
spezifische Organmanifestationen der Hg-Autoimmunität offensichtlich
ausgeschlossen werden können, könnten die vielfältigen, uncharakteristischen
klinischen Komplikationen der chronischen Hg-Belastung mit einem hohen Anteil
neurologischer Komplikationen (Kopfschmerzen, Migräne, Parästhesien, Neuropathien,
Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen) Folge der toxisch-immunologischen
Autoreaktionen des Nervengewebes sein. Auch eine aggravierende Wirkung
chronischer Hg-Belastung bei Multipler Sklerose durch Verstärkung
Myelin-gerichteter Autoimmunmechanismen erscheint denkbar.
In Anbetracht der Komplexität des menschlichen Immunsystems ist allerdings
davon auszugehen, dass ein Zusammentreffen verschiedener Faktoren nötig ist,
um einen Bruch der Eigentoleranz bis zur Manifestation von Autoimmunität zu
erreichen. Hierzu zählen neben genetischer Prädisposition, dem
Alterungsprozess, der Ernährung und physischem/psychischem Stress,
Infektionen, Medikamente und vor allem chronische Schadstoffbelastungen. Die
Analyse der verschiedenen Hg-assoziierten Autoantikörper könnte zukünftig zur
Verbesserung der Diagnostik beitragen, da:
1. toxische Langzeitschädigungen labordiagnostisch fassbar werden –
möglicherweise bereits lange vor der Manifestation klinischer Komplikationen,
2. toxische Metall-/Schadstoffwirkungen auf Organ- und Organellenebene
präzisiert werden können (mitochondriale HSP 60 bei Quecksilber),
3. neurotoxische Manifestationen von Hg und möglicherweise auch von
anderen Schadstoffen objektivierbar werden.
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Korrespondenzadresse: Dipl. Biol. Ingrid Frank, Medizinisch-Immunologische
Laboratorien, Mittererstraße 3, 80336 München
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