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Exemplarisch dargestellt am Thema Euthanasie |
Autorin | Mirica Kordis |
Institut | Hans-Weinberger-Akademie München |
Erschienen | Kurs 98/2000 - Februar 1999 |
Sonstiges | Referat im Rahmen der Weiterbildung zur Krankenhauspflegedienstleitung. Fach: Berufskunde |
1
Einleitung
Krankenpflege im Nationalsozialismus, Euthanasie im "Dritten Reich", was
haben wir damit zu tun? Dieses Kapitel war kein Thema in meiner
Krankenpflegeausbildung und nach meinen Recherchen auch kein Thema in vielen
anderen Krankenpflegeschulen. Damit sich die Ereignisse dieser Zeit nicht
wiederholen, braucht die Krankenpflege ein eigenes Selbstbewußtsein und dazu
auch das Wissen über diese Zeit. Denn nur mit der Kenntnis aller geschichtlichen
Daten, sind wir in der Lage, uns mit unserem Beruf kritisch
auseinanderzusetzen.
Daher lautet meine These:
Durch das fehlende Selbstbewußtsein und die unkritische Einstellung der Pflegenden zu ihrem Beruf sowie dem absoluten Gehorsam gegenüber den Ärzten und der Obrigkeit, war es möglich, die Krankenpflege im Nationalsozialismus so zu mißbrauchen.
Zu Beginn des Referates werde ich eine Begriffsbestimmung und einen geschichtlichen Rückblick geben sowie auf die Gesetzgebung in dieser Zeit hinweisen.
Im Hauptteil wird exemplarisch am Thema Euthanasie die Rolle der Krankenpflege in dieser Zeit beschrieben. Dabei werde ich insbesondere die Kindereuthanasie, die Tötungen durch Vergasung und die Zeit der "wilden Euthanasie" darstellen.
2
Definitionen
2.1 Definition der Begriffe Euthanasie und
Eugenik
Euthanasie
: "gr. schöner Tod, Sterbehilfe: Bez. f. ein Handeln, das bestimmt u.
geeignet ist, den erleichterten u. schmerzgelinderten Tod eines unheilbar
schwerkranken Menschen zu ermöglichen.(...)"
(Psychrembel,1994,S.1460)
Eugenik : " Lehre von der Verhütung von Erbschädigungen, Bekämpfung
von Erbkrankheiten". (Meyers,1975,S.262)
2.2 Eugenik und Euthanasie im Dritten
Reich
In der
Eugenik und Rassenhygiene des Dritten Reiches spiegelt sich schon sehr früh die
Absicht wider, sogenanntes unwertes Leben zu beseitigen, bzw. gar nicht erst
entstehen zu lassen (siehe z.B. Gesetzgebung zur Zwangssterilisation). In Folge
dieser Rassenideologie kam es zu großangelegten Euthanasieaktionen. Wobei die
Euthanasie im Dritten Reich ein Tarnbegriff für bestens organisierte,
menschenverachtende Tötungsaktionen darstellte. Und der Begriff "lebensunwerten"
Lebens ein breites Auslegungsspektrum fand.
3 Geschichte der Euthanasie
3.1 Wandlung eines
Begriffes
Der
Begriff der Euthanasie wurde schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts in die
medizinische Literatur eingeführt und bezog sich auf den Umgang mit Sterbenden.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war die Bedeutung der Euthanasie auf die
Sterbebegleitung ohne Lebensverkürzung begrenzt. Die Tötung von Sterbenden wurde
einhellig abgelehnt. Erst Ende des 19. Jahrhunderts bis 1930 entwickelte sich
Euthanasie zum Synonym für die schmerzlose Tötung Sterbender, unheilbar (
psychisch ) Kranker und geistig Behinderter im Zuge einer kontroversen
Diskussion um Sterbehilfe, Tötung auf Verlangen und "Vernichtung lebensunwerten
Lebens".
Euthanasie meinte im Sinne von "Vernichtung unwerten Lebens" die Tötung schwacher, kranker, körperlich und geistig behinderter Neugeborener, als Maßnahme zur Erbpflege, die Tötung von unheilbar Kranken und Behinderten aus Mitleid, sowie die Tötung von Langzeitpatienten in psychiatrischen Institutionen, die als behandlungsunfähig galten, aus Gründen der Kostenersparnis. (vgl. Schmuhl,1987,S.355)
In der heutigen Zeit leben die Diskussionen um eine Legalisierung der Euthanasie wieder auf. Dabei wird der Begriff mit passiver und aktiver Sterbehilfe übersetzt.
