1972 Gegengifte Erstanwendung durchlöcherte den eisernen Vorhang
Feiernd nach einem langen
Arbeitstag saß das Intensivstationsteam auf der Schwabinger TOX zusammen. Da
stürzte unangemeldet ein kleiner Mann herein, der mit seinem Auto bis zur
Stationstür im Klinikgelände gefahren war.
Er schrie: "Helft'mir ich hab'eine
Blausäurevergiftete". Auf seinem Rücksitz lag eine Bewusstlose. Sie war
sehr schwer. Mühsam wurde sie hereingeschleppt. Sie war hellrot und roch
süßlich aus dem Mund (Bittermandelgeruch). Alles schien sehr makaber. Der
Diensthabende Arzt intubierte die
Bewusstlose, die nicht mehr atmete, legte einen Venenzugang, die Schwestern
einen Blasenzugang. Eine künstliche Beatmung wurde eingeleitet, das Herz schlug
unregelmäßig. Eine Magenspülung wurde eingeleitet. Da erinnerte ich mich, von Prof. Weger, dem Toxikologen
der Bundeswehr, vor langem eine Ampulle mit einem neuartigen Blausäure-Antidot
erhalten zu haben. Es war eine selbst Zugeschweißte 2 ml Ampulle mit Handbeschriftung. (Foto der
zweiten anbei) Die Bundeswehr hatte sie gegen russische Kampfstoffe entwickelt.
Das Gegengift war noch nie am vergifteten Menschen eingesetzt worden. Der
erheblich betrunkene Mann der Vergifteten erzählte, dass seine Ehefrau eine Chemielaborantin
beim nahe gelegenen Aluminiumwerk sei, die stets drohte, beim nächsten Streit
schlucke sie eine gewaltige Dosis Zyankali in sauerem Wein.
Er hatte sich immer
überlegt, was er dann tun würde. Nach einer Feier mit viel Alkohol kam es
wieder zum Streit, sie stürzte ins Badezimmer, löste einen gehäuften Esslöffel
Zyankali im Wein, trank und fiel sofort bewusstlos um. Er zerrte die
Bewusstlose die Treppe hinunter, verfrachtete sie auf den Autorücksitz (die
Türe ging nicht zu, trotz heftigen Schlagens, da die Großzehe dazwischen lag)
und er raste über viele Rotlichter hinweg nachts in die Klinik. Die Story
erschien so unwahrscheinlich, dass ich sofort die Polizei verständigte unter
dem Verdacht eines Mordversuchs. Sie bestätigte die vorgetragene Version voll.
Nach Finden der Gegengift
Ampulle (4 DMAP) in meinem Klinikschrank kam ich euphorisch auf die Station.
Trotz aller Maßnahmen schien die Patientin gerade zu sterben, das Herz schlug
nur selten, die Haut war hellrot, der Sauerstoff konnte nicht mehr in die Zelle
gelangen. Großspurig verkündete ich nun: "Jetzt werdet ihr eine
Wunderheilung sehen, gleich steht sie auf". Ich spritzte rasch die kleine
Ampulle in den gelegten Zentralvenen - Zugang. Daraufhin wurde die Patientin
binnen 60 Sekunden blitzblau (Methämoglobinämie). Ich
bekam Angst. Es schien, als ob dies den Tod bedeutet. In panischer Angst
spritzte ich dann das zweite vorgeschriebene Gegengift (Natriumthiosulfat)
nach. Alle übrigen wandten sich ab und
rechneten mit dem Tod. Nachdem ich 100 ml des zweiten Gegengiftes gespritzt
hatte, wand ich mich auch enttäuscht ab. Plötzlich tat sie einen Schrei,
blitzschnell richtete sie sich auf, riss Tubus, Venen- und Blasenkatheter
heraus, stieg aus dem Bett, lief zum Spiegel, strich sich übers Haar und rief
laut angesichts ihres tiefblauen Gesichtes "Was habt's Ihr mit mir
getan?". Bis dahin waren alle wie versteinert, jetzt stürzten sie zu ihr,
führten sie ins Bett und sprachen mit der völlig Vernünftigen.
Ich sammelte nun weiter
wie vorher alle 5 Minuten Blut- und Urinproben und sandte sie noch in der
gleichen Nacht zum Toxikologie Kollegen v. Clarmann an der Uni. Bei der
anschließenden Feier verkündete ich stolz "das wird mein
Habilitationsfall", jetzt gehe ich an die Uni als Oberarzt. Da dies von
einem Städtischen Krankenhaus aus fast unmöglich war, belächelten mich alle
still. Clarmann hat die Proben aus Eifersucht unterschlagen, erst nach
Überwechseln zu ihm Jahre später tauchten sie auf und waren verdorben.
Die Veröffentlichung des
Falles ohne die dazugehörigen Werte war natürlich wesentlich reizloser, aber es
war trotzdem ein Markstein der Klinischen Toxikologie.
Trotz aller
Eifersüchteleien und Anfeindungen führte die Weltpremiere zur Habilitation.
Nebeneffekt der ersten zivilen Veröffentlichung war, dass die chemische
Billigwaffe der Russen ihre Gefährlichkeit verlor. Mit Blausäurekontainern
hätten sie die Zivilbevölkerung bei uns auslöschen können und die unbeschädigte
Industrie übernommen. Die Medizin half, die Welt friedlicher zu machen und den
eisernen Vorhang zu überwinden.
Die Erstanwendung des
Blausäreantidots 4-DMAP war möglich durch exakte Vorinformation, warten auf den
Fall, geeignete Bevorratung und den Mut zur Tat.
Nach dem
hervorragenden Ergebnis, bei dem eine beinahe tote Patientin erwachte und kurz
darauf ohne jegliche Nebenwirkungen nach Hause entlassen werden konnte, wurde
das Antidot in zahlreichen weiteren Fällen selbst angewandt und empfohlen.
Es
folgte die Entdeckung der Antidotwirkung von 4-DMAP bei H2S, Schwefelwasserstoff, deren Vergiftungen erfolgreich
behandelbar sind, sowie die Entdeckung der Antidotwirkung von 4-DMAP bei Aziden. Dies waren meine Habilitationsfälle.
(Auszug
aus meiner neuen Biografie)