Hochbegabte 19 jährige
Sie machte mit 16 Jahren Abitur, hat
einen IQ von 145 und gewann die Gedächtnisweltmeisterschaften. Im Interview
erzählt die Münchner Studentin Christiane Stenger,
19, wie sie ihr Gehirn trainiert und warum Schafe und
Schneemänner helfen, sich Zahlen zu merken.
Frage: Christiane, haben Sie schon mal von Arno Funke alias Dagobert
gehört?
Stenger: Dagobert? (überlegt) Nein, keine Ahnung. Wer ist das?
Frage: Ein Kaufhauserpresser, der Ende der
achtziger Jahre für Furore sorgte. Dagobert ist hochbegabt und hat den gleichen
Intelligenzquotienten wie Sie. Er langweilte sich im Unterricht, wurde zum
Einzelgänger und nutzte später sein Superhirn, um raffinierte Verbrechen zu
begehen. Es scheint, als wäre zu viel Intelligenz gefährlich.
Stenger: Sie meinen also, man sollte sich vor mir
hüten? Intelligenz an sich ist sicher noch kein Gefährlichkeitsfaktor.
Entscheidend ist die Persönlichkeit oder die Lebenssituation, denn davon hängt
ab, wie jemand seine Intelligenz nutzt. Unter widrigen Umständen, wenn jemand
beispielsweise in Not ist, tendiert er sicher eher dazu, seine Intelligenz für
eigene Zwecke zu missbrauchen. Vermutlich erliegt ein intelligenter Mensch auch
schneller der Versuchung, andere zu manipulieren, weil er die Zusammenhänge
besser begreift.
Frage: Albert Einstein sah das noch anders, als
er behauptete, die größte Gefahr ginge ohnehin von der Dummheit aus.
Stenger: Die Frage ist natürlich: Wie wird Dummheit definiert? Man kann auch dumme
Dinge tun, wenn man intelligent ist. Das kenne ich auch von mir, ich bin
manchmal ein echter Schussel. Auch in der Politik ist vieles dumm. Wahlperioden
sind viel zu kurz, um etwas langfristig zu reformieren. Es geht um schnelle
Erfolge und natürlich um Macht. Wenn einer nach Macht strebt, verhält er sich
im Hinblick auf die Gesellschaft oft automatisch dumm.
Frage: Warum ist das so?
Stenger: Intelligenz hat etwas mit Weitblick zu tun, und den verliert man, wenn der
Blick nur noch auf ein Ziel gerichtet ist.
Frage: Sie sagen, dass Sie auch mal dumme Dinge
machen oder erzählen. Überrascht das die Leute?
Stenger: Mit Sicherheit. Das sagt mir natürlich niemand direkt ins Gesicht. Aber es
gibt schon Momente, in denen ich spüre, dass der andere überlegt: Was sagt die
denn da, ich dachte, die wäre intelligent. Aber ich mag das, denn ich wollte
ohnehin nie, dass die Leute merken, dass ich hochbegabt bin. Anders als die
anderen zu sein, hieße aufzufallen. Und das ist mir nach wie vor ein Gräuel.
Deswegen sage ich auch mal absichtlich dumme Sachen oder verhalte mich
kindisch.
Frage: Zählen Sie doch bitte noch ein paar
Fehler auf, damit wir die Gewissheit bekommen: Ein Wunderkind ist auch nur ein
Mensch.
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Stenger: Mir fehlt es an Konsequenz. Es gibt so viele Dinge,
die ich machen will und dann doch nicht in die Tat umsetze - Sport zum
Beispiel. Außerdem bin ich entsetzlich faul. Bis ich mal in die Gänge komme,
das dauert. Ziemlich vergesslich bin ich auch. Wenn ich beispielsweise aus
dem Zimmer gehe, um etwas zu holen, fällt mir oft nicht mehr ein, was das für
ein Gegenstand war.
Frage: Und was ist mit den Telefonnummern Ihrer
Freunde?
