Von der Eugenik zur Euthanasie.                                                                   Eine Spurensuche in Leipzig

 

 

 

 

 

Diplomarbeit

am Fachbereich Sozialwesen

der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

eingereicht von

Christoph Buhl

geb. am 29. November 1968 in Leipzig

 

 

 

Gutachter

Prof. Dr. phil. Rudolf Schweikart

Prof. Dr. jur. Birgit Hoffmann

Inhaltsverzeichnis

Anstelle eines Vorwortes. 3

Referat 4

Abkürzungsverzeichnis. 5

1. Einleitung.. 6

2. Methode und Quellen.. 7

3. Chronologie der Euthanasie. 8

3.1 Kurze Ideengeschichte der Euthanasie. 8

3.2 Die Gleichschaltung des Gesundheitswesens - Beginn der erbbiologischen Erfassung.. 10

3.3 Die Rassenhygienische Gesetzgebung – Sterilisierung „erbkranker“ Menschen.. 10

3.4 Beginn der Tötungen – Die Kindereuthanasie. 12

3.5 Die Aktion T4. 15

3.6 Tötungsverbrechen nach dem offiziellen Abbruch der Aktion T4. 17

4. Schauplätze und Akteure in Leipzig.. 20

4.1 Das Gesundheitsamt der Reichsmessestadt Leipzig und seine Mitarbeiter. 20

4.2 Dr. med. Walther Vetzberger – Rassenarzt in Leipzig.. 25

4.3 Das Erbgesundheitsgericht 29

4.4 Stadtkinderkrankenhaus Leipzig – Universitätskinderklinik Leipzig.. 30

4.5 Die Sicht eines Zeitzeugen – Prof. Erich Häßler. 37

4.6 Die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Leipzig-Dösen.. 45

4.7 Die sterblichen Überreste der Opfer – Urnenfunde auf Leipziger Friedhöfen.. 47

5. Schicksale der Leipziger Opfer. 51

5.1 Ida Elsa K. 51

5.2 Ella G. 53

5.3 Bewohner von Leipziger Heim- und Pflegeeinrichtungen.. 55

7. Zusammenfassung und Ausblick.. 58

8. Quellen- und Literaturverzeichnis. 59

8.1.1 Verzeichnis der verwendeten Archivalien.. 59

8.1.2 Unveröffentlichte Manuskripte. 59

8.2 Zeitzeugenberichte. 59

8.3 Digitale Medien.. 60

8.4 Periodische Publikationen.. 60

8.5 Literatur. 60

Selbständigkeitserklärung. 63

 

 

Anstelle eines Vorwortes

 

Städtische Arbeitsanstalt Leipzig, d. 1. 7. 39

 

 

Meine lieben Eltern und Geschwister!

 

Heute möchte ich mir mal mein Herz Luft machen nun ist Eure Silberhochzeit vorbei und ich war leider nicht dabei. Meine Lieben bitte seid mir nicht böse ich habe das Anstaltsleben satt und darum hatte ich meine Wunde wieder aufgekratzt. Deswegen war ich sieben Tage in der Kellerzelle. Am 4. 7. wird es nun das siebente Jahr das ich in der Anstalt bin ich habe es wirklich satt. Bitte helft mir doch das ich endlich mal von meiner Entmündigung frei werde. Ich werde meinem Gott danken wenn ich wieder mal frei bin. Nun ein anderes Thema wer war denn alles zu Eurer Silberhochzeit da? Auch gratuliere ich Tilo noch nachträglich zu seinem Geburtstag. Meine liebe gute Mama du hast mich wohl ganz vergessen. Ich würde mich freuen wenn du mich wieder mal an einem Mittwoch besuchst. Liebe Mama bring mir bitte eine Tube Zahnpasta mit. In einer Art bin ich froh das ich zwei Fortschritte gemacht habe. Das erste ist das ich hier bei Euch in Leipzig bin. Und das zweite ist nämlich ich bin nicht mehr bei den kranken Leuten sondern ich bin bei den jungen Mädchen und da gefällt es mir besser. Auch mache ich mir Gedanken über Euch denn Herr Oberinspektor fragte mich wann Papa zuletzt zu Hause war. Meine Lieben Herr Oberinspektor und Frau Oberin wissen doch dass ich von Mittweida aus in meiner Urlaubszeit immer gehandelt habe. Aber mir wird wahrscheinlich nicht geglaubt und ihr könnt es doch bestätigen das ich jetzt lange nicht gehandelt habe. Meine lieben Eltern und Geschwister ich möchte gern wieder mal mit Euch zusammen sein. Darum möchte ich Euch bitten schreibt doch bitte mal hierher wie lange ich noch Ausgangssperre habe? Und ob Ihr mich wieder mal holen könnt? Liebe Mama bitte besuche mich bald wieder!

Nun will ich schließen

Es grüßt

Eure Tochter Charlotte

 

Viele Grüße an Papa Erika Melanie Horst Margot Giesela Almut und Tilo!

 

 

 

Aufnahmebogen der Sächsischen Heil- und Pflegeanstalt Zschadraß:

 

R., Liesbeth Charlotte, geb. 19. 9. 1914 in Leipzig, zugeführt am 19. 12. 1940 aus der Arbeitsanstalt Leipzig.

 

Sterilisiert im November 1934 im Krhs. Mittweida.

 

Diagnose: Schwachsinn.

 

Am 10. 2. 1941 in eine andere Anstalt verlegt.[1]

Referat

Die folgende Diplomarbeit stellt Aspekte der Rassenhygiene von der Erfassung und „Verkartung“ bis hin zur Vernichtung der betroffenen Menschen in den Mittelpunkt. Dabei soll eine kommunale Perspektive im Vordergrund stehen. Auf der Grundlage einer umfangreichen Literaturrecherche, deren Ergebnisse mit Aussagen von Zeitzeugen sowie erhaltenem Archivmaterial untermauert oder neu dargelegt werden, wird im ersten Teil versucht, wesentliche Entwicklungen vom verstärkten Einsetzen der eugenischen Diskussion bis hin zur Durchführung der Euthanasie in Deutschland, also seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Jahre 1945 nachzuzeichnen. In einem zweiten Teil sollen konkrete Spuren der Eugenik und Euthanasie im Mittelpunkt stehen, die direkten Bezug zur Stadt Leipzig aufweisen. Schließlich soll ein dritter Teil versuchen, Biographien betroffener Leipziger Bürger nachzuzeichnen. Dabei sollen recherchierte Dokumente mit ihrem ganzen, Betroffenheit auslösenden Inhalt für sich sprechen. Anhand der Rolle des Gesundheitsamtes und anderer Institutionen, die staatliche Rassenpolitik auf städtischer Ebene umsetzten, sowie der dort tätigen Mitarbeiter soll aufgezeigt werden, wie der nationalsozialistische Staatsapparat bis in unterste Ebenen des öffentlichen und privaten Lebens funktionierte.

 

Die Arbeit soll ein städtisches Anliegen, der Leipziger Opfer nationalsozialistischer Euthanasieverbrechen zu gedenken, unterstützen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abkürzungsverzeichnis

Barch                                                 Bundesarchiv Berlin

Bd.                                                     Band

BDC                                                   Berlin Document Center

bspw.                                                Beispielsweise

Cap.                                                   Kapitel

geb.                                                   geboren

d. J.                                                    des Jahres

dpa                                                    Deutsche Presseagentur

d. Verf.                                              der Verfasser

Dr.                                                     Doktor

Ebd.                                                   Ebenda

ehem.                                                ehemalig

e. V.                                                   eingetragener Verein

Frankfurt a. M.                                Frankfurt am Main

GEKRAT                                          Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft

gez.                                                    gezeichnet

GzVeN                                              Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses

Hrsg.                                                 Herausgeber

Jg.                                                      Jahrgang

Kap.                                                  Kapitel

KdF                                                   Kanzlei des Führers

Krhs.                                                 Krankenhaus

KTI                                                    Kriminaltechnisches Institut

KZ                                                     Konzentrationslager

Med. Diss.                                        Medizinische Dissertation

No.                                                    Nummer

Nr.                                                     Nummer

NS                                                      Nationalsozialismus

NSDAP                                             Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

NSKK                                                Nationalsozialistisches Kraftfahrtkorps

o. Ä.                                                   oder Ähnliche(s)

NSV                                                   Nationalsozialistische Volkswohlfahrt

O. G.                                                  Ortsgruppe

OBM                                                 Oberbürgermeister

o. g.                                                   oben genannt

PD                                                     Privatdozent

Pg.                                                     Parteigenosse

RAG                                                  Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten

RMdI                                                 Reichsministerium des Innern

RSHA                                                Reichssicherheitshauptamt

SD                                                      Sicherheitsdienst

Sipo                                                   Sicherheitspolizei

sog.                                                    sogenannt

SS                                                       Schutzstaffel

StR                                                     Stadtrat

StadtAL                                            Stadtarchiv Leipzig

StAL                                                  Sächsisches Staatsarchiv Leipzig

T4                                                      Tiergartenstrasse 4, Berlin

ungez. Bl.                                         ungezeichnetes Blatt

zit.                                                     zitiert

1. Einleitung

Die Anregung zur Anfertigung der folgenden Diplomarbeit erhielt ich während meines einjährigen Berufspraktikums, das ich beim Psychiatriekoordinator der Stadt Leipzig absolvierte. Ich konnte das psychiatrische Versorgungssystem unserer Stadt kennen lernen und hatte auch Kontakt zu verschiedenen Trägern bzw. Selbsthilfegruppen innerhalb des bestehenden Netzwerkes. In dieser Zeit erfuhr ich, das Mitarbeiter des städtischen Friedhofsamtes auf dem Südfriedhof Urnen gefunden hatten, die sterbliche Überreste von Opfern der Euthanasie enthielten. Dabei handelte es sich vorwiegend um Leipziger Bürger, die Patienten in der ehemaligen Landesheil- und Pflegeanstalt Dösen waren. Im Zuge der von den Nationalsozialisten geplanten und durchgeführten „Ausmerze“[2] wurden Tausende Insassen psychiatrischer und sonstiger Anstalten erfasst, verlegt und schließlich vergast. Diese Vernichtungsaktion, wie vorausgegangene Maßnahmen der nationalsozialistischen Rassenhygiene, konnte an einer Stadt wie Leipzig nicht spurlos vorübergegangen sein.

 

Da ich bisher kaum etwas über die Vernichtungsaktionen gegen psychisch Kranke, Gebrechliche und Behinderte gehört hatte, las ich zunächst in einschlägigen Büchern zum Thema. Dabei stellte ich fest, dass auch für den Leipziger Raum Arbeiten existieren, die Bezüge zu Eugenik und Euthanasie aufweisen. Im Hinblick auf die Bewertung der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ist sowohl in der Literatur als auch in der gesellschaftspolitischen Debatte eine sogenannte Opferkonkurrenz festzustellen. Lobbystarke Opferverbände finden demnach deutlicher Gehör als namenlose. Ihre Manifestation findet diese Konkurrenz darin, dass die Euthanasie-Geschädigten und Zwangssterilisierten bis heute nicht den rassisch Verfolgten im Sinne des § 1 Bundesentschädigungsgesetz gleichgestellt sind.[3]

 

Von diesen Opfern und ihren Problemen wusste ich fast nichts. Mich interessierte daher eine eher kommunale Sicht der Dinge. Ich wollte wissen, welche Schicksale sich damals in Leipzig abspielten. Ich hoffte, möglicherweise sogar Zeitzeugen zu finden, die mir im Sinne von „oral history“ diese traurige Geschichte erzählen konnten. Weiterhin hörte ich von Plänen, die in der Psychiatriebetroffeneninitiative Durchblick e. V. reiften, das Andenken der Leipziger Euthanasieopfer in einer besonderen Form zu bewahren.