3.2 Vorbereitung der
Euthanasieaktionen
Vermutlich gab es schon zu Beginn des Dritten Reiches Planungen zu einem
Euthanasieprogramm, die allerdings geheimgehalten wurden.
Die Euthanasieaktionen konnten nur auf der Basis bestimmter rassenideologischer Vorstellungen der Führung des Dritten Reiches entstehen. Diese Ideen existierten bereits lange vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Grundlage dafür war philosophisches Gedankengut des 19. Jahrhunderts, basierend auf den Theorien des Arthur Comte de Gobineau ("Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen") und Charles Darwin ("Über die Entstehung der Arten"). Daraus entwickelten die Nationalsozialisten ihre Theorien von der Rassenhygiene bis hin zu einer Rassenpflege des arischen Erbgutes.
Die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene wurde 1905 gegründet. Ziel dieser Organisation war, alle Entartungserscheinungen durch bevölkerungspolitische Maßnahmen zu bekämpfen, um die Reinerhaltung des Erbgutes sicherzustellen. Ein wichtiges Instrument für die Rassenhygiene sollte die Massensterilisation der "Minderwertigen" darstellen, was Hitler schon in seinem Buch "Mein Kampf" forderte.
Bereits 1920 gab es Berechnungen der
ökonomischen Ersparnisse durch die Verhinderung der Fortpflanzung
"Minderwertiger". Eine Schrift über die Vernichtung unwerten Lebens wurde zu
dieser Zeit ohne großen Widerstand und mit überwiegender Zustimmung
aufgenommen.
(vgl.
Steppe, 1996,S.138)
4 Die Rolle des Pflegepersonals im "Dritten
Reich"
4.1
Neuordnung der Krankenpflege
Der NS Staat hat unmittelbar nach seiner
Machtübernahme begonnen, das gesamte Bildungssystem nach seinen Vorstellungen zu
beeinflussen und umzustrukturieren. Auch die Krankenpflege konnte sich dem nicht
entziehen. Sie stand am Beginn eines neuen Zeitalters und erfuhr eine enorme
Aufwertung, in einer Zeit der mangelnden sozialen Anerkennung des
Pflegepersonals, sowie der berufspolitischen Zersplitterung der Verbände. Wie
leicht zu beeinflussen bzw. zu mißbrauchen dieser Zustand war, zeigte sich
später. (vgl.Möller,1994,S.144)
Eine grundlegende Neuordnung der
Krankenpflege im Nationalsozialismus hatte im
wesentlichen zwei Ziele :
Trotz umfangreicher Werbekampagnen und Bevorzugung der NS-Schwesternschaft bei der Stellenbesetzung, gelang es ihr nicht zur zahlenmäßig größten Schwesternschaft zu werden.
Ungeachtet der straffen und vereinheitlichten Organisation des gesamten Schwesternwesens gelang es nicht, die Schwesternschaften so gleichzuschalten, wie es den nationalsozialistischen Zielen entsprach.
Das Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens wurde 1935 verabschiedet und ermächtigte alle staatlichen Gesundheitsämter die Aufsicht über die Berufstätigkeit ärztlichen Hilfspersonals.( vgl. Steppe, 1990,S.364 )
4.2 Aufgabenstellung des
Pflegepersonals
Eine erweiterte Aufgabenstellung in der Krankenpflege gehörte zu den
wichtigsten Veränderungen im Nationalsozialismus. Auch Begriffe wie Dienen,
Selbstlosigkeit und Opfertum blieben erhalten, jedoch erhielten sie in der
Bedeutung eine zusätzliche Komponente wie : Dienst am Volk, das Opfer für
Deutschland und Selbstlosigkeit im Zusammenhang mit der Züchtung einer reinen
Rasse.
Die verschiedenen Aufgabengebiete in der Krankenpflege gliederten sich in folgende Bereiche :
Ein wichtiger Bereich der Krankenpflege war die Volksgesundheitspflege. In diesem Aufgabengebiet durfte die Krankenpflege auch in eigenständiger Funktion bei der Gesunderhaltung des Deutschen Volkes tätig werden.
"Genauso wie z.B. den Deutschen Ärzten durch den Nationalsozialismus völlig neue erweiterte Aufgaben gestellt worden sind, so kann sich für uns Nationalsozialisten die Aufgabe einer Schwester nicht darin erschöpfen, nur Helferin des Arztes in der Behandlung und Pflege der Kranken zu sein, die dazu noch nach Kräften für das leibliche Wohl der ihr Anvertrauten sorgt..."(Jensen in Steppe,1996,S.73)
Dennoch wurde vom Krankenpflegepersonal absoluter Gehorsam gegenüber den Ärzten und den Vorgesetzten abverlangt.