Stenger: Als Kind konnte ich 50 Telefonnummern auswendig. Heute wäre ich total
aufgeschmissen, wenn ich mein Handy verlieren würde. Darin sind alle
Telefonnummern gespeichert. Da kommt leider wieder meine Faulheit durch. Wüsste
ich die Zahlen auswendig, müsste ich sie ja trotzdem einzeln eintippen. Viel zu
umständlich!
Frage: Wie finden Sie es, als Wunderkind
bezeichnet zu werden?
Stenger: Wunderkind war das Schlimmste! Das fand ich zumindest früher. Damit
rutscht man automatisch in eine Außenseiterposition. Außerdem habe ich ja
nichts Besonderes geleistet. Die Hochbegabung wurde mir in die Wiege gelegt, da
hatte ich eben Glück. Mittlerweile ist es mir egal, wie man mich bezeichnet.
Frage: Haben Sie oft das Gefühl der Einsamkeit?
Stenger: So ein
Frage: Wann fühlt sich das Leben nicht
lebenswert an?
Stenger: Während meiner Grundschulzeit, als man meine Hochbegabung noch nicht
erkannt hatte. Das Leben machte keinen Spaß, weil ich an nichts mehr Interesse
hatte. In der zweiten Klasse fing ich an, mir beliebige Krankheiten wie Bauch-,
Bein- und Fingerschmerzen einzubilden, um nicht in die Schule gehen zu müssen.
Ich langweilte mich dort schrecklich. Half keine Ausrede, blieb ich vor dem
Klassenzimmer stehen und wollte einfach nicht hinein.
Frage: Wie fanden Sie damals heraus, wo Ihr
eigentliches Problem lag?
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Stenger: Auf Anraten von Freunden und meines Arztes, der meine
Krankheiten auch langsam leid war, machte ich einen IQ-Test. Der Psychologe
meinte in seinem Gutachten, ich solle möglichst bald eine Klasse überspringen.
Plötzlich saß ich in der vierten Klasse. Als ich auf das Gymnasium wechselte,
begann der Horror leider erneut. Ich kam am ersten Tag enttäuscht zurück und
sagte zu meiner Mutter: "Das habe ich mir aber spannender vorgestellt, da
wird ja alles dauernd wiederholt". Nachdem ich in der ersten
Matheschulaufgabe noch eine Eins geschrieben hatte, hagelte es bald Vierer,
Fünfer und Sechser, auch in anderen Fächern. In der siebten Klasse war meine
Versetzung stark gefährdet.
Frage: Und wieder waren Sie drin im
Teufelskreis.
Stenger: Wenn mich nicht der Zufall gerettet hätte. Meine
Eltern stießen durch einen Zeitungsartikel auf eine Schule in
Mecklenburg-Vorpommern. Das private Internatgymnasium Schloss Torgelow bot mir
an, meine Schullaufbahn zu verkürzen. Wenn ich in der achten Klasse gute Noten
schreiben würde, dürfte ich die neunte überspringen und die zehnte und elfte
Klasse auch noch in einem Jahr absolvieren. Diesen Schnellkursus konnte jeder
mit einem bestimmten Notendurchschnitt machen. Das forderte mich heraus.
Endlich fand ich die Motivation, die ich brauchte.
Frage: Wie motivieren
Sie sich heute im Studium? Da gibt es doch sicher auch langweilige Vorlesungen.
Stenger: Klar, langweile ich mich manchmal immer noch. Aber das belastet mich nicht
mehr, denn anders als in der Schule habe ich an der Uni mehr Freiheit. Ich kann
quasi kommen und gehen wann ich will. Das macht die Sache wieder wett.
Frage: Sind Sie nicht trotzdem ständig
unterfordert?
Stenger: Ich muss immer noch was nebenbei machen, dann geht es. Wenn ich zum
Beispiel fernsehe, mache ich parallel dazu etwas mit meinen Händen. Fernsehen
macht das Gehirn ohnehin träge, es hält die Muskeln nicht am Laufen.
Frage: Wenn Sie auf eine Party gehen, bei
welcher Gruppe stehen sie dann üblicherweise - bei denen, die ernsthaft
diskutieren oder bei denen, die so richtig einen drauf machen?