 

Die genannten Aspekte ließen in mir den Wunsch entstehen, die Beschäftigung mit diesem Thema zu vertiefen und so in einer Diplomarbeit für die Ebene der Stadt Leipzig Anhaltspunkte zu finden, die mehr oder weniger offensichtlich auf die Vorgänge um Eugenik und Euthanasie in Leipzig hinweisen.

 

 

 

 

2. Methode und Quellen

An erster Stelle ist hier eine entsprechende Literaturrecherche bzw. –auswertung zu erwähnen, die sowohl Arbeiten mit allgemeinem als auch insbesondere mit lokalem Bezug beinhaltete. Neben der Deutschen Bücherei ist insbesondere die Bibliothek des an der psychiatrischen Universitätsklinik angesiedelten „Archivs für Leipziger Psychiatriegeschichte“ zu nennen, wo ich speziell am Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften angefertigte Dissertationen der jüngeren Vergangenheit einsehen konnte.

 

Aus dem Literaturstudium war mir besonders der Name des Publizisten Ernst Klee präsent, der mehrere als Standardwerke zu bezeichnende Arbeiten zur Euthanasiegeschichte in Deutschland veröffentlicht hat. Durch die freundliche Vermittlung des Durchblick e. V. konnte ich zu ihm Kontakt aufnehmen und weitere Recherchehinweise absprechen. Auf diese Weise erfuhr ich von einem noch heute in Jena lebenden Professor, der in den dreißiger Jahren Oberarzt an der städtischen Kinderklinik war, als dort eine sogenannte „Kinderfachabteilung“ existierte. Mit weiterer Hilfe von Frau PD Dr. Susanne Zimmermann vom Institut für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik an der Universität Jena gelang eine telefonische Kontaktaufnahme zu Prof. Häßler, der sich bereiterklärte, mit mir zu sprechen. Ich besuchte den 101 Jahre alten Mann zu einem etwa zweistündigen Interview im November 2000. Auf Hinweis von Herrn Seyde, meinem Praxisanleiter, nahm ich Kontakt zum Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V. auf, einem in Detmold ansässigen Verein, der sich um Anerkennung und Entschädigung dieser Opfer des NS-Regimes müht. Dort erfuhr ich, dass es bundesweit mehrere selbständige Untergruppen gibt, u. a. eine in Chemnitz, in der sich betroffene Menschen aus dem sächsischen Raum engagieren. Zu dieser Gruppe konnte ich Kontakt aufnehmen und wurde zu einer Zusammenkunft im Februar d. J. nach Chemnitz eingeladen. Dort traf ich neben einer zwangssterilisierten Frau mehrere Frauen und Männer, die einen oder beide Elternteile durch die Euthanasie verloren hatten. Darunter befand sich auch eine Frau aus Leipzig, deren Mutter 1940 vergast worden war. Zu ihr konnte ich behutsamen Kontakt aufbauen, so dass sie mir schließlich die Lebensgeschichte ihrer Familie für meine Arbeit zur Verfügung stellte. Des weiteren nahm ich telefonisch Verbindung mit Prof. Wilhelm Johannes Oehme auf, der in den vierziger Jahren am Leipziger Kinderkrankenhaus tätig war.

 

Als dritte methodische Säule neben der Literaturarbeit und der Kontaktaufnahme zu Zeitzeugen stand eine umfangreiche Recherchetätigkeit in verschiedenen Archiven. Zuerst begann ich im Stadtarchiv Leipzig Akten des Gesundheitsamtes der Reichsmessestadt und der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Dösen durchzusehen. Dieser zeitaufwendigen Arbeit waren mehrere klärende Gespräche mit der leitenden Bestandsreferentin vorausgegangen, ohne deren Hilfe ich den immensen Aktenbestand nicht bewältigt hätte. Nachdem ich mir einen ersten Eindruck verschafft hatte, nahm ich Kontakt zum Bundesarchiv in Berlin auf. Interessant waren dort für mich Aktenbestände aus der Kanzlei des Führers, die mit der Umsetzung der Euthanasiepläne betraut war. Außerdem ließen sich weitere Spuren von Leipziger Beteiligten und Opfern finden.

 

 

 

3. Chronologie der Euthanasie

Zum besseren Verständnis der Vorgänge in Leipzig scheint es notwendig zu sein, zunächst in chronologischer Folge die wichtigsten Entwicklungswege der Eugenik bzw. der Durchführung der Euthanasie darzustellen.

3.1 Kurze Ideengeschichte der Euthanasie

Die Entwicklungen einer rassenpolitisch bestimmten Eugenik, die letztlich ihren schrecklichen Höhepunkt in den Euthanasieaktionen der Nationalsozialisten gefunden haben, lassen sich schwer ohne die bereits im 19. Jahrhundert einsetzende bioethische Diskussion in Deutschland verstehen. Der Gedanke der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ entwickelte sich im Rahmen eines rassenhygienischen Diskurses, der seit der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert in Deutschland eine zunehmende Zahl von Ärzten, Juristen und Theologen beschäftigte.

 

In ihren Grundzügen wurde die Rassenhygiene in den 1890er Jahren von Alfred Ploetz[4] und Wilhelm Schallmayer[5] entworfen.[6] Sie verstanden darunter die Lehre von der Gesunderhaltung der menschlichen Rasse und der Vervollkommnung ihrer angeborenen Eigenschaften. Ziel war, eine große Anzahl von Nachkommen zu erzeugen und andererseits den Anteil von „minderwertigen“ Nachkommen möglichst gering zu halten. Um dies zu erreichen wurden folgende Maßnahmen diskutiert: staatliche Reglementierung des Fortpflanzungsverhaltens durch Eheverbote, Zwangsasylierung von „Asozialen“ und „Psychopathen“, Zwangssterilisationen von „Erbkranken“ sowie schließlich die Tötung von unheilbar Kranken bzw. missgebildeten Kindern.

 

Die Rassenhygiene stützte sich dabei auf die seit etwa 1860 in Deutschland verbreitete Lehre des Sozialdarwinismus, die die Darwinsche Theorie von der Höherentwicklung der Arten durch natürliche Auslese auf gesellschaftliche Phänomene übertrug. Auch wenn Darwin selbst nie zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ aufrief, so bot er doch mit seinen Ausführungen Anhaltspunkte für eine entsprechende Argumentation.[7] Man sah im Selektionsprinzip die treibende Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung. Demgegenüber wurde die Erhaltung und Versorgung „schwächlicher“, „defekter“, „erbschwacher“ und „minderwertiger“ Individuen als Gefahr mit dem Resultat der Entartung und Degeneration der Menschheit dargestellt. Dies bedeutete einen Bruch mit dem bisherigen christlichen Humanitätsideal. In Deutschland wurde der Sozialdarwinismus insbesondere durch den Biologen Ernst Haeckel (1834 – 1919) propagiert. Er kritisierte zunächst die sogenannte „künstliche Auslese durch die modernen Militärstaaten, die ihre besten und stärksten Individuen allzu häufig auf dem Schlachtfeld opferten.“ Zum anderen kritisierte Haeckel die moderne Medizin, die Kranke und Schwache am Leben erhielte und ihnen so die Möglichkeit zur Fortpflanzung und zur Vererbung ihrer Krankheiten böte. Zunächst legte sich Haeckel noch nicht eindeutig für eine Tötung schwacher und behinderter Kinder fest, wurde aber in seinem 1904 erschienenen Buch „Die Lebenswunder“ umso deutlicher und sprach sich darin explizit für die „Kindereuthanasie“ aus.[8]

 

Stimuliert wurden die rassenhygienischen Theorien durch den enormen Aufschwung der Naturwissenschaften, insbesondere der Genetik. Es kam zu einer erheblichen Aufwertung der Erblehre innerhalb der Medizin. Ausgehend von der Forderung der „Auslese der Tüchtigsten“ entwickelte sich die Eugenik, als deren Begründer Francis Galton, ein Vetter Darwins, angesehen wird. Er definierte Eugenik als Wissenschaft, welche sich mit den Einflüssen beschäftigt, die die angeborenen Eigenschaften einer Rasse verbessern und diese zum größtmöglichen Vorteil der Gesamtheit zur Entfaltung bringen. Unter „positiver Eugenik“ verstand man die Förderung der Tüchtigen, die „negative Eugenik“ zielte auf die Verhinderung unerwünschten Nachwuchses. Die Vorstellung jedoch, durch eugenische Maßnahmen die Erbkrankheiten ausrotten zu können, war aus dem Blickwinkel des damaligen Kenntnisstandes völlig illusorisch. Für die meisten psychiatrischen Erkrankungen waren bzw. sind mögliche genetische Einflussfaktoren damals wie heute nur in Ansätzen bekannt.[9] Bis zum ersten Weltkrieg wurden „Sterilisierung“ und „Ausmerzung“ der „Erbkranken“ und „anderer Volksschädlinge“ vor allem in Kreisen von Extremen gefordert. Alles in allem kam die Rasseveredlungsbewegung über ein Sektiererdasein nicht hinaus. Die Schrecken des Ersten Weltkrieges und der damit einhergehende Werteverlust sollten derartige Überlegungen jedoch verstärken.

 

Der große Durchbruch der Auslese- und Vernichtungsideologie[10] ging 1920 von zwei der angesehensten Wissenschaftler ihrer Zeit aus: Karl Binding[11] und Alfred E. Hoche.[12] Auch die Nationalsozialisten sollten sich später auf ihre Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ berufen. Der Organisator nationalsozialistischer Euthanasieprogramme, Werner Heyde, war sogar Schüler von Hoche. Binding ging davon aus, dass jeder Mensch Souverän über sein Leben sei. Der Mensch hätte deshalb auch die Freiheit, sich selbst zu töten. Dies gelte insbesondere für todkranke Menschen, denn selbst Gott wollte nicht, „dass der Mensch erst nach unendlicher körperlicher oder seelischer Qual stürbe.“ Wenn aber die Selbsttötung legitim wäre, dann wäre es nicht einsehbar, denjenigen zu verurteilen, der bei der Selbsttötung helfe. Eine Rechtsordnung, die verlangte, dass der Todkranke an seinen Qualen zugrunde gehen müsse, wäre barbarisch. Binding machte Stimmung dafür, das Grundrecht auf Leben zu missachten und stellte die Frage: „Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüsst haben, dass ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat?“ Wie die Tötung auf Verlangen rechtfertigten beide Autoren nun auch die Tötung Geisteskranker und bewusstloser Schwerkranker. Binding und Hoche maßten sich an, zu entscheiden, welches Leben wertvoll sei und welches nicht. Das Leben unheilbar Geisteskranker erschien ihnen als „absolut zwecklos“. Es war die Rede von „Menschenhülsen“, „Ballastexistenzen“, „minderwertigen Elementen“ oder „Defektmenschen“. In Zeiten des Wohlstands könnte man es sich ja leisten, solche Existenzen am Leben zu erhalten, aber nun bräuchte es „die größtmögliche Leistungsfähigkeit aller.“ Es wäre „kein Platz für halbe, Viertels- und Achtelskräfte.“ Auch der Staat wäre ein Organismus, der „im Interesse der Wohlfahrt des Ganzen auch einzelne wertlos gewordene oder schädliche Teile oder Teilchen preisgäbe und abstöße.“ Dies war die Vorwegnahme der Töne, die unter Hitler zum grausigen Programm der systematischen Tötung sogenannten „unwerten Lebens“ führten.[13]

3.2 Die Gleichschaltung des Gesundheitswesens - Beginn der erbbiologischen Erfassung

Seit Ende 1933 wurde in der Gesundheitsabteilung des Reichsinnenministeriums darüber beraten, wie die erbbiologische Erfassung der Bevölkerung behördlich zu organisieren sei. Das erste Ergebnis war das Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens vom 3. Juli 1934, das am 1. April 1935 in Kraft trat. Zur einheitlichen Durchführung des öffentlichen Gesundheitsdienstes waren in den Stadt- und Landkreisen in Anlehnung an die untere Verwaltungsbehörde Gesundheitsämter einzurichten. Leiter des Gesundheitsamtes sollte ein staatlicher Amtsarzt sein. Den Gesundheitsämtern oblag ab sofort die Durchführung folgender ärztlicher Aufgaben: a) Gesundheitspolizei, b) Erb- und Rassenpflege einschließlich der Eheberatung, c) gesundheitliche Volksbelehrung, d) Schulgesundheitspflege, e) Mütter- und Kinderberatung, f) Fürsorge für Tuberkulöse, für Geschlechtskranke, körperlich Behinderte, Sieche und Süchtige sowie die amts-, gerichts- und vertrauensärztliche Tätigkeit. Die Gesundheitsämter wurden somit staatliche Einrichtungen. An Stelle staatlicher Gesundheitsämter konnten Einrichtungen der Stadt- und Landkreise als Gesundheitsämter im Sinne des § 1 anerkannt werden. Dieser Fall wurde für das Gesundheitsamt in Leipzig angewendet.[14] Im Mittelpunkt der neuen Gesundheitsämter standen die sogenannten „Beratungsstellen für Erb- und Rassenpflege“, die jedoch eher melden und verkarten als beraten sollten. Das Gesetz regelte bis ins Detail die Prozeduren, mit denen die „Verdächtigen“ denunziert, begutachtet und den Erbgesundheitsgerichten zur Sterilisationsentscheidung präsentiert werden sollten.

