Orale Giftaufnahme
(Welche Sofortmaßnahmen sind zu empfehlen?)
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Apotheker Zeitung 123Jahrg Nr. 31 4.8.1983
Bei Giftaufnahme :
Soll man den Patienten zum Erbrechen bringen z. B.
durch Trinken einer Salzlösung, soll man nur Kohle geben oder am besten beides?
Hier gehen die Meinungen bisweilen stark auseinander. Wir legten diese häufig
gestellte Frage nach den Sofortmaßnahmen bei oraler Giftaufnahme einem Spezialisten
vor: Dr. med. Max Daunderer, Tox Center München. Hier
seine Antwort.
Kohle-Pulvis statt Erbrechen
Früher empfahl bei Verdacht auf eine orale
Giftaufnahme der Apotheker oder Hausarzt dem Laien telefonisch als
lebensrettende Sofortmaßnahme das Trinken einer heißen Salzwasserlösung, das bei Ausbleiben des Erbrechens auch wiederholt gegeben
wurde. Heute wissen wir, dass durch die resorptive Giftwirkung
nach Schlafmitteln und Psychopharmaka das Brechzentrum gelähmt wird und zudem
die aufgenommene Giftmenge von 0,5 g NaCl / kg KG letal ist; dies führt nicht nur bei Kleinkindern zu
tödlichen Natriumchloridvergiftungen (DAZ 1982, Nr.47, S.2417). Andererseits
geschieht die Giftentfernung aus dem Magen durch ein Erbrechen trotz vorheriger
Füllung des Magens mit Wasser mit 15 bis 30% der aufgenommenen Giftmenge völlig
unzureichend. Die sofortige Verabreichung von Medizinalkohle führt innerhalb
von 60 Sekunden zur Adsorption fett- und wasserlöslicher Gifte im Magen und
auch den tieferen Darmabschnitten.
Wirkungscharakter
Medizinalkohle adsorbiert in Flüssigkeiten und Gasen
gelöste Teilchen und entfernt sie somit aus denselben. Adsorption ist die
Bindung gelöster Stoffe an Grenzflächen zwischen festen und flüssigen Medien.
Es besteht ein labiles Gleichgewicht zwischen Adsorption und Desorption. Diese Gleichgewichtsreaktion ist nach einer
Minute zu mehr als 90% abgelaufen. Nach 24 bis 48 Stunden wird der stabile
Kohle-Gift-Komplex durch kompetitive Einflüsse und pH-Wert-Änderungen in den tieferen Darmabschnitten wieder
gelöst.
Beschaffenheit
Medizinalkohle wird durch Verkohlung von pflanzlichen
Materialien wie Holz (speziell Lindenholz), Kokosnussschalen oder Moosen
gewonnen, besteht zu 90% aus Kohlenstoff und wird durch gesättigten Wasserdampf
oder Kohlendioxid bei hoher Hitze gereinigt und aktiviert. Es kommt hierbei zum
Anfressen der Oberfläche, die Kohlekörnchen sind danach von feinsten Kapillaren
durchzogen, die Oberfläche der
Kohlepartikel liegt bei etwa 1500 m2 / g. Die große
Oberfläche ermöglicht eine große Bindungskapazität. Die Teilchengröße und die
Porenweite von 20 bis 500 Ä bestimmen die Penetration und damit die
Geschwindigkeit der Adsorption. Das Pulver ist schwarz, geruch- und
geschmacklos, in Wasser und Ethylalkohol unlöslich. Medizinalkohle ist
atoxisch, sie kann nicht überdosiert, sondern höchstens unterdosiert werden.
Die Dosierung richtet sich nicht nur nach der zu erwartenden adsorbierenden
Giftmenge, sondern auch nach dem Magen-Darm-Inhalt, der ebenfalls adsorbiert
wird. Es wurden Einmalgaben bis zu 100 g gegeben. Kohle adsorbiert nicht nur
chemische Gifte, sondern auch Bakterien und Bakterien-toxine
(Staphylokokkenenterotoxin ), Bilirubin, Vitamine, Verdauungsenzyme, Aminosäuren und
andere Nahrungsbestandteile. Jegliche orale Medikation muss daher für die Dauer
der Kohlepassage durch den
Magen-Darm-Trakt unterbleiben.