Im Rahmen der Gesundheitserziehung wurden die Aufgaben in Form von Beratung, Anleitung und Aufsicht durch Gemeindeschwestern wahrgenommen. Ferner hatten sie die Aufgabe, nationalsozialistisches Gedankengut über ihren Einfluß in den Familien zu verbreiten.
Sie entschieden über die Einleitung weiterführender Maßnahmen, wie Kuren oder Kinderlandverschickungen, und waren letztendlich dazu verpflichtet, "abweichendes Verhalten" und Kindesmißbildungen an die zuständigen Behörden weiterzuleiten. Mit diesem Aufgabengebiet wurden ausschließlich NS-Schwestern betraut. (vgl.Steppe,1996,S.73)
5 Mitwirkung des Pflegepersonals bei
Euthanasieaktionen
5.1 Chronologie der Vernichtung
Die systematische Verfolgung der
Gemeinschaftsunfähigen begann schon kurz nach der Machtergreifung. Das
Konzentrationslager Dachau wurde 1933 in Betrieb genommen, ein Jahr später das
Konzentrationslager Ravensbrück.
Mit Gemeinschaftsunfähigen waren z.B. Obdachlose, Gewerkschaftler und Sozialdemokraten gemeint, die in diesen Lagern interniert und gefoltert wurden, dabei galt das "Prinzip der Vernichtung durch Arbeit".
Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wurde 1933 verabschiedet und trat 1934 in Kraft. Dabei entschieden die Erbgesundheitsgerichte über die Sterilisierung, die bei Erbkankheiten und bei Alkoholismus möglich war.
Das Gesetz zum Schutze des Volkes wurde 1935 verabschiedet. Es stellte alle unerwünschten Eheschließungen unter Strafe und forderte die Vorlage eines Ehetauglichkeitszeugnisses.
1935 wurden den Juden alle politischen Rechte entzogen und das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre erlassen.
Die Vernichtung "lebensunwerten" Lebens durch Tötung wurde Hitler erstmals 1935 durch den Reichsärzteführer vorgetragen. Er willigte grundsätzlich ein, wollte den Kriegsbeginn jedoch abwarten.
1938/39 wurde eine Führervollmacht erwirkt, um die Kindereuthanasie einzuleiten. Alle behinderten Kinder mußten von diesem Zeitpunkt gemeldet werden. Mindestens 5000 dieser Kinder wurden in sogenannten Kinderfachabteilungen ermordet.
Eine Ermächtigung, daß unheilbar Kranken der Gnadentod zu gewähren sei, wurde auf den Kriegsbeginn zurückdatiert.
Nach einem Runderlaß des Reichsinnenministers wurden im September 1939 alle Heil- und Pflegeanstalten erfaßt. Ende September 1939 begannen die ersten Töungsaktionen. Ab Oktober des selben Jahres wurden Meldebögen für alle Patienten in Heil- und Pflegeanstalten verschickt, die von den Ärzten der Anstalten ausgefüllt wurden. Die Meldebögen wurden an ärztliche Gutachter weitergeleitet, die über das Schicksal (d.h. Leben oder Tod) der Patienten entschieden.
Die Mordaktion wurde über eine zentrale Dienststelle in Berlin, Tiergartenstr.4 organisiert, weshalb sie auch die "Aktion T4" genannt wurde.
In sechs für die Tötungsaktion umgebauten Anstalten (1. Grafeneck/Württemberg, 2. Brandenburg/Havel, 3. Hartheim/Linz, 4. Sonnenstein/Pirna, 5. Bernburg a. d. Saale, 6. Hadamar/Limburg) wurden zwischen Januar 1940 bis August 1941 über 70000 Menschen vergast.
Die Zeit der "wilden Euthanasie" begann im November 1941 nach dem offiziellen Stopp der Aktion "T4" und dauerte bis zum Kriegsende. Dabei erfolgten die Tötungen durch Medikamente oder Nahrungsentzug.
Ab April 1941 wurden die Häftlinge aus Konzentrationslagern in den Vergasungsanstalten ermordet. Mitte des Jahres 1943 räumte man Heil- und Pflegeanstalten, wenn diese kriegsbedingt anderweitig gebraucht wurden. Die Insassen kamen zur Tötung in die Anstalten der "wilden Euthanasie".
Im November 1942 wurde vom bayrischen Innenministerium der "Hungererlaß" ausgesprochen, der alle psychiatrischen Patienten betraf.
Medizinische Versuche an Menschen kamen ab 1941 in den Konzentrationslagern zur Anwendung. Dabei verstarb eine große Anzahl der Häftlinge.