3.3 Die Rassenhygienische Gesetzgebung – Sterilisierung „erbkranker“ Menschen

Die Gleichschaltung der Gesundheitsämter wurde von einer Reihe Gesetze flankiert, auf die hier kurz eingegangen werden soll. An erster Stelle ist das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 zu nennen. Hitler setzte dieses Gesetz gegen den entschiedenen Widerstand seines Vizekanzlers Franz von Papen in einer Kabinettssitzung vom 14. Juli 1933 durch. Auf Einwände entgegnete er, dass alle Maßnahmen berechtigt seien, die der Erhaltung des Volkstums dienten.[15] Das GzVeN bestimmte, dass ein Erbkranker unfruchtbar gemacht werden konnte, wenn nach den Erfahrungen der Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten war, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden würden.

Als Erbkrankheiten im Sinne des Gesetzes galten:

 

  1. angeborener Schwachsinn,
  2. Schizophrenie,
  3. zirkuläres (manisch-depressives) Irresein,
  4. erbliche Fallsucht,
  5. erblicher Veitstanz (Chorea Huntington),
  6. erbliche Blindheit,
  7. erbliche Taubheit,
  8. schwere erbliche körperliche Missbildungen,
  9. schwerer Alkoholismus.[16]

 

Sterilisationsanträge konnten von den Betroffenen selbst oder deren gesetzlichen Vertretern, aber auch von beamteten Ärzten und Anstaltsleitern gestellt werden. Alle im Gesundheitswesen Tätigen waren verpflichtet, ihnen bekannte erbkranke Personen dem zuständigen Amtsarzt anzuzeigen. War eine Unfruchtbarmachung gerichtlich beschlossen, konnte sie auch gegen den Willen des Betroffenen, notfalls mit polizeilicher Zuführung durchgeführt werden. Ein Einspruch gegen die Entscheidung des beim Amtsgericht angesiedelten Erbgesundheitsgerichtes war prinzipiell möglich, hatte aber in nur wenigen Fällen Erfolg. Zur Einbeziehung „aller moralisch irren oder ethisch schwer defekten und dadurch sozial minderwertigen Psychopathen“[17] wurden die für diesen Zweck dehnbaren Diagnosen „schwerer Alkoholismus“ und „angeborener Schwachsinn“ genutzt.

 

Schätzungsweise 400.000 Menschen wurden während der Zeit des Nationalsozialismus aufgrund des GzVeN unfruchtbar gemacht. Etwa 6.000 Personen verstarben an den Folgen des Eingriffs.[18]

 

Es folgte das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ vom 15. September 1935. Dadurch wurden Eheschließungen und außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes verboten. Ferner folgte das „Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes“ vom 18. Oktober 1935, wonach eine Ehe nicht geschlossen werden durfte, wenn einer der Verlobten an einer mit Ansteckungsgefahr verbundenen Krankheit litt, die eine erhebliche Schädigung der Gesundheit des anderen Teiles oder der Nachkommen befürchten ließ, wenn einer der Verlobten entmündigt war oder unter vorläufiger Vormundschaft stand, wenn einer der Verlobten, ohne entmündigt zu sein, an einer geistigen Störung litt, die die Ehe „für die Volksgemeinschaft unerwünscht“ erscheinen ließ, und wenn einer der Verlobten an einer Erbkrankheit im Sinne des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses litt. Vor der Eheschließung hatten die Verlobten durch ein Zeugnis des Gesundheitsamtes nachzuweisen, dass ein Ehehindernis im Sinne des Gesetzes nicht vorlag.

 

Alle diese Gesetze wurden durch Nachträge, Verordnungen und Kommentare in ihrer sorgfältigen Durchführung erleichtert und ermöglicht. Die weiteren rassenhygienischen Maßnahmen waren Ehestandsdarlehen und Kinderbeihilfen in den Familien besonders der Kinderreichen, die zu einer bedeutenden Erhöhung der bis dahin in starkem Rückgang befindlichen deutschen Geburtenziffer führten.[19]

3.4 Beginn der Tötungen – Die Kindereuthanasie

Zunächst schien es, als wolle man in Bezug auf „minderwertiges geborenes Leben“ am Tötungsverbot festhalten. Einflussreiche Nationalsozialisten dachten dennoch bereits über Formen der Zwangseuthanasie nach. 1935/36 wollte Reichsärzteführer Dr. Gerhard Wagner von Hitler die Freigabe erreichen. Doch Hitler lehnte dieses Ansinnen ab, wobei er andeutete, dass er im Falle eines Krieges die Euthanasiefrage aufgreifen und durchführen werde.[20]

 

Spätestens seit 1938 war es im Umfeld Hitlers klar, dass er mit seiner Politik offen auf einen Krieg zusteuerte. Damit war die entscheidende Bedingung zur Aufnahme eines Euthanasieprogramms erfüllt. Offenbar war es ein bestimmter Fall, der den Anstoß zur konkreten Planung der Kindereuthanasie gab. In der Literatur wird vom Fall „Kind Knauer“ bzw. „Kind Kressler“ gesprochen.[21] Die aussagefähigsten Angaben zu diesem Fall finden sich in einem in Deutschland unbeachteten Werk eines französischen Journalisten. Es handelt sich um ein vierbändiges Werk mit dem Titel „Les médecins de la mort“ von Philippe Aziz[22]. Dort ist die Rede von einer Familie „Kressler“ aus Pomßen bei Leipzig, welcher im Sommer 1939 ein schwerbehindertes Kind geboren wurde. Ihm fehlte der linke Unterarm, das Bein war missgebildet. Die Familie stellte das Kind dem Leiter der Leipziger Kinderklinik, Prof. Werner Catel, vor. Er teilte Frau „Kressler“ mit, dass das Kind nie „normal“ sein werde. Der Vater schrieb dann offenbar einen Brief an Hitler mit der Bitte um Gnadentod für sein Kind. Daraufhin erschien Hitlers Leibarzt Dr. Karl Brandt in Pomßen, der den Eltern mitteilte, dass der Führer dem Gnadentod ihres Kindes zustimme. Er veranlasste dann alles weitere. Brandt suchte Catel in Leipzig auf, in dessen Klinik das Kind einige Tage darauf „eingeschläfert“ wurde. Weitere Nachforschungen von Prof. Benzenhöfer aus Hannover führten zu dem Ergebnis, dass es sich bei den in der Literatur verbreiteten Namen um Pseudonyme handelt. Rückfragen bei der Gemeinde Pomßen, dem Landratsamt in Grimma bzw. bei Philippe Aziz ergaben, dass es eine Familie K. mit dem beschriebenen Kind gab. Der vollständige Name wird aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht genannt.[23]

 

Im Zuge dieses Falles gab Hitler die Euthanasie frei. Er beauftragte Mitarbeiter aus der Kanzlei des Führers[24], ein Mordprogramm für körperlich oder geistig behinderte Kinder zu entwickeln. Als „Beauftragte für die Kindereuthanasie“ wurden Hitlers Leibarzt Dr. Karl Brandt sowie Reichsleiter Phillipp Bouler ernannt. Die KdF wurde mit der Leitung des Unternehmens beauftragt und erhielt den Befehl, den Kreis der Eingeweihten zu begrenzen und die Aktion geheim zu halten. Zwei wesentliche Gründe waren es, die Hitler zu diesem Vorgehen bewogen. Sofern er die Regierung mit dieser Aufgabe betraut hätte, wären offizielle, schriftliche Befehle nötig gewesen, und hierzu war Hitler nicht bereit. Außerdem wollte er die Partei nicht der Gefahr der öffentlichen Missbilligung aussetzen, ehe er sich ausreichender Unterstützung in der Bevölkerung sicher sein konnte.

 

Von Anfang an waren Planung und Durchführung der Euthanasie als geheime Reichssache eingestuft. Die Planer schufen eine fiktive Organisation, um die Rolle der KdF als Leiterin der Kindereuthanasie zu verschleiern, und gaben ihr die Bezeichnung „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“. Diese Behörde, kurz „Reichsausschuß“ genannt, existierte nur auf dem Papier und fungierte lediglich als Tarnorganisation. Sämtliche Mitarbeiter benutzten Decknamen. Im Frühjahr 1939 arbeitete eine kleine Gruppe von Ärzten und „Tötungsmanagern“ das Euthanasiesystem aus. Das Selektionsverfahren sollte auf der Erfassung in Meldebögen beruhen; Gutachter würden die dadurch gewonnenen Daten beurteilen und daraufhin entscheiden, ob das betreffende Kind zu töten sei. Im Sommer 1939 war die Planung abgeschlossen. Die ersten Morde fanden etwa im Oktober statt.

 

Allerdings konnten weder die KdF noch der „Reichausschuß“ das Mordprogramm in Gang setzen und ausführen. Hierfür benötigten die Planer das Reichsministerium des Inneren, denn nur ein Ministerium war in der Lage, Gehorsam zu erzwingen. Folglich verordnete das RMdI am 18. August 1939 mittels Runderlass eine „Meldepflicht für missgestaltete usw. Neugeborene“. Der Erlass war als „streng vertraulich“ gekennzeichnet und wurde nicht im offiziellen Ministerialblatt veröffentlicht. Die Einleitung erweckte den Eindruck, das Ziel des Ministeriums sei eine wissenschaftliche Untersuchung, um Kindern zu helfen, die sich in einem ernsten gesundheitlichen Zustand befanden. Die wahren Gründe wurden zu keinem Zeitpunkt offenbart. Hebammen und Ärzte wurden aufgefordert, sämtliche Neugeborenen sowie Kinder unter drei Jahren zu melden, bei denen die folgenden Befunde festgestellt werden konnten:

 

  1. Idiotie sowie Mongolismus (besonders Fälle, die mit Blindheit und Taubheit verbunden sind),
  2. Mikrozephalie (abnorme Kleinheit des Kopfes, besonders des Hirnschädels),
  3. Hydrozephalus (Wasserkopf) schweren bzw. fortschreitenden Grades,
  4. Mißbildungen jeder Art, besonders Fehlen von ganzen Gliedmaßen, schwere Spaltbildungen des Kopfes und der Wirbelsäule usw.,
  5. Lähmungen einschließlich Littlescher Erkrankung.[25]

 

Dem Runderlaß war ein Meldebogen beigelegt. Außer Namen, Alter und Geschlecht des Kindes wurden darin u. a. Informationen über das Krankheitsbild, Einzelheiten über den Klinikaufenthalt sowie der Name des Krankenhauses, die voraussichtliche Lebensdauer und die Aussichten auf Besserung verlangt. Das Formular war nur eine Seite lang; auf ausführliche Beschreibungen wurde kein Wert gelegt. Hebammen und Ärzte wurde angewiesen, ihre Meldungen beim zuständigen Amtsarzt abzugeben, der die Informationen zu überprüfen und dann die Meldung an den Reichsausschuß weiterzuleiten hatte.