Medizinalkohle reagiert neutral. pH-Veränderungen
beeinflussen jedoch die Adsorptionskraft von Kohle: Salizylsäure wird im sauren
Milieu des Magens besser adsorbiert als im alkalischen Milieu des Darms. Durch
den Magensaft, l. Bilirubin und Lipide der Kohle-Pulvis) adsorbieren Gifte wesentlich schneller (90% in
l min) als Kohletabletten (2 Std.), die erst völlig aufgelöst und suspendiert
werden müssen. Frisch zubereitete Kohlesuspensionen besitzen im Vergleich zu
länger aufbewahrten Kohlesuspensionen keine höheren adsorptiven
Eigenschaften. Von den Kohlezubereitungen verschiedener Firmen zeigt z. B.
Kohle-Pulvis der Fa. Köhler Chemie eine sehr hohe
Adsorptionskraft. Aus technischen Gründen wird bei der Intensivbehandlung
Vergifteter, bei der Antidotbehandlung oraler Vergiftungen
in der Arztpraxis, bei Massenvergiftungen am Unfallort oder bei Anwendung durch
Laien die praktische Anwendung von Kohle-Pulvis in
der Plastikdose der umständlichen Zubereitung der einzeln verpackten Kohle-Kompretten vorgezogen. Die negativen Erfahrungen mit
der zeitraubenden Zubereitung der Kohlesuspension aus
Kompretten haben uns veranlasst, die Herstellung der
praktischen Einmal-Applikationsform im Schraubbecher anzuregen.
Wirkzeit
Viele oral eingenommenen
Gifte halten sich oft erstaunlich lange, ja sogar einige Tage lang im Magen-Darm-Trakt
auf.
Viele Gifte wie Schlafmittel, Thallium, tricyclische Antidepressiva und Digitalis
488 Fragen aus der Praxis
Deutsche Apotheker Zeitung 123. Jahrg.
Nr.31 4.8.1983
Opiate haben einen enterohepatischen
Kreislauf, d. h. die resorbierten Gifte werden in der Leber abgebaut und zum
Teil über die Galle wieder in wirksamer Form in das Duodenum gebracht. Hier
kann die wiederholte Kohlegabe eine erneute Resorption unterbrechen und die
Halbwertszeit erheblich reduzieren (Alternative zur Hämoperfusion).
Dauertherapie
Kohle wird auch in extrem hohen Dosen von z. B. 100
Gramm gut vertragen. Lediglich eine wochenlange Dauertherapie unter oraler
Ernährung könnte zu Vitamin- und Eiweißmangelerscheinungen führen. Eine Inhalation
von Kohlestaub oder Aspiration von Kohlesuspension ist völlig ungefährlich.
Kohlezeit
Die Zeitspanne, die zwischen der oralen Gabe und dem
Auftreten der Kohle im Stuhl verstreicht, wird als Kohlezeit bezeichnet. Sie
dient zur Beobachtung der Darmpassage des Giftes. Wenn die Kohle im Stuhl auftritt,
hat bei genügend hoher Kohledosierung der nicht aus dem Darm resorbierte
Giftanteil den Körper verlassen. Eine Abführmittelzugabe verkürzt die
Kohlezeit.
Indikation
Tenside in Wasch- und Reinigungsmitteln werden stark
adsorbiert. Die Adsorptionskraft von Medizinalkohle bei Paraquatvergiftungen
wird von Bentonit oder Füllers Earth deutlich
übertroffen, ist jedoch der Gartenerde weit überlegen. Organische Lösungsmittel
wie Benzol, Diethylamin, Tetrachlorethan,
Tetrachlorkohlenstoff u. a. werden von Medizinalkohle fast ebenso gut
adsorbiert wie von Paraffinöl.
Pilzgifte und andere giftige Nahrungsbestandteile
(Histamin, Proteus, Choleravibrionen) werden von Medizinalkohle
hervorragend adsorbiert. Schädlingsbekämpfungsmittel wie Alkylphosphate
und Carbamate werden zwar an Kohle adsorbiert,
infolge der darmlähmenden Wirkung der bei
Vergiftungen angewandten hochdosierten Antidottherapie mit Atropin
empfiehlt sich hier initial die Zugabe von
Natriumbikarbonat zum Magenspülwasser bzw. zum hohen
Darmeinlauf zur Inaktivierung der Gifte und erst später die wiederholte Gabe
von Kohle.