Die Tötungsanstalten wurden 1944 und 1945 aufgelöst, jedoch wurde in vielen Anstalten bis zur Befreiung durch die Alliierten weiter getötet. An den Folgen der Unterernährung starben noch viele Menschen. (vgl. Steppe, 1996, S.144ff)
5.2 Die Kindereuthanasie
Die Kindereuthanasie war von Anfang an
geheime Reichssache. Im Frühjahr 1939 erhielt der Leibarzt Hitlers die
Ermächtigung, die Tötung behinderter Kinder zu genehmigen, wenn dies von den
Eltern verlangt wurde.
Ein geheimer Erlaß des Reichsinnenministeriums verpflichtete im August
1939 die Hebammen, Geburtshelfer und leitenden Ärzte von Entbindungsanstalten,
alle behinderten Kinder bis zu drei Jahren, dem "Reichsausschuß zur
wissenschaftlichen Erfassung von anlagebedingten schweren Leiden" zu melden.
Später wurde das Alter der Kinder bis auf 17 Jahre heraufgesetzt. Damit waren
alle behinderten Kinder gemeint, die im Elternhaus lebten. Nach Begutachtung der
Meldebögen wurde darüber entschieden, ob die Kinder getötet werden sollten oder
nicht. In Zweifelsfällen wurden die Kinder in die zur Tötung bestimmten
Kinderfachabteilungen zur Beobachtung eingeliefert. Die Einweisung erfolgte
durch den zuständigen Amtsarzt. Angeblich gab es für die Tötung der Kinder eine
Einwilligung der Eltern, jedoch nicht unbedingt in der schriftlichen Form. Oft
wurde das Einverständnis durch Täuschung der Eltern eingeholt. Rund 30
Kinderfachabteilungen wurden zur Durchführung der Kindestötungen in Heil- und
Pflegeanstalten eingerichtet.
Mit den zur Beobachtung eingelieferten Kindern wurden verschiedene Tests durchgeführt, wobei die modernsten diagnostischen Methoden zur Anwendung kamen. Nach Abschluß der Beobachtung wurde darüber entschieden, ob die "Behandlung"(Tötung) eingeleitet werden sollte.
Um eine Häufung der Todesfälle zu vermeiden wurden Terminkalender angelegt, in denen festgelegt war, wann welches Opfer getötet werden sollte. Die Terminierung erstellte der Abteilungsarzt mit den "Sonderpflegern und ?pflegerinnen". Damit war das Krankenpflegepersonal in den Kinderfachabteilungen gemeint.
Die Kinder erhielten mehrmals Überdosen Luminal in den verschiedenen Darreichungsformen, teilweise kombiniert mit Morphin-Scopolamininjektionen. So war ein langes Hinausziehen des Todes möglich, so daß viele von den tief sedierten Kindern eines natürlichen Todes starben (z. B. Lungenentzündung, Verdursten). (vgl.Schmuhl,1987,S.182ff)
Eine weitere Methode war, die Kinder verhungern zu lassen, mit dem zynischen Argument, die Auslandspresse nicht zu mobilisieren. Diese Methode wurde ab 1942/43 weiter ausgebaut, indem jegliche Behandlung von Erkrankungen versagt wurde. Außerdem verzichtete man auf jede Erziehungsmaßnahme bei Minderjährigen.
Besuchswünsche der Angehörigen wurden so lange hinausgezögert, bis die Kinder entweder im Sterben lagen oder bereits tot waren. Energische Proteste von Eltern führten dazu, daß einige Kinder entlassen wurden. Sie wurden jedoch unter die Aufsicht der Jugendämter gestellt. Die Arbeitsämter wurden angewiesen, vor allem alleinstehende Mütter in den Arbeitsdienst zu verpflichten, um ihnen jede Möglichkeit zu nehmen, sich um die Kinder zu kümmern. (vgl. ebd.,S.188)
Hier zeigt sich meines Erachtens die grausame Vorgehensweise, an der auch das Krankenpflegepersonal großen Anteil hatte. Denn nach geltendem Recht hätte das Pflegepersonal sowie die Ärzte sich weigern können an diesen Aktionen teilzunehmen.
5.3
Aktion T4
Wie ich
bereits in Kapitel 5.1 erwähnte, wurde die Aktion T4 nach dem Sitz der
Zentraldienststelle hin benannt.