 

Um diese Kinder - die „Reichsausschusskinder“, wie sie genannt wurden, zu töten, richtete der „Reichsausschuß“ sogenannte „Kinderfachabteilungen“ in Heilanstalten und Kliniken ein. Am 1. Juli 1940 gab das RMdI mittels Runderlaß die (in Wirklichkeit schon früher erfolgte) Schaffung der ersten Kinderfachabteilung des Reichsausschusses in der Landesheilanstalt Görden bei Berlin bekannt. Wiederum ohne den wahren Zweck preiszugeben, informierte der Erlass die Gesundheitsämter, dass der „Reichausschuß“ eine jugendpsychiatrische Fachabteilung eingerichtet hätte, die unter fachärztlicher Leitung sämtliche therapeutischen Möglichkeiten, die auf Grund letzter wissenschaftlicher Erkenntnisse vorliegen würden, wahrnähme.

 

Letztlich hatte der Reichsausschuß fünfundzwanzig Einrichtungen, wahrscheinlich aber noch mindestens weitere fünf Mordstationen für Kinder eingerichtet[26], an denen im übrigen auch alle möglichen Arten von Forschungen betrieben wurden. Die Tötungsmethoden wurden den Ärzten überlassen. Eine mögliche Todesart war Verhungern. Die bevorzugte Methode waren jedoch Tötungen durch Medikamente. Die meisten Ärzte wählten das Barbiturat Luminal, die zweite Wahl war Morphium-Skopolamin, das in der Regel dann eingesetzt wurden, wenn gegen Luminal eine Resistenz bestand. Der „Vorteil“, den diese Methode für eine heimliche Mordaktion hatte, lag auf der Hand. In allen medizinischen Einrichtungen wurden diese Substanzen regelmäßig verabreicht, tödlich waren sie nur in höherer Dosierung. Außerdem führten diese Überdosen nicht unmittelbar zum Tod, sondern zu medizinischen Komplikationen, die schließlich innerhalb von zwei bis drei Tagen den Tod herbeiführten. Dann konnten die Ärzte einen natürlichen Tod feststellen.

 

War ein Kind bereits in einem Heim untergebracht, stellte die Verlegung kaum ein Problem dar. Die meisten Neugeborenen und kleinen Kinder, die dem „Reichsausschuß“ gemeldet wurden, hielten sich jedoch zu Hause oder in nahe gelegenen Krankenhäusern auf. In diesen Fällen mussten die Eltern überredet werden, einer Verlegung zuzustimmen. Das war normalerweise kein Problem, sofern die Behörden die Eltern überzeugten, dass ihre Kinder dort geheilt werden könnten. Immerhin verhieß der Runderlaß des RMdI den Amtsärzten ja fortschrittliche wissenschaftliche Therapien, und diese Lüge überzeugte die Eltern in der Regel. Doch manche Eltern weigerten sich. Sie wollte sich entweder nicht von ihren Kindern trennen, argwöhnten eine Fehldiagnose, weil der Hausarzt eine günstigere Prognose gestellt hatte oder fürchteten das Schlimmste, nachdem erste Gerüchte über Euthanasiemorde kursierten. Diese Eltern wurden vom „Reichsausschuß“ massiv unter Druck gesetzt. U. a. hatte die Drohung, den Eltern das Sorgerecht abzusprechen, in der Regel den gewünschten Effekt. Noch größerer Druck ließ sich bei den Müttern aufbauen, wenn die Väter an der Front standen und die Mutter vom zuständigen Arbeitsamt einfach zum Arbeitsdienst verpflichtet wurde. An dem Punkt hatte die Mutter kaum eine andere Wahl, als ihr Kind herzugeben. Ähnlich wirkte die Streichung der Unterstützung für Kinder, die nicht als „brauchbare Volksgenossen“ ausgewiesen waren. Vergleichbare „Strategien“ wurden gegen Eltern angewandt, die versuchten, ihre Kinder aus den Mordstationen zurückzuholen. Theoretisch bestand diese Möglichkeit, so, wie ja auch die Einlieferung angeblich freiwillig erfolgte. In der Praxis aber war es kaum möglich.

 

Den tatsächlichen Befehl ein Kind zu töten, erteilte der „Reichsausschuß“. Dieser Befehl, ein offiziell wirkendes Dokument auf dem Briefpapier des fingierten Reichsausschusses, aber unterzeichnet von einem KdF-Funktionär, gab sich euphemistisch als Ermächtigung zur Behandlung. Der Begriff Ermächtigung wurde deshalb verwendet, weil der Mythos eines von Hitler angeordneten Gnadentods auf der Täuschung beruhte, der Staat erleichtere und genehmige mit seinem Euthanasieprogramm lediglich eine Maßnahme, die ein Arzt aus humanitären Gründen befürworte, welche nach dem veralteten Strafrecht jedoch verboten sei. Und der Begriff Behandlung diente zur Verschleierung der Tatsachen, denn selbst in einem geheimen Dokument galt ein Wort wie Töten als kompromittierend.

 

Waren zuerst nur Kleinkinder und Neugeborene betroffen, keines über drei Jahre alt, wurden im weiteren Kriegsverlauf auch ältere Kinder und Jugendliche getötet.[27] Keineswegs sämtliche ermordeten Kinder litten unter unheilbaren Krankheiten oder Missbildungen. Viele wurden nur deswegen eingeliefert, weil sie etwa langsamer lernten und verhaltensauffällig waren. Viele Unterlagen über die Morde sind verloren gegangen, und deshalb lässt sich die Zahl der Kinder, die während des Zweiten Weltkriegs in den Kinderfachabteilungen getötet wurden, unmöglich genau berechnen. Schätzungen schwanken zwischen fünf- und sechstausend ermordeten Kindern.[28]

3.5 Die Aktion T4

In den Jahren 1940 bis 1945 arbeitete in der Berliner Tiergartenstrasse 4 ein unscheinbares Amt, die Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten. Diese Berliner Adresse gab der Tötungsaktion ihren Namen: Aktion T4. Das grundlegende Ermächtigungsschreiben Hitlers, das weder ausdrücklicher Befehl noch Gesetz war, wurde wahrscheinlich Anfang Oktober verfasst, aber auf den 1. September 1939 zurückdatiert:

 

„Adolf Hitler                                                                                         Berlin, den 1. September 1939

 

Reichsleiter Bouhler und

Dr. med. Brandt

 

sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.

[gez.] Adolf Hitler“[29]

 

Im Sommer 1939 war die Durchführung der Vernichtung geplant worden. Zunächst erörterten Hitler, der Chef der Reichskanzlei Lammers und der Reichsgesundheitsführer Dr. Conti die ersten Schritte. Den Auftrag, die Tötung psychisch kranker Erwachsener vorzubereiten, erhielten Dr. Conti, Reichsleiter Bouhler und Dr. Brandt, die ihrerseits Besprechungen mit Professoren und Ärzten der Psychiatrie organisierten. Hitler selbst wünschte eine völlig unbürokratische Lösung, strengste Geheimhaltung und möglichste Umgehung aller staatlichen Stellen. Die Verhandlungen fanden in der extra dafür eingerichteten Dienststelle Tiergartenstraße 4 statt. Später wurde von hier aus die Vernichtung organisiert und geleitet. Der erwartete Protest gegen die Aktion gebot Geheimhaltung und Tarnung. Es wurden Organisationen mit entsprechenden Tarnnamen gegründet. Die „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltswesen“ war die Personal- und Verwaltungsabteilung der Tötungsanstalten. Sie organisierte die Gifte und Arzneimittel (getarnt als Desinfektionsmittel), trat als Kontaktstelle zu anderen Behörden auf und war sogar für die Verwertung von Schmuck und Zahngold der Ermordeten zuständig. Die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ (RAG) verschickte und begutachtete vor allem die Meldebögen und die „Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft“ (GEKRAT) war für die Logistik, die umfangreichen Verlegungen und Transporte in die Tötungsanstalten verantwortlich.

 

Nach Abschluss des Planungsstadiums erging am 21. September 1939 ein Erlass an alle außerpreußischen Landesbehörden, bis zum 15. Oktober ein Verzeichnis aller staatlichen, privaten und kirchlichen Heil- und Pflegeanstalten zu erstellen, die sich auf dem Boden des Reichsgebietes befanden.[30] Die planwirtschaftliche Erfassung der Patienten aller Heil- und Pflegeanstalten begann im Oktober 1939. Das RMdI verschickte an die einzelnen Anstalten Fragebögen, in denen die Art der Krankheit, die Dauer des Anstaltsaufenthaltes und die Arbeitsfähigkeit der Insassen abgefragt wurden. Die ausgefüllten Bogen wurden an das RMdI zurückgeschickt und von dort aus unbearbeitet an die Euthanasie-Zentrale weitergeleitet. Anhand der so ausgefüllten Fragebögen entschieden drei der etwa dreißig Begutachtungsärzte der Aktion T4 anschließend über Leben und Tod. Viele Anstaltsärzte und Direktoren ließen sich vom behördlichen Charakter dieser Aktion täuschen. Sie schilderten den Zustand der besten und arbeitsamsten Patienten schlechter, als er eigentlich war, um sie für die Anstalt zu erhalten, verloren sie aber gerade dadurch. Erst als die ersten Patienten aus den Heil- und Pflegeanstalten abgeholt wurden, mussten sie irgendwann den eigentlichen Zweck der Meldebogen erkennen.[31]

 

Die Transporte aus den Ursprungsanstalten führten bereits nach den ersten Erfahrungen nicht mehr direkt in eine der Tötungsanstalten, sondern über sogenannte Zwischenanstalten. Diese Verfahrensweise ermöglichte es, Irrtümer zu korrigieren, vor allem aber, die Spuren der Kranken zu verwischen. Mit GEKRAT-Bussen wurden die Patienten aus ihren Anstalten zunächst zur Tarnung in diese Durchgangs- und Beobachtungsanstalten verlegt und danach in eine der sechs Tötungsanstalten gebracht. Für Angehörige sollte es ausgeschlossen sein, die wahren Umstände der Verlegungen zu erfahren. Sie bekamen einen sogenannten „Trostbrief“ aus einer der eigens dafür eingerichteten „Trostbriefabteilungen“, dass der Angehörige unerwartet an einer unheilbaren Krankheit verstorben wäre. In Wahrheit wurden die Opfer in einer der sechs Tötungsanstalten (Grafeneck, Brandenburg, Bernburg, Hadamar, Hartheim bei Linz, Pirna-Sonnenstein) mit Gas ermordet. In den Tötungszentren wurden die Patienten unmittelbar nach ihrem Eintreffen umgebracht. Dazu wurden sie vorher entkleidet, fotografiert und einem Arzt vorgeführt, der die Personalien überprüfen und eine Untersuchung durchführen sollte. Anschließend führte man sie in die Gaskammer, die äußerlich einem Duschraum ähnelte. Die Leichen wurden nach der Vergasung verbrannt, die Asche auf Urnen verteilt und auf Wunsch den Angehörigen zugestellt. Ende August wurden die Massentötungen gestoppt. Das zuvor gesteckte Ziel, 70.000 Kranke umzubringen, wurde um 273 „überschritten“:

 

                                                 Tabelle 1:

Ort:

Tote:

Grafeneck

9.839

Brandenburg

9.772

Bernburg

8.601

Hadamar

10.072

Hartheim

18.269

Pirna-Sonnenstein

13.720

Insgesamt:

70.273

                                                 Opferbilanz der Aktion T4[32]

3.6 Tötungsverbrechen nach dem offiziellen Abbruch der Aktion T4

Im Zeitraum vom April 1941 bis zum Dezember 1944, also weit über den Abbruch der Aktion T4 hinaus, wurden in den Gaskammern der Tötungsanstalten Sonnenstein, Bernburg und Hartheim unter der Tarnbezeichnung „Sonderbehandlung 14f13“ mindestens 20.000 KZ-Häftlinge, die größtenteils von T4-Gutachtern als arbeitsunfähig oder gemeinschaftsfremd ausgesondert worden waren, umgebracht.