Ethanol, Methylalkohol und Ethylenglykol werden zwar
leicht an Medizinalkohle adsorbiert, aber auch rasch wieder resorbiert. Klinisch
bewährt hat sich die wiederholte Anwendung von Kohle über die Magensonde z. B.
bei der Pankreatitis, der Hypothermie oder dem paralytischen Heus zur
Verhinderung eines Endotoxin-Schocks.
Medizinalkohle bindet hier toxische Abbauprodukte im
Darm, die eine schädigende Wirkung auf parenchymatöse
Organe haben können. Die älteste Indikation für Kohle, die Reduktion der
Flatulenz wird über die Adsorption der sie erzeugenden Bakterien erklärt.
Wirkungslosigkeit
Praktisch nicht an Kohle adsorbiert werden Mineralsäuren,
Natriumsulfat, Natriumhydroxid, Kaliumhydroxid
und in Wasser unlösliche Substanzen wie Tolbutamid.
Schlecht adsorbiert werden Eisensulfat, Malathion, DDT,
N-Methylcarbamat, Borsäure,
Ethylalkohol. Methylalkohol und Thallium. Blausäure wird ebenfalls kaum von
Kohle adsorbiert und hebt zugleich die adsorptive
Wirkung von Kohle auf. Bei der Herstellung
von Medizinalkohle ist daher auf die Freiheit von
Blausäure zu achten.
Kontraindikation
Es gibt keine Kontraindikation für die orale
Anwendung von Medizinalkohle. Nach Ätzmittelingestion
ist eine Kohlegabe wirkungslos und damit sinnlos. Bei Agitation oder
Benommenheit fehlt ohnehin die Kooperation des Patienten. Eine Aspiration wäre
nicht gefährlich.
Alternative zum Erbrechen
Ein Salzwasser-Erbrechen kann durch eine
Natriumvergiftung gefährlich, ja sogar tödlich sein. Ein Apomorphin-Erbrechen
kann wegen Kreislaufnebenwirkungen, ein Ipecachuanha-Erbrechen
wegen Wirkungslosigkeit oder Gefahr zerebraler Nebenwirkungen bei Überdosierung
gefährlich sein. Außerdem erfolgt die Entleerung des Magens nach einmaliger
Füllung vor dem Erbrechen insuffizient. In allen
Fällen ist hier die orale Gabe von Aktivkohle schneller wirksam, effektiver und
gefahrloser. Selbst nach einer Magenspülung, die lege artis
mit 40 Litern Wasser durchgeführt wurde, müssen die Giftreste aus dem Magen und
den tieferen Darmabschnitten durch Kohle gebunden werden. Durch die sofortige
Gabe von Kohle am Unfallort bei
ansprechbaren und kooperativen Patienten kann in
leichteren Fällen ein provoziertes Erbrechen erspart werden, in ernsteren
Fällen nach vermutlicher Aufnahme toxischer Giftmengen kann sich in der Klinik
die Magenspülung anschließen. In den Fällen, in denen früher an ein
provoziertes Erbrechen als Erstmaßnahme gedacht wurde, empfiehlt sich heute die
Kohlegabe in ausreichender Menge und rascher Zubereitung.
Dosierung
Die Dosierung bei oraler Applikation muss etwa lO-fach höher liegen als in vitro
für die aufgenommene Giftmenge berechnet, da die Kohle den gesamten
Magen-Darm-Inhalt adsorbiert; lOO-fache Dosen sind jedoch
auch vertretbar. Als einmalige Dosis sollte bei jedem Vergiftungsverdacht nach
oraler Giftaufnahme eine Einzeldosis von 10 g Kohle-Pulvis
bei Ewachsenen. etwa die Hälfte bei Kindern und etwa
ein Viertel bei
Säuglingen eingegeben werden. Die orale Antidottherapie mit Medizinalkohle ist nach oraler
Giftaufnahme außerordentlich effizient und gerade für Laien im Verdachtsfalle
leicht anwendbar. Es gibt keine Kontraindikationen. Die Unterlassung dieser
Therapie kann als ärztlicher Kunstfehler gewertet werden. Sie ist das
wichtigste Antidot einer Hausapotheke.
Literatur:
Daunderer. M: Klinische Toxikologie, Ecomed.
Landsberg. 1983.
Anschrift des Verfassers: Dr. mcd. Max Daunderer.
Weinstraße 11 . 8OOO München 2
Dr. med. Max Daunderer, Tox
Center, München