Die Zentraldienststelle der Euthanasie trat in Form folgender Tarnorganisationen auf:
1. Die Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten (RAG)
- zuständig für die Verschickung und Sammlung der Meldebögen- Regelung der Verwaltungsaufgaben nach der Ermordung
2. die Gemeinnützige
Kranken-Transport-GmbH (GEKRAT)
- zuständig für die Verlegungen
3. die Gemeinnützige Stiftung
für Anstaltspflege
- zuständig für die Besoldung des Personals- zuständig für Bau- und Beschaffungsmaßnahmen, sowie der Verwertung von Zahngold und Schmuck der Ermordeten
4. die Zentralverrechnungsstelle
Heil- und Pflegeanstalten
- zuständig für das gesamte Abrechnungsverfahren
Die Organisation der
Massenvernichtungskampagne lief folgendermaßen ab:
Die Patienten, die in Heil- und Pflegeanstalten untergebracht waren, mußten durch einen Meldebogen der Zentrale in Berlin gemeldet werden. Neben persönlichen Daten der Patienten waren u.a. Angaben zur Diagnose, Rassenzugehörigkeit, Dauer des Anstaltsaufenthaltes, sowie der Arbeitsfähigkeit zu erbringen. Die Leiter der Anstalten waren sich zunächst über die Verwendung der Meldebögen im unklaren. Im allgemeinen vermutete man den Einsatz der arbeitsfähigen Kranken als Rüstungsarbeiter, deshalb wurden viele Meldebögen zu Ungunsten der Kranken ausgefüllt, denn auch in den Anstalten wurden sie als Arbeitskräfte eingesetzt.
Die Bögen wurden nach dem Rücklauf
an drei verschiedene, voneinander unabhängige ärztliche Gutachter versandt, die
in dafür vorgesehene Kästen ein "+"(ja=Ermordung), ein "-"(nein) oder ein
"fraglich"(zusätzliche Untersuchung) eintrugen und damit über das Leben oder den
Tod der Kranken entschieden, ohne diese Patienten vorher untersucht zu haben.
Die endgültige Entscheidung wurde von einem sogenannten Obergutachter getroffen,
der Professor für Neurologie und Psychiatrie an einer deutschen Universität sein
sollte. Die zur Tötung bestimmten Patienten wurden namentlich in Listen durch
die RAG zusammengefaßt und den jeweiligen Anstalten zugeleitet, mit der
Aufforderung, diese Personen für ein bestimmtes Datum abholbereit zu halten.
Diese Patienten wurden dann mit Bussen entweder direkt oder über sogenannte
Zwischenanstalten in die Tötungsanstalt transportiert. Zweck
dieser
Zwischenanstalten war, entweder Irrtümer zu korrigieren oder was noch
wichtiger erschien, Spuren zu verwischen, um den Angehörigen über den Verbleib
der Kranken im unklaren zu lassen. Erst in den Tötungsanstalten wurden die
Angehörigen über den Verbleib der Kranken informiert, mit dem Hinweis, daß zur
Zeit keine Besuche möglich wären. Kurz darauf ging die Todesmeldung
ein.
In den Tötungszentren wurden die Patienten unmittelbar nach ihrem Eintreffen ermordet.
Dazu wurden sie vorher entkleidet, fotografiert und einem Arzt vorgeführt, der die Personalien überprüfen und eine Untersuchung durchführen sollte. Anschließend wurden sie in die Gaskammer geführt, die äußerlich einem Duschraum ähnelte. Die Leichen wurden nach der Vergasung verbrannt, die Asche auf Urnen verteilt und auf Wunsch den Angehörigen zugestellt. (vgl. Möller,1994,S.158)
Jedoch wurden diese Massenmorde trotz aller Vorsichtsmaßnahmen in der Bevölkerung bekannt. Eine Krankenschwester der Kreispflegeanstalt Freiburg berichtete:
"Das seltsamste bei alledem war, daß unsere Pfleglinge von der sogenannten Euthanasie mehr wußten als wir selber. Sie erfuhren von diesen Dingen bei ihren Ausgängen in die Stadt und brachten uns dann diese Geschichten mit. Wir Schwestern sprachen dann bei Tisch darüber und hielten das für unsinnige Gerüchte, bis dann nach dem 1. Transport die 1. Todesnachrichten kamen und insbesondere bis der Transportführer beim 2. Transport die Anstaltskleider unserer Pfleglinge, die mit dem 1. Transport weggekommen waren, zurückbrachte. Diese Kleider waren noch genau in dem Zustand, wie sie von unseren Pfleglingen abgestreift worden waren. Als wir das sahen, packte uns ein Grauen." (Klee,1985,S.111)
Einige Pflegekräfte aus den Ursprungsanstalten der Patienten haben versucht diese zu retten, indem sie einzelne versteckten oder falsche Angaben zur Arbeitsfähigkeit machten. Teilweise wurden die Angehörigen darüber informiert, daß sie ihre kranken Familienmitglieder aus der Klinik nach Hause holen sollten.