 

Nach dem von Hitler verfügten Stopp der Aktion T4, der einerseits auf die zunehmende Beunruhigung der Bevölkerung, die durch den öffentlichen Protest des Münsteraner Bischofs von Galen verstärkt wurde, zurückzuführen war, andererseits aber auch auf Verschiebungen im Herrschaftsgefüge des Dritten Reiches beruhte, wurde der Euthanasieapparat teilweise an den SS/SD/RSHA-Komplex abgetreten, um die „Endlösung der Judenfrage“ in Angriff zu nehmen, teilweise blieb er erhalten, um die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ - nunmehr dezentral organisiert - fortzuführen.

 

In den Zeitraum zwischen November 1941 und Juni 1943 fiel die Phase der „wilden Euthanasie“[33], bei der in etwa dreißig Heil- und Pflegeanstalten innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches, aber auch in den besetzten Gebieten Polens psychiatrische Patienten im „normalen Anstaltsbetrieb“ getötet wurden. Gleichzeitig arbeitete die Euthanasiezentrale an der lückenlosen Erfassung aller Anstaltsinsassen und versuchte, die Erfassung zur Vernichtung auf Arbeitshausinsassen, Fürsorgepfleglinge und Altersheimbewohner auszudehnen. Im Zusammenhang mit der Verschärfung des Luftkrieges über Deutschland erfolgte um die Jahresmitte 1943 eine Reinstitutionalisierung der Euthanasieaktion, die als „Aktion Brandt“ bezeichnet wurde. Dabei diente die Räumung von Heil- und Pflegeanstalten, die als Ausweichkrankenhäuser genutzt wurden, als Vorwand für die Wiederaufnahme der Sammeltransporte in die Zentren der „wilden Euthanasie“. Nach dem August 1941 kamen vorsichtigen Schätzungen zufolge nochmals mindestens 30.000 Insassen von Heil- und Pflegeanstalten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches im Rahmen des Euthanasieprogramms ums Leben, darunter eine große Zahl von überwiegend polnischen und sowjetischen Zwangsarbeitern, die beim Einsatz in der deutschen Kriegswirtschaft psychisch erkrankt oder tuberkulös waren.

 

Die Vernichtung lebensunwerten Lebens, der Hunderttausende[34] von Menschenleben zum Opfer fielen, bildete die Vorstufe zur Endlösung der Judenfrage.[35] Während die Euthanasiezentrale den ersten Massenmord an Juden auf dem Reichsgebiet einleitete, indem sie eine zunehmende Zahl von Juden deutscher Staatsangehörigkeit - Anstaltsinsassen und KZ-Häftlinge - in das Euthanasieprogramm einbezog, führten die Einsatzgruppen der Sipo und des SD, das „Sonderkommando Lange“[36] und SS-Einheiten wie der „Wachsturm Eimann“[37], deren Hauptaufgabe in der „Evakuierung“ von Polen und Juden bestand, stellvertretend für die T4-Zentraldienststelle Massenhinrichtungen von Anstaltsinsassen aus Pommern, Danzig-Westpreußen, Ostpreußen und dem Reichsgau Posen/Wartheland durch. Vermittelt durch das KTI des RSHA übernahm namentlich das „Sonderkommando Lange“ die Tötungstechnologie der „Euthanasieaktion“ in Form fahrbarer Gaskammern. Die nach dem Vorbild der Vergasungsanlagen in den Tötungsanstalten konstruierten Gaswagen kamen auch beim Massenmord an den Patienten psychiatrischer Krankenhäuser in der Sowjetunion, begangen von den Einsatzgruppen der Sipo und des SD, zum Einsatz.

 

Durch die Ausdehnung der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ auf die besetzten Ostgebiete - während des Zweiten Weltkrieges wurden in Polen und der Sowjetunion schätzungsweise je 10.000 Anstaltsinsassen ermordet - wurde die Euthanasieaktion mit der sich anbahnenden „Endlösung der Judenfrage“ verkoppelt, denn die Krankentötung stellte nur einen Ausschnitt der Massenmorde dar, die von den Sonderkommandos und Einsatzgruppen in Polen und der Sowjetunion verübt wurden und denen über eine Million Juden zum Opfer fielen. Das erste Vernichtungslager - Chelmno (Kulmhof) im Wartheland - wurde vom „Sonderkommando Lange“ eingerichtet und betrieben. Die Vernichtungslager der „Aktion Reinhard“ - dahinter verbarg sich die Judenvernichtung im Generalgouvernement -, Belzec, Treblinka und Sobibor, wurden fast ausschließlich von Personal der Euthanasiezentrale erbaut, eingerichtet, betrieben und geleitet. Mit ihm wurden auch das Organisationsschema und die Tötungstechnologie übernommen.[38]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

4. Schauplätze und Akteure in Leipzig

4.1 Das Gesundheitsamt der Reichsmessestadt Leipzig und seine Mitarbeiter

Die „neuen“ Aufgaben der Gesundheitsämter werden in einer Beilage zur Nr. 14 des Reichsministerialblattes (Zentralblatt für das Deutsche Reich) vom 1. April 1935, Medizinal- und Veterinärwesen, Dritte Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens (Dienstordnung für die Gesundheitsämter - Besonderer Teil.)[39] formuliert. Dort heißt es unter Abschnitt XIV, Erb- und Rassenpflege:

 

„§ 52, (1) Das Gesundheitsamt ist verpflichtet, praktische Erb- und Rassenpflege zu treiben. Zur Durchführung dieser Aufgabe hat es nach Bedarf Beratungsstellen für Erb- und Rassenpflege einzurichten. Seine beamteten Ärzte sollen in allen Fragen, die die Erbgesundheit und Rassenreinheit der Familie oder des einzelnen betreffen, die Bevölkerung beraten und die dem Amtsarzt zufallenden Aufgaben des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erfüllen. (2) Dabei sollen sie die zur Heirat entschlossenen Personen vor der Eheschließung beraten. Die Beratungsstellen sind ferner zur Untersuchung und Begutachtung derjenigen Ausländer heranzuziehen, die die Einbürgerung im Deutschen Reich beantragt haben. Dabei sollen sie erbbiologisch belastete oder sonst rassisch nicht zum deutschen Volkstum gehörende Personen durch eine ablehnende Stellungnahme von dem deutschen Volkskörper fernhalten. (3) Bei Ausübung ihrer Tätigkeit werden sie körperlich und seelisch Untaugliche von der Ehe und Zeugung möglichst abzuhalten suchen, um unerwünschten Nachwuchs auch über den Rahmen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses hinaus zu verhindern und eine Aufartung des deutschen Volkes zu erreichen. (4) Als Eheberater sind nur Ärzte zu bestellen, die über ein ausreichendes Wissen auf dem Gebiet der Erb- und Rassenpflege verfügen und auf dem Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung stehen., § 53 (1) Die bei den Gesundheitsämtern vorhandenen Untersuchungsergebnisse und Vorgänge sind in einer erbbiologischen Kartei zu sammeln. Zur Vervollständigung dieser Kartei ist eine enge Zusammenarbeit mit den Standesämtern, Einwohnermeldeämtern, Jugendämtern, Parteidienststellen und allen übrigen Organisationen, die sich mit Familienfürsorge oder Familienforschung befassen und Auskunft erteilen können, anzustreben.“[40]

 

Bereits vorher hatte man sich im Leipziger Gesundheitsamt Gedanken gemacht, wie man den neuen Forderungen nach einer „rassenhygienischen Ausrichtung“ entsprechen kann. Im Vordergrund steht zunächst die möglichst effektive Erfassung und „Verkartung“ von „erbbiologisch belasteten Menschen“. In einem Schreiben des Leiters des Stadtgesundheitsamtes, Herrn Stadtrat Beusch, an Prof. Dr. F. Rott, Berlin-Charlottenburg, Reichsanstalt zur Bekämpfung der Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit, Organisationsamt für Säuglings- und Kleinkinderschutz vom 10. Oktober 1933 heißt es: „Nach der organisatorischen Vereinheitlichung des Gesundheitswesens der Stadt Leipzig wird jetzt eine gesundheitliche Familienfürsorge einheitlich für die Angelegenheiten der Erziehungs- und Gesundheitsfürsorge ihre Tätigkeit aufnehmen. Wir beabsichtigen die Einführung eines Karteiblatts, das von jeder Fürsorgerin für ihren Bezirk zu führen ist. Dieses Blatt hat zwei Zwecke zu verfolgen. Es soll Auskunft geben 1.) über die Familie und 2.) über die Arbeitsleistung der Fürsorgerin.“ Daraufhin fragte Beusch im Auftrag des Stadtrates an, ob „dort ein geeignetes Karteiblatt für diese Zwecke bekannt ist.“[41] Im Antwortschreiben der vorgenannten Einrichtung vom 14. Oktober 1933 wird dem Gesundheitsamt mitgeteilt, „dass eine solche Karteikarte nicht bekannt ist, aber die Anfrage an den Deutschen Gemeindetag weitergeleitet wird.“[42] Aus nicht ermittelbarer Quelle gelangt das Gesundheitsamt schließlich in den Besitz bereits vorhandener Vordrucke, die für die Leipziger Anforderungen ergänzt und erweitert werden.