Stenger: Kommt auf meine Stimmung an. Natürlich bin ich auch gerne mal ausgelassen,
sogar so sehr, dass andere überlegen: Was geht denn mit der ab? Hochbegabte
sind schließlich keine Spaßbremsen. Und ja, sie trinken sogar Alkohol. Ein paar
Gehirnzellen dürfen ruhig absterben.
Frage: Wie oft werden Sie gebeten, Ihre
Gedächtnisleistung vorzuführen?
Stenger: Das kommt leider oft vor, und ich drücke mich dann, so gut es geht. Es
nervt, die junge Frau zu sein, die sich so viel merken kann. Ich kann die Leute
zum Glück schon damit beeindrucken, wenn ich mir binnen Sekunden zehn Zahlen
merken kann. So bin ich schnell aus der Nummer raus.
Frage: Männer, so sagt man, haben Angst vor
intelligenten Frauen. Stimmt das?
Stenger: Natürlich gibt es die, ganz klar. Dahinter steckt die
Unsicherheit, selbst schlechter dazustehen. Keine Ahnung, ob Männer schon mal
vor mir Angst hatten. Ich würde mich natürlich bei einem Date nicht gleich in
den Vordergrund drängeln und von meiner Hochbegabung erzählen. Lieber staple
ich tief. Aber es gibt auch Männer, die intelligente Frauen toll finden. Mein
Freund zum Beispiel.
Frage: Noch so eine These: Nahe dem Genie, heißt
es, liegt der Wahnsinn. Haben Sie schon mal Angst gehabt, dass Ihnen Ihre
außergewöhnliche Begabung mehr schadet als nutzt?
Stenger: Nein. Auch wenn es Augenblicke gibt, in denen mir das, was in meinem
Gehirn abläuft, zu viel wird. Das kann ich aber kontrollieren. Schädlich wäre
es für mich nur, wenn ich mich auf ein Wissensgebiet spezialisieren würde. Wenn
ich anfange, mich mit einer Sache tiefgründiger zu beschäftigen, dann bekomme
ich Angst, dass ich niemals alles zu diesem Thema erfahren werde. Dass ich
immer weiter mache und spüre, dass ich nie ans Ende komme. Dieser Gedanke
schreckt mich ab. Zum Glück gab es noch nie eine Sache, für die ich mich so
interessiert hätte, dass ich dafür alles andere aufgegeben hätte. Ich finde
vieles spannend und habe dabei noch nicht einmal ein besonders großes
Allgemeinwissen.
Frage: Könnten Sie noch mehr aus sich
herausholen?
Stenger: Wenn ich wirklich wollen würde, sicherlich. Aber dafür bin ich nun mal zu
faul. Noch jedenfalls. Ich nutze meine Zeit lieber dazu, an den See zu fahren
oder mich mit Freunden zu treffen, als meine Nase ständig in Bücher zu stecken
oder mir Spielkarten und dreitausendstellige Zahlenreihen einzuprägen. Wettbewerbe
interessieren mich derzeit ohnehin nicht.
Frage: Was Ihre Konkurrenten freuen dürfte.
Stenger: Ja, die haben vielleicht ein Glück!
Frage: Sie arbeiten mit der so genannten
Mnemotechnik, das heißt, Sie verpacken Lerninhalte gehirngerecht, ordnen
beispielsweise Ziffern Buchstaben oder Bildern zu. Wie würden Sie
Stenger: Fliegen gibt es nicht in meinem Vokabular. Wenn Fliege eine Zahl wäre,
wäre es die 857 - F ist die 8, L die 5 und G eine 7. Die restlichen Buchstaben
sind Vokale und zählen nicht, sind also gleichbedeutend mit Null.
Frage: Nehmen wir noch ein anderes Beispiel -
was ist mit einem Schaf?
Stenger: Das ist nach dem Zahl-Symbol-System eine 4. Ein Schaf hat vier Beine,
deshalb. Man könnte natürlich auch eine Kuh nehmen oder einen Hund. Das kann
jeder für sich entscheiden. Nutzt man das Zahl-Reim-System, wäre die 4 ein
Stier.