Die Beteiligung des Pflegepersonals an folgenden Aktionen ist nachgewiesen:
"1. Vorbereitung zum Abtransport, Richten und Auflisten der persönlichen Gegenstände, Kennzeichnung der Patienten mittels Pflasterklebestreifen oder direkt auf die Haut, wobei mit Tintenstift zwischen die Schulterblätter Angaben zur Person geschrieben wurden, An- und Auskleiden der Patienten.
2. Begleitung der Transporte zur Zwischen- oder Tötungsanstalt, während der Fahrt wurden unruhige Patienten mit Medikamenten oder Fesseln "beruhigt".
3. Begleitung der Patienten in die Tötungsanstalten, Hilfe beim Entkleiden und der Vorführung beim Arzt.
4. Begleitung der Patienten bis zur Gaskammer.
5. Entgegennahme der persönlichen beziehungsweise anstaltseigenen Sachen der Patienten nach der Ermordung. (Steppe,1996,S.152)
Wegen zunehmender Proteste aus der Bevölkerung wurde 1941 die Aktion T4 offiziell gestoppt.
5.3.1 Auswahl des
Pflegepersonals
Fest steht, daß Pflegepersonal an allen Umsetzungsphasen der
systematischen Vernichtung beteiligt war. Die Zahl der Beteiligten ist nicht
bekannt. Der Informationsstand der Beteiligten richtete sich nach der Position
in der hierarchischen Struktur und nahm mit niedrigerer Position
ab.
Die Zusammenstellung des Personals erfolgte nach verschiedenen Auswahlkriterien:
Die Mitarbeit an den Tötungsaktionen war grundsätzlich freiwillig, jedoch war die Verweigerungsmöglichkeit für das Krankenpflegepersonal bedeutend schwieriger als für Ärzte. Das ausgewählte Pflegepersonal stammte meist aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, hatte eine Volksschulbildung, oft eine handwerkliche Lehre absolviert oder eine hauswirtschaftliche Betätigung ausgeübt. Viele gehörten der nationalsozialistischen Partei an.
In zwei Fällen wurden Angestellte in ein Konzentrationslager eingeliefert, weil sie ihre Schweigepflicht gebrochen hatten. (vgl.Schmuhl,S.193)
5.3.2 Soziales Umfeld des Pflegepersonals am
Beispiel Grafeneck
Schloß Grafeneck war die erste in Betrieb genommene Tötungsanstalt. Die
Pflegekräfte wurden in dieser Anstalt kaserniert. Ihr soziales Leben spielte
sich vorwiegend hinter den Anstaltsmauern ab. Eine Schwester berichtete, daß das
gesamte Personal strengste Anweisungen hatte, umliegende Dörfer nicht zu
betreten. Nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Direktors, unter Angabe des
Zieles, durfte die Anstalt verlassen werden. Bedingt durch diese
Abgeschlossenheit war die Kantine, die gleichzeitig auch als Aufenthaltsraum
diente, immer gut besucht. Sie wurde auch für Fortbildungsveranstaltungen
genutzt, in denen es meistens um die Rechtfertigung der Euthanasie
ging.
Unter dem Druck des absoluten Schweigegebotes fürchtete sich das Personal um sein Leben, wenn es sich irgendwie widersetzt hätte.
In einem Fall wurde eine Schwester,
die Zweifel an dem Euthanasieprogramm äußerte, von ihrem Chef, dem damaligen
Direktor, erschossen. (vgl.Morlok,S.245)
5.4 Die wilde Euthanasie
Trotz des offiziellen Stopps der "Aktion T4"
nahm der Massenmord hinter Anstaltsmauern kein Ende. Wenige Wochen nach dem
Stopp fand eine Tagung statt, in der den versammelten Tötungsärzten erklärt
wurde, daß die Euthanasieaktion nicht beendet sei, sondern weitergeführt werde.
Die zu tötenden Patienten wurden dezentral in den Heil- und Pflegeanstalten von
Ärzten, Schwestern und Pflegern bestimmt. Ausschlaggebend war dabei der Aspekt
der Arbeitsfähigkeit. Jedoch wurden auch Anstaltsinsassen hingerichtet, die dem
Personal lästig waren. Die Tötungen erfolgten durch eine Überdosierung von
Barbituraten, die entweder unter das Essen gemischt oder in Flüssigkeit
aufgelöst wurden. Teilweise kamen auch Injektionen von Luft oder
Morphium-Scopolamin zur Anwendung. Die Verabreichung der Medikamente erfolgte
durch zuverlässige Ärzte oder Krankenpflegepersonal. Parallel dazu wurden
bestimmte Patienten durch Verordnung von "Hungerkost" ermordet.