 

Im Zusammenhang mit der zu planenden „erbbiologischen Erfassung“ engagiert sich neben Beusch auch Dr. med. Johannes Thies, Leiter einer Privatfrauenklinik in der Emilienstraße Nr. 50. Diesem schreibt Beusch am 14. November 1933 folgendes: „Ich bitte, von dem Artikel „Die gesundheitliche Eignung zur Ehe“ Kenntnis zu nehmen. Die hier vertretenen Grundsätze sind wohl im wesentlichen auch diejenigen, die wir bei unserer letzten Besprechung festgelegt haben. Sodann fällt mir noch ein, dass wir die Arbeiten der Bezirksfürsorgerinnen schon jetzt nach den Gesichtspunkten einer beständigen Rassenpflege einrichten sollten. Ich bitte, die anliegenden Vordrucke, die für die praktische Arbeit der Fürsorgerin bestimmt worden sind, daraufhin durchzusehen, ob in sie noch etwas aufgenommen werden kann, was diesem Ziele dienen würde.“[43] In seiner Antwort vom 5. Dezember 1933 schildert Dr. Thies genau, wie er sich die Gestaltung einer geeigneten erbbiologischen Erfassungskarte vorstellt bzw. welche Änderungen vorzunehmen sind: „Zu: Erbanlagen und wichtige Krankheiten[44] würde ich vorschlagen: Es müssen die Erbanlagen der Eltern notiert sein. Dazu die Geschwister der Eltern. a) vom Vater b) von der Mutter, dann Alter und Todesursache der Großeltern beiderseits. Dann fehlt zu B: Kinder: Verlauf der Geburt: mehrere weitere medizinische Angaben zur Geburt.“[45] Nachdem der Erfassungsbogen in der gewünschten Art und Weise gestaltet ist, müssen nun die beteiligten Institutionen entsprechend instruiert werden. So informiert das Gesundheitsamt das Standesamt am 15. November 1933 wie folgt: „Der wohlfahrtspflegerische Außendienst ist jetzt zur Familienbezirksfürsorge zusammengefaßt worden. Die von den Hebammen bisher für das Jugendamt erstatteten Geburtsmeldungen sind deshalb in Zukunft nicht mehr dorthin zu geben, sondern dem Gesundheitsamt zuzuleiten. Wir haben Vordrucke mit der neuen Anschrift anfertigen lassen und werden sie in den nächsten Tagen den Hebammen zustellen.“[46] In dieser Akte findet sich auch ein entsprechendes Muster[47] dieses Vordruckes. Am gleichen Tag geht ein Brief an den Leipziger Hebammenverein über die Einführung der Familienfürsorge und die Meldepflicht der Hebammen an das Gesundheitsamt.[48] Daraufhin meldet Emma Rauschenbach, die Vorsitzende des Leipziger Hebammenvereins e. V. an das Gesundheitsamt „dass alle Hebammen bis auf wenige Ausnahmen im Besitz der Meldeformulare sind.“[49] Außerdem werden die Geburtsabteilungen der Leipziger Krankenhäuser benachrichtigt. Dem St. Elisabeth Krankenhaus wurde dazu folgendes mitgeteilt: „Damit die Fürsorgerinnen ein möglichst geschlossenes Bild von den sozialen Vorgängen ihres Bezirkes bekommen, ist es erwünscht, daß auch von allen in Ihrem Krankenhaus lebend geborenen Kindern diese Meldungen erstattet werden.“[50] Eine Sammlung der verwendeten Vordrucke bzw. Karteiblätter ist im Stadtarchiv erhalten.[51]

 

Wie effektiv die erbbiologische Erfassung abläuft und welches Ausmaß sie letztlich erreicht, verdeutlicht eine Äußerung des Obersekretärs Hahnefeld, eines Verwaltungsmitarbeiters des Gesundheitsamtes, vom 30. April 1940: „Die Bezirkskarteien der Familienfürsorge wachsen immer weiter an, dass die hierfür vorhandenen Holzkästen nicht ausreichen. Es müssten große geschlossene Karteikästen und Schränke für die abgelegten Karten beschafft werden. Das wird unter den gegenwärtigen Verhältnissen kaum möglich sein, muß aber nachgeholt werden, sobald es die äußeren Umstände gestatten.“[52]

 

Aus den Quellen wird deutlich, dass nach der Vereinheitlichung des Gesundheitswesens und der Schaffung erbbiologischer Abteilungen bei den Gesundheitsämtern, die Bezirksfürsorgerinnen eine wichtige Rolle für die Erfassung und Verkartung „erbuntüchtiger Menschen“ spielen. Mit der fortschreitenden Erfassung wächst auch die Skepsis in der Bevölkerung. Anhaltspunkte dafür finden sich im Jahresbericht der „Erbbiologischen Abteilung Leipzig-Dösen“ aus dem Jahre 1936:

 

„Die hiesige Erbbiologische Abteilung ist vor die Aufgabe gestellt, die erbuntüchtigen Stämme einer Bevölkerung zu erfassen, die entsprechend der Art des Aufnahmebereichs der Anstalt, zum allergrössten Teil in der Großstadt lebt. Nachteile: Das Großstadtpublikum ist in weiten Kreisen über den Sinn und Zweck erbbiologischer Erhebungen im Bilde und ist daher bemüht, alles Belastende möglichst zu verschweigen. Eine Exploration gestaltet sich schon schwierig, eine Untersuchung wird oft rundweg abgelehnt. Vorteile: Demgegenüber stehen gewisse Vorteile, die speziell Leipzig für die Anstellung erbbiologischer Erhebungen bietet: 1)...2)...3) In der Großstadt steht ein Stab meist langjährig im Dienste befindlicher Bezirksfürsorgerinnen zur Verfügung, die ihr Arbeitsbereich meist bis in die Einzelheiten kennen, wohl weit genauer, als dies unter den weitläufigen Verhältnissen auf dem Lande der Fall ist.“[53]

 

Im Jahresbericht von 1937 wird die Zusammenarbeit mit dem Stadtgesundheitsamt gelobt: „Die eingeschlagenen Methoden, die von vornherein auf eine etwaige Doppelarbeit vermeidende und der gegenseitigen Materialergänzung dienende enge Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt der Stadt Leipzig abzielten, können als zweckmäßig und bewährt betrachtet werden.“[54] Dennoch gibt es Schlupflöcher. Daran erinnert sich Frau K., deren Mutter in Pirna-Sonnenstein vergast wurde:

 

„Wer nicht in die Mühle gekommen ist, ist durchgekommen. Ich habe ihnen doch erzählt, hier, im Bekanntenkreis, also in der Nachbarschaft das Mädchen, die älter war wie ich. Die war wirklich schwachsinnig, das Mädel. Und da ist nie was passiert. Die war die ganze Zeit, war die mit ihrer Mutter. Die hat sie praktisch abgeschirmt. [55] Ja, ja, die hat die abgeschirmt. Es war nebenbei bemerkt ein hübsches Mädchen, sehr groß, leuchtend rote Haare. ... Und dann kenne ich noch einen Fall. Die haben ja auch Schwerstbehinderte umgebracht. Da war dort im Rabetviertel, ich weiß nicht, ob sie im Osten Bescheid wissen, das war ein fürchterliches Viertel. Und da war ein Junge, der war vollkommen schwachsinnig und war auch noch gelähmt. Der saß immer nur in seinem Kinderstühlchen vor der Haustür. Der ist auch nie erfasst worden. Also hat die Mutter den auch abgeschirmt.“[56]

 

Schon frühzeitig wird das ärztliche Personal des Leipziger Gesundheitsamtes in „Rassenkunde“ geschult. Mit einem Schreiben des Arbeits- und Wohlfahrtsministeriums Sachsen vom 27. Juni 1933 ergeht die Einladung für den „1. Einführungskurs in Rassenkunde und Rassenpflege in Dresden vom 14. - 16. August 1933.“ In der Antwort des Gesundheitsamtes Leipzig vom 6. Juli 1933 heißt es: „Wir beabsichtigen die Stadtmed. Räte Dr. Risel und Dr. Müller abzuordnen. (unterzeichnet) Beusch, Anmerkung vom 10. Juli 1933: Die Dienstreise wird genehmigt. (unterzeichnet) Goerdeler.“[57] Zu diesem ersten Kurs konnten vorerst nur die zwei genannten Ärzte fahren. Eifrig bemüht sich Dr. Marloth, ebenfalls Arzt am Gesundheitsamt, bei Dr. Beusch am 2. Oktober 1933: „Ich bitte nunmehr ebenfalls um Abordnung zum 2. Einführungskurs in Rassenkunde und Rassenpflege in Dresden: 22. - 24. Oktober. (unterzeichnet) Dr. Marloth.“[58] In der Folge finden weitere Kurse dieser Art statt. Am 1. Juni 1934 fragt Goerdeler persönlich bei Beusch an, welche Mitarbeiter bereits an den „Rassenschulungen“ teilgenommen haben. Dieser antwortet: „Teilgenommen haben (bereits) 1. Dr. Marloth, 2. Dr. Müller, 3. Dr. Koch, 4. Dr. Stuhlmann, 5. Dr. Risel, 6. Dr. Thies privat, 7. Kaiser (o. Ä., d. Verf.), nicht teilgenommen: Dr. Scheidt.“[59]

 

O. g. Dr. Marloth ist es auch, der folgendes amtsärztliches Gutachten erstellt und mit der in einem Zusammenhang verwendeten Nennung von Juden – Wanzen – Ekel anschaulich seine Gesinnung spiegelt:

 

„Gesundheitsamtliches (Amtsärztliches) Zeugnis

über das aus gesundheitlichen Gründen erforderliche Instandsetzen der künftigen Wohnung des Lehrers Wolfgang Hoffmann in Leipzig C 1, Albertstraße 8 III li. (früherer Wohnungsinhaber: Taxator Hailbronner)

 

Bei der Besichtigung der Wohnung am 16.12.1937 wurde folgendes festgestellt: Die Wohnung war bisher von Juden bewohnt und seit Jahren nicht vorgerichtet worden. An den Wänden sämtlicher Zimmer befinden sich keine Tapeten, sondern Anstriche. In einem Zimmer waren die Wände vollkommen fleckig durch zerdrückte Wanzen, die noch deutlich zu erkennen waren. Es wirkte derartig ekelerregend, daß von diesem Gesichtspunkt aus alle übrigen Zimmer zu begutachten sind. Hier war dies zwar nicht der Fall. Aber der Wandanstrich war in allen Räumen derartig schmutzig und beschädigt, daß in sämtlichen Räumen, wie auch im Flur, ein neuer Anstrich sich nötig macht. Desgleichen waren die Decken überall angeschwärzt und die Fußböden so stark abgetreten, daß in sämtlichen Räumen, Korridor, Bad und Klosett eingeschlossen, diese erneuert werden müssen. Desgleichen sind sämtliche Fenster zu streichen, die kaum noch als weiß zu bezeichnen waren. Auch ist ein Anstrich der Türen aus obigem Grunde nötig. Alles in allem, die Wohnung ist derartig abgewohnt, daß man einem Beamten nicht zumuten kann, einzuziehen, ohne daß die Wohnung völlig neu vorgerichtet wird. Eine Aufzählung der einzelnen Räume erscheint ausnahmsweise in dieser Begutachtung nicht nötig. Im Hinblick auf den ekelerregenden Zustand, d.h. aus gesundheitlichen Gründen, ist eine Vorrichtung sämtlicher Räume nötig. Vor Erneuerung ist Desinfektion sämtlicher Räume erforderlich.

Leipzig, am 17. Dezember 1937, i. A. (gez.) Dr. Marloth“[60]

 

Dr. med. Kurt Marloth wird am 23. September 1882 in Dresden geboren. Er besucht die Kreuzschule bis 1904. Von April bis Oktober 1905 dient er im 107. Infanterieregiment als Gefreiter. Marloth studiert anschließend Medizin bis 1909 an der Universität Leipzig und wird Arzt. Von 1913 - 1922 arbeitet er in der Heilanstalt Zschadraß als Anstaltsarzt. Seit 1922 steht er in Diensten der Stadt Leipzig u. a. als Stadtarzt, Sportarzt, Amtsarzt bzw. in dieser Position als vereidigter Sachverständiger beim Gericht. Von 1938 - 1941 arbeitet er als nebenamtlicher Ortskrankenkassenarzt.[61] Nach dem Krieg gibt er in einem Schreiben vom 9. September 1952 über seine Tätigkeit in staatlichen oder städtischen Diensten an: „Da ich nicht Mitglied der NSDAP war, schied ich aus eigenem Antrieb 1938 aus städtischen Diensten von einer pensionsfähigen Stellung aus, erhielt 560,- M monatl. Pension.“[62] Weil er erfolgreich seine „antifaschistische Gesinnung“ beteuern kann, wird er wieder in Leipzig tätig. So von 1947 - 1952 als Sprengelarzt, von 1947 - 1952 als Betriebsarzt bei der Deutschen Notenbank, von 1949 - 1952 als Betriebsarzt bei „Eschebach und Schäfer“, von 1949 - 1952 als nebenamtlicher SVK-Arzt und seit dem 1. Mai 1952 als hauptamtlicher SVK-Arzt. Ab 1. Dezember 1953 wird er zum stellvertretenden Kreisarzt befördert. Er scheidet auf eigenen Wunsch zum 1. Januar 1958 aus städtischen Diensten aus.

