1970 Im Notfall erkennt man die Krankheit blitzschnell
Sofort nach der
ärztlichen Approbation am 1.1.1970 fuhr ich für Vater, Mutter, Tante und viele
andere Ärzte den Ärztlichen Notdienst der Kassenärzte mit dem Taxi in München.
Die ungeliebten Dienste waren nachts und an Wochenenden. Kein Kassenarzt hatte
damals wie ich ein mobiles EKG mit sich, ebenso wie Beatmungsbeutel und alles
für eine Wiederbelebung. Daher wurde ich von der Zentrale stets zu allen
lebensbedrohlichen Fällen und natürlich zu vielen Todesfällen gerufen.
Die Einzelabrechung
brachte viel Geld, besonders wenn man viel machte.
Später wurde ich Einsatzleiter im Ärztlichen Notdienst - ein
Ehrenposten, da man nur 100.- DM pro Nacht bekam – aber ich bekam
Tiefschürfende Einblicke in die Psyche Kranker und besonders ihres Umfeldes.
Zwar konnte ich bei
den oft langen Schimpfkanonaden eifrig weiter am TOX Buch schreiben, aber mich
unbekannterweise als "Nazi- Schwein", "Halbgott in Weiß"
u.a. titulieren zu lassen, erregte mich nur anfangs maßlos. Eine Nacht blieb in
bleibender Erinnerung. Bis Dienstantritt in der Notdienst Zentrale fuhr ich als
Feuerwehr Notarzt tagsüber. In der Zentrale angekommen beklagte ich mit dem
Feuerwehr Telefonisten die vielen unnötigen Notarzteinsätze. Ich versprach ihm,
wenigstens in dieser Nacht keine "faulen Eier" zu liefern. Währenddessen
telefonierte eine Telefonistin höchst ängstlich mit einer Schwerkranken, die
sie nicht verstand. Ich sollte mich einschalten. Nur sehr mühsam verstand ich
"ersticke", nach vielem Nachfragen "Giselastraße", dann
fiel der Hörer weg. Schnell schickte ich die Feuerwehr mit Drehleiter dorthin.
Sicher war die Patientin erstickt; war sie tot? Am Telefon hörte man nichts
mehr. Kurz darauf hörte ich Sirenen, es wurde aufgelegt. Wütend rief der Funker
der Feuerwehr zurück: Ein Trupp legt die Leiter an den zweiten Stock, der
Notarzt rast die Treppe hoch, läutet überall. Da macht lachend ein junges
Mädchen auf, sagt sie hätte geschwollene Mandeln und: "wenn man nicht
übertreibt, kommt ja niemand ins Haus". Wütend fuhren alle ab, bei uns
wurde kein Hausbesuch angefordert. Noch verbittert schimpfend erreichte uns der
nächste Notruf vom Hotel gegenüber, es rief der Nachtportier an, ein Mann säße
blau nach Luft schnappend in der Hotelhalle. Sofort wurde ich eingeschaltet und
fragte nach den näheren Umständen. Er lehnte ab: "Fragens net so saublöd, da stirbt einer" und legte auf.
Schnell beorderte ich den Notarzt dorthin. Kurz darauf rief mein Feuerwehr
Telefonist zurück: "Jetzt reichts! Der Pförtner
wollte, dass wir einen gesunden, leicht Betrunkenen mitnehmen. Der lehnte jedoch
ab".
Wir schimpften
weiter, da kam der nächste Hilferuf. Ein 16jähriges Mädchen rief an, bitte kommen's, mein Papi hat wieder
einen Herzinfarkt, wie voriges Jahr. Eingehend erkundigte ich mich wieder, ob
wirklich der Notarzt der Feuerwehr mit Beatmungsmöglichkeit erforderlich wäre,
oder der Bereitschaftsarzt der Kassenärzte ausreichend sei. Sie erklärte, dass
er blass sei, nach Luft schnappe und wie damals starke Schmerzen im linken Arm
hätte. Es war ganz eindeutig eine "Notarzt
Indikation". Ich alarmierte die Feuerwehr.
Dann kam die
Rückmeldung: "Max jetzt reicht's! Unser Arzt
schnaufte mühsam um 1°°Uhr nachts die vier Treppen hoch, daneben die
Floriansjünger mit dem schweren Widerbelebungsgerät, Sauerstoff, Defibrillator.
Der Patient sieht uns, springt hoch, läuft im Nachthemd ins Stiegenhaus, flitzt
die Treppen hinunter, unser Arzt nach, er war
schneller, er erklimmt die Treppen im Hintergebäude. Unser Arzt gibt erschöpft
auf. Es war kein Herzinfarkt, sondern wie die vielen leeren Bierflaschen zeigten,
ein Alkoholentzug. Wir rückten ab".
Drei Fehleinsätze
durch einen erfahrenen Notarzt der Feuerwehr am Telefon veranlasst! Das durfte
nicht weitergehen! Die nächste Anruferin klang eigenartig:"Ich wollte nur
fragen, was ich machen soll, mein Mann schnauft so eigenartig. Nein, bitte
kommen sie nicht". So ging es am Telefon über eine Stunde. Sie wollte sich
nur "erkundigen". Eigentlich hätte der Notarzt hingeschickt gehört.
Sie war über 80 Jahre alt, keine verwertbaren Angaben. Es sah aber eindeutig
nach Plaudern einer Schlaflosen aus. Sie lehnte immer wieder einen Hausbesuch
ab. Sie würde morgen wieder anrufen. Da entschloss ich mich nach über 1 Std.
plaudern, doch den Gebietsarzt hinzuschicken. Diese Ärztin rief mich dann
wütend zurück, es sei doch eine Unverschämtheit von mir, sie mitten in der
Nacht aus dem Bett zu holen zu jemand, der seit mindestens 10 Stunden steif und
kalt, tot im Bett lag.
Dann rief ein Arzt an
und fragte, ob ich wusste, dass das Kind, das er besuchen musste, Masern hat.
Ich bejahte. "Dann mache ich Sie dafür verantwortlich, wenn ich, der
Taxifahrer oder meine Familie Masern bekommen".
Ich schrieb eine
Meldung, dass dieser Kollege nicht mehr zum Notdienst geeignet sei.
So ging es weiter.
Leute, die Kranke anonym am Telefon beraten sollen, sind nicht zu beneiden
(Auszug aus meiner neuen Biografie)