Für die Täter war diese neue Mordtechnik von Vorteil, da die Todeskandidaten eines scheinbar natürlichen Todes verstarben, z.B. an Lungenentzündung.(vgl.,Klee,1985,S.283)
Eine der Tötungsanstalten der
"wilden Euthanasie" war Meseritz-Obrawalde. Dort wurden die zu tötenden
Patienten während der Visite festgelegt. Die Tötungen selbst führte das
Pflegepersonal durch. Die Patienten wurden dazu in ein dafür eingerichtetes
Zimmer, das
sogenannte
Isolierzimmer, verlegt. Das Pflegepersonal bereitete die entsprechenden
Medikamente vor, verabreichte diese und beobachtete die Patienten bis zum
Eintritt des Todes. Selbst der Abtransport der Getöteten wurde von
Krankenpflegern vorgenommen.
Folgendes Zitat besagt, daß das Pflegepersonal auch bei der Auswahl der Patienten mitbestimmen konnte.
"Das Personal hat...aus eigenen Stücken die Tötungsaufträge gleich ausgeführt oder damit gezögert. Es war wohl so, daß diese Patienten, solange sie vom Personal gebraucht waren oder ?lieb Kind? waren, bei der Arbeit geholfen haben oder sonst von Nutzen waren und sich der Geneigtheit beim Personal erfreuten, am Leben gelassen wurden...Wenn diese Personen aus irgendeinem Grunde lästig wurden und ihre Beliebtheit beim Personal verloren, dann wurde die Tötung durchgeführt und zwar sofort". (Klee in Steppe,1996,S.160)
Die Aufgaben der Krankenpflege waren in dem Bereich der "wilden Euthanasie" durch ein hohes Maß an Selbständigkeit geprägt. Weshalb sich die Krankenpflege so bedingungslos in diese Vernichtungsmaschinerie einbinden ließ, geht aus einigen Prozeßakten hervor. Dort heißt es zum Beispiel :
" Ich habe Tötungen als Unrecht empfunden, so etwas durfte nicht geschehen. Die geschilderte Tätigkeit habe deshalb ausgeführt, weil ich es als meine Pflicht angesehen habe, ich denke, weil es mir meine Vorgesetzten so gesagt haben." (Aussage Erna E. in Steppe,1996,S.164)
oder : " Auf den Gedanken, mich den getroffenen Anordnungen zu widersetzen bin ich gar nicht gekommen, da ich davon überzeugt war, zur damaligen Zeit auf meinem Posten genauso seine Pflicht tun zu müssen, wie man sie von den Soldaten an der Front verlangte.(...) Ich war und bin der Überzeugung, daß die unbedingte Befolgung ärztlicher Anordnungen zu den wichtigsten Pflichten einer Krankenpflegerin gehört." (Aussage M.T. ebd.,1996,S.165)
Im Jahre 1965 fand der Prozeß gegen Pflegepersonal, das in der Anstalt Meseritz-Obrawalde an den Tötungen beteiligt war, in München statt. Die 14 angeklagten Krankenschwestern wurden freigesprochen. Die Begründung des Gerichts richtete sich u.a. dahingehend:
(...) daß den Angeklagten kein Vorwurf daraus zu machen ist, daß sie sich auf die Auskünfte der Ärzte über ein die Tötungen bestimmendes Gesetz einfach verlassen haben, ohne eigene Nachforschungen anzustellen(...).(Obrawaldeprozeß in Steppe,1996,S 168)
5.5
Widerstand
Es gab
auch Pflegepersonal im Nationalsozialismus, das Widerstand geleistet hat.
Allerdings ist nicht viel bekannt darüber. Nachdem was bekannt ist, haben
Krankenschwestern und Krankenpfleger nicht speziell als Berufsgruppe Widerstand
geleistet, sondern auf Grund ihrer persönlichen Überzeugung.