 

Eine letzte Spur führt an dieser Stelle zu Dr. med. Arndt Bischoff. Er wird am 22. Oktober 1908 in Leipzig geboren und steht seit 17. Dezember 1937 als jüngster Medizinalrat Deutschlands in Diensten der Stadt Leipzig.[63] Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Gauleitung Süd-Hannover, Kreis Braunschweig Stadt meldet in einem Schreiben vom 28. September 1937 an den OBM von Leipzig: „Betr. Auskunft über Dr. med. Arndt Bischoff: Mitglied der Partei ist B. nicht, er gehört aber dem NSKK an und soll sich auch schon früher für die Bewegung betätigt haben. Über seine politische Zuverlässigkeit bestehen keine Zweifel. Heil Hitler![64]

 

Seine offene „eugenische“ Haltung ist Anlass eines Beschwerdeschreibens einer älteren städtischen Angestellten vom 1. August 1940:

 

„Am 1.8.1940 erscheint die Kanzleisekretärin bei der Stadtkämmerei Frl. Johanna Heidel und gibt folgendes an: Nachdem ich mich während meines Urlaubs leidlich erholt habe und etwas zur Ruhe gekommen bin, kann ich nicht umhin, dem Personalamt von der Behandlung, die mir bei der amtsärztlichen Untersuchung zuteil geworden ist, Kenntnis zu geben. Die amtsärztliche Untersuchung durch Herrn Med.Rat Dr. Bischoff spielte sich folgendermaßen ab: Herr Dr. Bischoff sagte zu mir im Befehlston, ohne auch nur einmal das Wort „bitte“ zu gebrauchen: „Ziehen Sie sich aus“, „Stellen Sie sich auf die Waage“. Als ich infolge meines Schwächezustandes nach einem Halt suchte und mich an der Waage festhielt, sagte er: „Hände weg“ und zog dabei meine Hände weg. Nachdem er das Gewicht festgestellt hatte, fragte er: „Was fehlt Ihnen?“ Hierauf sagte ich ihm: „Ich habe gestern einen Anfall gehabt.“ Ich wollte ihm dazu noch eine Erklärung abgeben, er schnitt mir jedoch das Wort ab und sagte: „Mich interessiert bloß das Medizinische“ oder so ähnlich. Ich erlaubte mir noch zu sagen, daß ich 34 Jahre im Dienst und bald 60 Jahre alt sei, worauf er mir erwiderte: „Andere auch.“ Im gleichen barschen Ton fragte er weiter, ob ich schon in einer Nervenklinik gewesen oder erbkrank sei, ferner: „Sind Sie geschlechtskrank?“, „Haben Sie Ihr Rückenmark untersuchen lassen? Sind Sie sterilisiert?“ Diese unerhörte Frage brachte mich derart in Erregung, daß mir die Tränen kamen. Zum Schluß sagte er: „Von einer Überweisung in die Nervenklinik werde ich diesmal absehen. Die Untersuchung ist beendet.“ Ich versichere der Wahrheit entsprechend, daß es mir damals nicht möglich gewesen ist, diese Mitteilung sofort an das Personalamt zu geben, weil ich mich über alle Maßen aufgeregt hatte, körperlich vollkommen erschöpft war und erst jetzt einigermaßen zur Ruhe gekommen bin.

Durchgelesen, genehmigt und unterschrieben: Johanna Heidel.“[65]

 

Am 30. September 1945 wird Dr. Bischoff fristlos entlassen. Er erhebt dagegen am 20. Oktober 1945 Einspruch mit der Begründung, „daß ich mich während des „Dritten Reiches“ antifaschistisch betätigt habe, wie aus beiliegendem Zeugnis hervorgeht. Deshalb bin ich auch nie Mitglied der NSDAP gewesen.“[66] In diesem Zeugnis schreibt der Bürgermeister zu Seeligstadt, Kreis Pirna, am 28. August 1945: „Bestätigung: Ich bestätige hiermit, daß sich Herr Dr. Arndt Bischoff, wohnhaft in Seeligstadt, schon seit Jahren aktiv im antifaschistischen Sinne betätigt hat. Herr Dr. Arndt Bischoff gehört gleichzeitig zu meinen engeren Mitarbeitern und ist Kommunist. Burckhardt, Gemeindevorsteher.“[67]

4.2 Dr. med. Walther Vetzberger – Rassenarzt in Leipzig

Walter Vetzberger aus Alsfeld/Hessen richtet am 8. November 1938 an den OBM der Reichsmessestadt Leipzig ein Bewerbungsschreiben, betreff: „Die Stelle eines hauptamtlichen Arztes (Obermedizinalrat), der die Angelegenheiten der Erb- und Rassenpflege grundsätzlich bearbeiten und leiten soll, beim Gesundheitsamt der Stadt Leipzig.“[68] Dr. med. Walter Vetzberger wird am 1. September 1906 in Schotten/Hessen geboren. Er war evangelischer Religion, seit dem 13. April 1938 bezeichnet er sich als gottgläubig. Am 16. Oktober 1931 heiratet er Else Rossenbeck, geb. am 5. Februar 1910 zu Düsseldorf. Sie haben drei gemeinsame Kinder. Am 5. März 1936 wird er zum Medizinalrat beim staatlichen Gesundheitsamt Mainz bestellt, seit 1. November 1936 ist er als Amtsarzt in Alsfeld tätig. Ein von ihm im Zusammenhang mit seiner Bewerbung in Leipzig handschriftlich verfasster Lebenslauf vom 20. August 1938 sagt folgendes aus:

 

„Am 1.1.1928 trat ich in München als Mitglied in die N.S.D.A.P. ein und gehörte in den Monaten Januar und Februar 1928 daselbst der S.A. an. Nach meinem Weggang von München wurde ich, trotz meiner Ummeldung, einige Zeit nicht geführt, sodass ich mich am 1.7.1931 in Darmstadt, nach Abschluss meines Studiums, erneut zur Partei meldete. Ich bekam meine alte Mitgliedsnummer 75 004 wieder. Nach der Revolution 1933 wurde ich politischer Leiter; heute bin ich als Kreisbeauftragter für Rassen- und Bevölkerungspolitik und als Rasseredner tätig. Ich stehe im Rang eines Kreisamtsleiters der NSDAP. Im September 1934 wurde ich in Mainz durch Professor Rüdin, München, im Auftrag des Reichsministers des Innern zum ersten Vorsitzenden der O. G. Mainz der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene ernannt. Ausserdem bin ich seit 1934 Mitarbeiter des Rassenpolitischen Amtes Berlin und Dozent und Prüfer an den Verwaltungsakademien Darmstadt und Mainz über das Gebiet der Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik. Am 8.12.1936 wurde ich zum stellvertretenden ärztlichen Mitglied (als beamteter Arzt) des Erbgesundheitsgerichtes Giessen ernannt. Seit März 1938 bin ich wieder in der SA und zur Zeit Rassereferent im Stab des hiesigen Obersturmbannführers. Ich bin Mitglied des NS.D. - Ärztebundes und Rassereferent im Amt für Volksgesundheit. Meine Sippe und die Sippe meiner Frau sind erbgesund und deutschblütig.“[69]

 

In einer Beurteilung des Gesundheitsamtes Mainz vom 2. Mai 1935 heißt es anerkennend: „...fertigt selbständig Gutachten bei Anträgen auf Sterilisation auf Grund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, wozu er infolge seiner guten Spezialausbildung auf dem Gebiete der Rassenhygiene und Erbbiologie ganz besonders geeignet ist.“[70] SA und SS buhlen um Vetzbergers Mitgliedschaft in ihren Organisationen. Der SS-Führer im Rasse- und Siedlungswesen des Oberabschnittes Fulda-Werra schreibt am 10. März 1938 „betr. SS-Aufnahme des Pg. Walther Vetzberger, an den Oberabschnittsarzt Fulda-Werra, SS-Obersturmführer Pfannenstiel, Marburg, hygienisches Institut: V. ist alter Pg. Um den sich die SA ebensostark bemüht. Es wird daher gebeten, die Angelegenheit in Kürze zu erledigen.“[71] Wahrscheinlich weil Vetzberger bereits 1928 in die SA eintrat, entschließt er sich gegen die SS-Mitgliedschaft und für einen Wiedereintritt in die SA am 2. Februar 1938. Im SA-Führerfragebogen ist sein politischer Werdegang festgehalten, der die Angaben aus seinem Lebenslauf bestätigt bzw. ergänzt: Eintritt in die NSDAP am 1. Januar 1928 – Mitgliedsnummer 75.004, politischer Leiter seit 1933, Gaurasseredner seit 1933, 1924 und 1925 Mitglied im Deutschen Orden.[72]

 

Dr. Vetzberger wird schließlich eingestellt und erhält die Ernennungsurkunde zum Obermedizinalrat der Reichsmessestadt Leipzig mit Dienstbeginn ab 2. Januar 1939.[73] Schon bald zeigt sich, dass Vetzberger ein begehrter Rassenexperte ist. So bspw. auf einer Sitzung der Ärzte des Gesundheitsamtes vom 24. Februar 1940, zu der auch – „wie angemeldet - der Direktor der Landesheil- und Pflegeanstalt Dösen erschien, um sich mit den Ärzten des Stadtgesundheitsamtes bekannt zu machen. Professor Nitsche wurde von dem stellvertr. Amtsarzt herzlichst begrüßt und es wurde die Versicherung engster kameradschaftlicher Zusammenarbeit abgegeben. In Anwesenheit des Gastes referierte Dr. Vetzberger über einen schwierigen, aber sehr interessanten Fall, bei dem die Frage zu prüfen war, ob einem Mädchen die Ehegenehmigung erteilt werden kann. Das Mädchen ist die Tochter eines Deutschen und einer Indianerin.“[74]

 

Ein weiterer Hinweis, dass Vetzberger ein gesuchter Mann ist, ergibt sich aus einem Schreiben des Sächsischen Ministeriums für Volksbildung an den OBM von Leipzig vom 25. Januar 1941, in welchem der Antrag der Universität Leipzig, „dem leitenden Erbarzt Dr. Walter Vetzberger in Leipzig einen Lehrauftrag für Rassenpflege in der Medizinischen Fakultät zu erteilen“, zur wohlwollenden Prüfung übersendet wird. Der Oberbürgermeister als oberster Dienstherr Vetzbergers genehmigt diese Nebentätigkeit.[75]

 

Dr. Vetzbergers rassenpolitische Fähigkeiten fanden außer in Leipzig ganz offensichtlich auch auf Reichsebene höchste Anerkennung. In einem Protokoll über die Dienstbesprechung des stellvertretenden Amtsleiters mit den Abteilungsleitern des Stadtgesundheitsamtes vom 11. November 1942 heißt es:

 