Frage: Warum nutzen Sie beim Gedächtnistraining
Bilder?
Stenger: Weil man sich Bilder besser merken kann als Worte oder Zahlen. Schon als
Kinder erinnern wir uns ja in Bildern. Wenn wir zum Beispiel an Weihnachten
denken, läuft ein innerer Film ab, dann sehen wir den Tannenbaum, die vielen
Geschenke, Oma und Opa, wie sie auf dem Sofa sitzen. Unser Gehirn kann sich vor
allem Bilder merken, die außergewöhnlich sind. Dann registriert es: Aha, das
ist anders, das muss ich mir merken. Wenn einer in der U-Bahn mit einem
Eichhörnchenkostüm steht und ein anderer mit einer blauen Jacke, an wen
erinnern wir uns wohl eher? Meine Bilder sind deshalb oft skurril. Will ich
mich an die Zahlenfolge 4-0-3 erinnern, denke ich an ein Schaf, das durch einen
Zirkusreifen springt und sich anschließend in einen Schneemann verwandelt.
Frage: Wäre es nicht leichter, sich gleich die
Zahlen zu merken?
Stenger: Dann würden die Zahlen nicht so lange im Gedächtnis bleiben. Außerdem war
das ein sehr einfaches Beispiel. Bei Zahlenfolgen, die mehrere hundert Ziffern
haben, würde man ohne Bilder scheitern.
Frage: Können Sie überhaupt noch ein Schaf
sehen, ohne gleich an eine Zahl zu denken und umgekehrt?
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Stenger: Ja, das kann ich steuern. Ich rufe diese
Informationen dann ab, wenn ich sie brauche, das läuft nicht automatisch. Es
wäre ja furchtbar, wenn ich den ganzen Tag sehen würde, wie Schafe vorbeilaufen
oder Zahlen. Das wäre der erste Schritt zum Wahnsinn.
Frage: Wie könnte man sich Ihr Gehirn
vorstellen?
Stenger: Auch nicht anders als andere Gehirne. Ein Gehirn ist ein unendlich weiter
Raum. Da gibt es keine Begrenzung, auch wenn das viele denken. Ein Kommilitone
hat mal zu mir gesagt, er merkt sich nur die Nachnamen der Politiker, weil er
hat Angst hat, sein Gehirn würde zu voll, wenn er auch noch die Vornamen paukt.
Doch gerade das Umgekehrte ist richtig. Je mehr man das Gehirn trainiert, desto
aufnahmefähiger wird es. Man kann es nie überlasten.
Frage: Sie behaupten, jeder Mensch könne das
lernen, was Sie können. Ist Deutschland folglich ein Land voller Menschen, die
ihr Gehirn nicht ausreichend nutzen?
Stenger: Ja, da ist noch viel mehr rauszuholen, das ist aber nicht nur in
Deutschland so. Schon beim Zeitungslesen sollte man sich bewusst sagen, dass
man die Information, die man spannend findet, im Gedächtnis behalten möchte.
Sich etwas zu merken, hat viel mit Wollen zu tun. Wer will, kann überall
trainieren, sich beispielsweise auf der Straße nach Nummernschildern umschauen
und diese in Bilder oder kleine Geschichten umwandeln. Durch das
Gedächtnistraining erlebt man, was der Zustand Konzentration bedeutet - und den
kann man auf alle möglichen Situationen übertragen.
Frage: Ihr früherer Lateinlehrer hat einmal zu
Ihnen gesagt: "Wer in Latein keine Eins schreibt, der
kann auch nicht hochbegabt sein." Trauen Lehrer den Schülern generell zu
wenig zu?
Stenger: Ja, das ist ein großes Thema. Das fängt schon im Kindergarten- und
Grundschulalter an; da werden Kinder viel zu wenig gefördert. Auch wenn der
Unterricht an den Schulen schon besser geworden ist, bleibt das ein
Hauptproblem: Man traut Kindern immer noch zu wenig zu.