Haftung für fehlerhafte
Altprodukte
Ein US-Gericht hat die
Haftung für fehlerhafte Altprodukte drastisch verschärft – mit weit reichenden
Folgen auch für deutsche Unternehmen
In den kommenden Tagen und
Wochen werden Unternehmen und Haftpflichtversicherer durch Rundbriefe von
US-Kanzleien darauf aufmerksam gemacht werden, dass erneut ein hohes US-Gericht
den Anwendungsbereich der Produkthaftung drastisch zum Nachteil der Industrie
verschärft hat. Die Rede ist vom Supreme Court des
US-Bundesstaates Wisconsin, welcher in der Angelegen-heit
Thomas v. Mallett et al. am 15. Juli 2005 eine auch
intern mit vier zu zwei Richterstimmen äußerst umstrittene Rechtsentscheidung
zur drastischen Ausweitung der Produkthaftung nach Marktanteilen verkündet hat.
Nach dieser Doktrin soll der
Hersteller eines fehlerhaften Produkts auch dann (anteilig) für die
Verletzungsfolgen der klagenden Partei haften, wenn diese nicht konkret
nachweisen kann, von welchem Produkt ihre Verletzung verursacht wurde. Dann
reiche in bestimmten Ausnahmefällen der Nachweis aus, dass die Verletzung auch
durch ein chemisch weitgehend identisches Produkt (z.B. eines Wettbewerbers)
hätte eintreten können.
In dem in Kalifornien 1980
erstmals so entschiedenen Fall ging es um die Haftung von Herstellern des
Arzneimittelwirkstoffs DES, der Mitte vergangenen Jahrhunderts bei
Risikoschwangerschaften eingesetzt wurde. Die Einnahme von DES kann sehr viel
später dazu führen, dass Töchter von Müttern, die diesen Wirkstoff während der
Schwangerschaft aufgenommen haben, Jahrzehnte später an einer seltenen Form von
Vaginalkrebs erkranken.
Die Opfer konnten nicht mehr
beweisen, welcher Hersteller konkret vor Jahrzehnten den ursächlichen Wirkstoff
hergestellt oder vertrieben hatte. Um sie nicht rechtlos zu stellen, haben die
Gerichte alle Unternehmen, die diesen Wirkstoff hergestellt oder vertrieben
hatten, entsprechend ihrem damaligen Marktanteil haftbar gemacht. Eine
Verbreitung dieser Doktrin auf andere Produkte hat bisher nicht stattgefunden.
Ein Vierteljahrhundert
später hat der oberste Gerichtshof von Wisconsin diese Doktrin erneut
angewendet und sie dabei erheblich zum Nachteil der Industrie ausgeweitet in
einem Fall, in dem die kognitiven Defizite des 15-jährigen Klägers auf eine
Bleivergiftung zurückgeführt werden. Diese Vergiftung soll der Kläger als Kind
dadurch erlitten haben, dass er – überwiegend durch Hausstaub – in Kontakt mit
Weißbleikarbonat-Pigmenten kam, die in Anstrichfarben vorkamen. Diese waren im
Elternhaus aufgebracht worden. Die Häuser waren in den Jahren 1900 bzw. 1905
erbaut worden.
Der Kläger, der schon einmal
Entschädigungsleistungen erhalten hatte, nahm auch sieben namhafte Vertreter
der chemischen Industrie, darunter DuPont, auf
Schadensersatz in Anspruch, die derartige Pigmente irgendwann zwischen 1900 und
1980, als diese Pigmente in Anstrichfarben verboten wurden, hergestellt und
vertrieben hatten. Es handelte sich somit um einen Haftungszeitraum von 80 Jahren,
der für die Aufbringung der Bleifarbe in Betracht kam.
Keiner der Beklagten füllte
diesen Zeitraum auch nur annähernd aus, so stellte z.B. DuPont
diese Pigmente nur in der Zeit von 1917 bis 1924 her. Der Kläger konnte weder
darlegen, mit welchen Pigmenten er als Kind in Berührung kam, noch wann diese
in den jeweiligen Häusern aufgetragen wurden. Die beklagten Unternehmen, die
nicht Hersteller der Anstrichfarbe waren, kamen also nur als theoretisch
mögliche Hersteller der Pigmente in Betracht.
Da der Verzicht auf den
Ursachennachweis einen Zeitraum von 80 Jahren umfasste, ist ihnen praktisch
jede Verteidigungsmöglichkeit genommen, wenn der Kläger in dem jetzt
anstehenden Verfahren nur eine größere Wahrscheinlichkeit dafür nachweisen
kann, dass seine körperlichen Beeinträchtigungen auch auf eine Bleivergiftung
zurückzuführen sind. Einer der gegen diese Entscheidung votierenden Richter sah
deshalb auch verfassungsrechtliche Probleme auf diese Entscheidung zukommen, da
er die Grundsätze des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit verletzt sah,
was am Ende zu einer Aufhebung des Urteils durch den US-Supreme
Court führen könnte.
Der Fall Thomas ist nicht
der einzige Bleifarbenprozess in den USA, denn dort hat man erstaunlich lange
die Verwendung von Bleipigmenten in Anstrichfarben geduldet. In Deutschland
wurde sie bereits 1910 verboten. Dennoch verstießen Herstellung und Vertrieb
dieser Pigmente in den USA bis 1980 nicht gegen geltendes Recht, was die
gerichtlich abgesegnete, quasi rückwirkende Haftung schwer verständlich
erscheinen lässt. Verfahren in anderen Bundesstaaten waren deshalb bisher immer
auch zum Nachteil der Kläger ausgegangen. Das Gericht in Wisconsin hat jedoch
nicht nur in zeitlicher Hinsicht neue Maßstäbe gesetzt, sondern auch im Hinblick
auf die Produktdefinition.
An vielen Stellen der sehr
umfangreichen Entscheidung schimmert ein Motiv durch, das geeignet ist, die auf
Beklagtenseite versammelte Industrie zu warnen: Das Gericht ging anhand vieler
Referenzen ausführlich auf die medizinische und toxikologische Geschichte von
Weißbleikarbonat-Pigmenten und ihrer schon Anfang des 20. Jahrhunderts
bekannten Gesundheitsrisiken, insbesondere für Kinder, ein. Das Gericht
postulierte, dass Hersteller sich ihrer Verantwortung nicht durch formaljuristische
Argumentation entziehen dürften, wenn sie über Jahrzehnte bewusst gefährliche
Substanzen vertrieben hätten, die zu Gesundheitsschäden führen können. Die
Tatsache, dass deren Herstellung nicht verboten war, interessierte die Richter
nicht. Ebenso wenig der Einwand der beklagten Unternehmen, es müsse doch
zumindest feststehen, ob sie überhaupt kausal als Schädiger
in Betracht kämen.
Michael Pant
ist Inhaber der Kanzlei Pant Legal in Frankfurt am
Main.
Handelsblatt,
Donnerstag, 28.07.2005, Seite 7