So wurden z.B. Patienten versteckt, um sie vor dem Abtransport in die Vergasungsanstalten zu retten. Oder jüdische Patienten wurden gegen ausdrückliches Verbot in Krankenhäusern verpflegt und bei Fliegerangriffen in den Luftschutzkeller gebracht. Von einer Krankenschwester ist bekannt, daß sie ihre Abneigung gegen die Nationalsozialisten offen geäußert und während des Krieges jüdischen Verfolgten Unterkunft gewährt hat. Sie wurde denunziert, verhaftet und letztendlich im Alter von 28 Jahren hingerichtet. (vgl.Steppe,1990,S.368)
6
Zusammenfassung
Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Euthanasie keine Erfindung
der Nationalsozialisten war. Der Nationalsozialismus tarnte mit dem Begriff die
Ermordung von über hunderttausend Menschen. Schon lange vor der Machtübernahme
existierten Ideen über die "Vernichtung lebensunwerten Lebens". Diese Ideen
dienten den Machtinhabern des Nationalsozialismus, um ihre rassenpolitischen
Vorstellungen aufzubauen und ihr Ziel in Form von großangelegten und bestens
organisierten Euthanasieaktionen zu erreichen. Die Krankenpflege wurde in diese
Vernichtungskampagne einbezogen und nach den Vorstellungen des Regimes
umstrukturiert. Sie erfuhr eine enorme Aufwertung. Mit dieser Aufwertung war
natürlich auch ein erweitertes Aufgabengebiet verbunden. Die Krankenpflege
konnte u.a. in selbständiger Funktion bei der Gesunderhaltung des deutschen
Volkes tätig werden (siehe Kap.4.2).
Bemerkenswert ist auch die Umkehr des alten Wertesystems in der Krankenpflege, die sich im Nationalsozialismus vollzogen hat. Denn das Wohl galt nicht mehr dem Einzelnen, sondern dem ganzen Volk.
Trotz aller Aufwertung und Erweiterung der Aufgaben blieb in der Krankenpflege die Gehorsamspflicht gegenüber den Ärzten und der Obrigkeit Bestandteil der Berufsauffassung.
Fest steht, daß das Pflegepersonal an allen Umsetzungsphasen der Vernichtungsaktionen maßgeblich beteiligt war. Selbst bei zweifelhaften Handlungen, wie die Tötung von Patienten in den Anstalten der "wilden Euthanasie", glaubte man durch Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, nur seine Pflicht getan zu haben. Die Verantwortung eigener Handlungen wurde somit an andere weitergegeben. Auf dieser Basis stützte sich auch die Verteidigung der 14 angeklagten Krankenschwestern im Obrawaldeprozeß, die alle freigesprochen wurden.
7
Schlußgedanken
Wenn es um die Bewältigung von Thematiken des Dritten Reiches geht,
stellt man sehr häufig fest, daß Betroffenheit ausgelöst wird, mit dem Hinweis,
man solle die Vergangenheit endlich ruhen lassen. Ich denke, daß es allein mit
Betroffenheit nicht getan sein kann.
Und vor allen Dingen denke ich, daß man die Vergangenheit auf keinen Fall ruhen lassen sollte. Denn sie allein gibt uns die Möglichkeit, Vergangenes zu reflektieren, mit dem Ziel, für die Zukunft etwas zu verändern.
Speziell in der Krankenpflege denke ich, daß alte Vorstellungen von Aufopferung, Gehorsam und Pflichterfüllung endlich durchbrochen werden müssen.
Unser Berufsstand muß zu einem eigenen Selbstbewußtsein und Selbstverständnis gelangen. Ob die Akademisierung der Krankenpflege dazu beitragen wird, bleibt abzuwarten.
Die heutigen Diskussionen zum Thema Euthanasie zeigen meines Erachtens deutliche Paralellen zu den Debatten um die Jahrhundertwende und in den 20er Jahren. Wozu diese Diskussionen geführt haben, zeigte sich sehr deutlich in der Zeit der Nationalsozialisten. Deshalb bin ich der Meinung, daß der geschichtliche Kontext um die Euthanasiefrage nicht außer acht gelassen werden darf.
Denn wer entscheidet dann in der heutigen Zeit über den Lebenswert oder ? unwert des einzelnen Patienten, der sich nicht mehr äußern kann?
Klee, Ernst ( Hrsg. ) : Dokumente zur Euthanasie, Frankfurt/M. 1985
Meyer, Bibliographisches Institut : Meyers grosses Handlexikon, Mannheim 1975, 12. Auflage
Möller, Ute, Hesselbarth, Ulrike : Die geschichtliche Entwicklung der Krankenpflege
Brigitte Kunz Verlag, Hagen, 1994, 1. Auflage
Morlok, Karl : "Geheime Reichssache" Grafeneck. In : Deutsche Krankenpflegezeitschrift 4/1985,
Schmuhl, Hans-Walter : Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1987
Steppe, Hilde ( Hrsg. ) : Krankenpflege im Nationalsozialismus
Dr. med. Mabuse-Verlag, Frankfurt 1996, 8.Auflage
Steppe, Hilde : Krankenpflege ab 1933. In : Die Schwester/Der Pfleger,
29.Jahrgang 5/90. 363 - 366
Pschyrembel, Willibald :
Sonderausgabe Klinisches Wörterbuch, 257. Auflage,
Hamburg 1994