„Herr Dr. Vetzberger berichtet weiter über seine Berliner Reise zum Reichsministerium des Innern, von dem er zu einer Aussprache über rassenhygienische Ehevermittlung für Kriegsversehrte eingeladen worden sei. Er habe aus uneigennützigen Gründen den nicht neuen Gedanken aufgegriffen und durchgeführt und damit Anklang beim Reichsministerium des Innern gefunden. Er solle in Sprechabenden zu führenden Persönlichkeiten aus Partei und Staat reden. Beim Reichsministerium habe man gestaunt, was hier geleistet werde und daß es möglich gewesen sei, den Personalbestand der Beratungsstelle im Kriege zu verdoppeln. Man habe sich weiter gewundert über die seuchenpolizeiliche Lösung der Ausländerfrage, die durch ein Ausländerkrankenhaus abgeschlossen werden soll. Über die Auslese der Asozialen solle er demnächst mit Reichsamtsleiter Schmidt sprechen, weil man in seiner Dienststelle damit nicht fertig geworden sei. Er sei zum Reichsjustizminister zum Vortrag bestellt worden. Das Reichsministerium habe die Absicht, anderen Städten die Einrichtung von Ehevermittlungsstellen nach dem Muster in Leipzig zu empfehlen. Er habe in Berlin auch vorgeschlagen, die Amtsärzte der größeren Kommunen zeitweise ganz unverbindlich zusammenkommen zu lassen und hierfür Verständnis gefunden. Die Verbindung mit dem Reichsministerium sei dadurch angeknüpft und er werde sich bemühen, sich nicht für sich, sondern für das Amt und den Dezernenten aufrecht zu erhalten. In dieser frohen Stimmung trete er das neue Amt an, nicht ohne Herrn StR Teutsch zu danken, der für das Amt, dessen Leitung für einen Nichtfachmann nicht leicht sei, das Beste hergegeben habe. Nach dem Kriege werde er sich neben seiner Tätigkeit als stellvertretender Amtsarzt viel mehr mit der Erb- und Rassenpflege beschäftigen. Er möchte an seinem Lebensabend seine rassepolitischen Gedanken als neues Glaubensbekenntnis niederlegen.“[76]

 

Vetzbergers Arbeit und Persönlichkeit wird am 1.März 1944 mit der Verleihung des Kriegsverdienstkreuzes erster Klasse ohne Schwerter durch Reichsstatthalter und Gauleiter Mutschmann gewürdigt.[77] Wie viele seiner ärztlichen Kollegen aus dem Gesundheitsamt wartet auch Vetzberger bei Kriegsende die Besetzung durch die amerikanischen Truppen ab und bleibt zunächst unbehelligt. Er, der eben noch als Rassenarzt über den Wert oder die Wertlosigkeit seiner Mitmenschen befand, wird nach dem Einmarsch der Amerikaner zunächst sogar zum Hauptgesundheitskommissar in Leipzig bestellt:

 

„Militärregierung Stadtkreis Leipzig, 29. April 1945

 

Dieses Dokument bestätigt, daß Dr. med. Walter Vetzberger zum Hauptgesundheitskommissar für den Stadt- und Landkreis Leipzig ernannt ist. Durch diese Ernennung soll er die Kontrolle und die Verantwortung für alle Gesundheitsfragen im Stadt- und Landkreis Leipzig erhalten.

 

29.4.1945 M.A. Alexander, Capt. D.C. for Howard Goodman, Lt.Col.M.C. Herrn Bürgermeister m. d. B. um Kenntnisnahme, (unterzeichnet) Dr. Vetzberger“[78]

 

Wie aus dem Schreiben hervorgeht, schickt es Vetzberger sogar an den Bürgermeister mit Bitte um Kenntnisnahme, offenbar noch voll der Überzeugung, dass seine Ernennung in Ordnung geht. Doch er bleibt nur wenige Tage im Amt. Der Bürgermeister teilt Dr. Vetzberger am 10. Mai 1945 die fristlose Entlassung aus städtischen Diensten auf Anordnung der amerikanischen Militärregierung mit. Zu diesem Zeitpunkt ist er aber selbst schon untergetaucht. In einem Vermerk des Gesundheitsamtes heißt es: „Das Kündigungsschreiben an Dr. Vetzberger konnte bisher nicht zugestellt werden, da sein Aufenthaltsort unbekannt ist. Frau Vetzberger wohnt in Dornreichenbach.“[79] Grund der Entlassung sind die Rechercheergebnisse eines Sonderkommandos der Schutzpolizei, die der Stadtverwaltung mitteilt, dass Vetzberger seit 1. Januar 1928 Mitglied der NSDAP war. Nach diesen Feststellungen ist Dr. med. Vetzberger als beamteter Arzt für die Stadtverwaltung untragbar.[80]

 

 

 

 

 

 

Dr. Vetzberger versucht über seine Frau, Zeugnisse und Beurteilungen von seinem alten Arbeitgeber zu bekommen. In einem Schreiben aus dem Gesundheitsamt an das Personalamt vom 12. Mai 1947 bezüglich der Anfertigung eines Zeugnisses auf Wunsch von Frau Vetzberger heißt es:

 

„Die Anfertigung eines Zeugnisses muß - wie schon vor Wochen in einem Schreiben an Frau Vetzberger betont - vom Stadtgesundheitsamt abgelehnt werden, da es sich bei Vetzberger um einen aktiven Nationalsozialisten handelt, der noch beim Einmarsch der Amerikaner die Belegschaft zu Sabotageakten im Sinne des Werwolfes anzufeuern versuchte. Aus diesem Grund lehnt es der einzige noch im Amt befindliche Mitarbeiter aus der Zeit Dr. Vetzbergers ab, einen Zeugnisentwurf für ihn aufzustellen.“[81]

 

Damit verliert sich seine Spur in Leipzig.

4.3 Das Erbgesundheitsgericht

Dieses neugeschaffene Gericht war an ein Amtsgericht angegliedert und bestand aus einem Amtsrichter als Vorsitzendem, einem beamteten Arzt und einem im Deutschen Reich approbierten Arzt, der nach § 6 des Erbgesundheitsgesetzes in der Erbgesundheitslehre besondere Kenntnisse haben sollte und im Einvernehmen mit dem NS-Ärztebund ausgewählt wurde. Die Beurteilung des jeweiligen Falles erfolgte ohne nochmalige Patientenvorstellung, nur an Hand der vorliegenden Akten. Bei den Ermittlungen waren dem Erbgesundheitsgericht sämtliche Beweismittel gestattet, und die beteiligten Ärzte waren unter Missachtung ihres Berufsgeheimnisses aussagepflichtig. Gerichts- und Verwaltungsbehörden sowie Krankenanstalten hatten dem Erbgesundheitsgericht auf Ersuchen Auskunft zu erteilen. Ein entsprechender Beschluss wurde formlos abgefasst. Das Verfahren war nicht öffentlich.[82]

 

Am 27. Januar 1934 wurden die Mitglieder des Erbgesundheitsgerichtes Leipzig ernannt. Als beamtete Ärzte wurden verpflichtet:

 

  1. Prof. Dr. Paul Schröder: Schröder war zu dieser Zeit Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Neurologie an der Leipziger Universitätsnervenklinik. Sein Schwerpunkt lag auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Seit April 1925 war er ordentlicher Professor in Leipzig. Schröder gehörte zu einer Reihe von namhaften Ordinarien, die der eugenisch-rassenhygienischen Umorientierung der Psychiatrie bereits vor 1933 Unterstützung erwiesen hatten.[83] Seine Emeritierung erfolgte im Jahre 1938.[84]
  2. Dr. med. Johannes Thies (als erster Stellvertreter): Thies war niedergelassener Arzt, der in der Emilienstraße 50 eine Privatfrauenklinik betrieb. Er war nach Aussage der Akten ein eifriger Mitgestalter der erbbiologischen Erfassung in Leipzig.[85]
  3. Stadtrat Dr. Hans Karl Beusch (als zweiter Stellvertreter): Er war bis zum 30. September 1938 in Leipzig als Amtsarzt tätig. Danach verzog er nach Essen, um eine wahrscheinlich lukrativere Stellung als Direktor[86] bzw. Abteilungsleiter[87] der Krupp-Werke anzutreten.

 

Als approbierte Ärzte wurden berufen:

 

  1. Dr. Johannes Hartmann, Leipzig: Kronprinzstrasse
  2. Oberregierungsmedizinalrat Dr. Erich Wendt (als erster Stellvertreter): Der 1871 geborene Arzt hatte im August 1928 die Leitung der Heilanstalt Dösen übernommen. Unter seiner Leitung wurde in Dösen eine erbbiologische Abteilung eingerichtet und mit den Zwangssterilisierungen im Rahmen des GzVeN begonnen. Wendt organisierte für die unterschiedlichsten Laiengruppierungen Führungen durch Dösen, in denen er die Notwendigkeit erbpflegerischer Maßnahmen erläuterte und anhand von Patienten demonstrierte. Er wurde am 1. Oktober 1936 in den Ruhestand versetzt und leitete aufgrund der allgemeinen Mobilmachung vom 30. August 1939 bis zum 1. Januar 1940 die Anstalt Dösen vertretungsweise.[88]
  3. Dr. med. Gurnemanz Hoffmann (als zweiter Stellvertreter): Leipzig, Markgrafenstrasse 4.

 

Theoretisch bestand für den Betroffenen die Möglichkeit, gegen die Entscheidung des Erbgesundheitsgerichtes Widerspruch einzulegen. Falls widersprochen wurde, trat das Obererbgesundheitsgericht zusammen. Dies kam jedoch äußerst selten vor. Die soziale Stellung hatte keinen Einfluss auf den Entscheid des Obererbgesundheitsgerichtes. Das Gericht entschied in rund 84 Prozent der Fälle zu Gunsten einer Sterilisation. Es schloss sich also fast immer dem Entscheid des Erbgesundheitsgerichtes an. Die Möglichkeit, durch Einspruch eine beschlossene Unfruchtbarmachung zu verhindern, war daher für die Betroffenen sehr gering.[89]

4.4 Stadtkinderkrankenhaus Leipzig – Universitätskinderklinik Leipzig

In der einschlägigen Literatur findet sich als Leipziger Schauplatz immer wieder die Universitätskinderklinik in der Oststrasse. In den Aktenbeständen ist jedoch außerdem vom Stadtkinderkrankenhaus die Rede. Es handelt sich hier um ein und dasselbe Krankenhaus, wie es auch beispielsweise bei den damals im Stadtkrankenhaus St. Jakob angesiedelten Universitätskliniken der Fall war.[90] So findet sich beispielsweise im offiziellen Briefkopf aus dem Stadtkrankenhaus die offizielle Bezeichnung: Medizinische Universitätsklinik im Städtischen Krankenhause zu St. Jakob, deren damaliger Chef Prof. Max Bürger war[91] oder die Bezeichnung „Universitäts-Kinderklinik und –Poliklinik im Kinderkrankenhause“[92]. Dabei waren alle Mitarbeiter der Kinderklinik unter dem Klinikchef Prof. Bessau, also Assistenzärzte, Ausbildungsassistenten, Volontärassistenten und Technische Assistentinnen in zwei Gruppen, klinische und städtische Mitarbeiter unterteilt. Ebenso verhielt es sich mit anderen ordentlichen Professoren der Universität Leipzig, die, etwa im Städtischen Krankenhaus zu St. Jakob arbeitend, sowohl als Universitätslehrer als auch für die Stadt Aufgaben in den Krankenhäusern wahrnahmen.[93] In einem Briefwechsel zwischen dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, dem Sächsischen Ministerium für Volksbildung und dem Oberbürgermeister der Stadt Leipzig finden sich Hinweise für die beschriebene Doppelstellung:

 

„In einem Antwortschreiben des OBM aus Leipzig an den Leiter des Sächsischen Ministeriums für Volksbildung Dresden vom 15. Januar 1943 heißt es: Zur Klarstellung der im Erlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 9. Dezember 1942 - WA 2017 - aufgeworfenen Fragen berichte ich wie folgt:

zu 1) Die planmäßigen Universitätsprofessoren an der Universität Leipzig Bürger, Rieder, Spiethoff, Lange, Catel und Sievers haben hinsichtlich der Tätigkeit, die sie als ärztliche Leiter städtischer Krankenhausabteilungen verrichten, kein 2. Amt inne. Es handelt sich vielmehr um eine Tätigkeit, die gegenüber der Reichsmessestadt Leipzig nicht im Beamten-, sondern im Angestelltenverhältnis ausgeübt wird. An dieser Tatsache wird auch dadurch nichts geändert, dass die den Genannten gewährte Vergütung nach gewissen Teilen des für Beamte geltenden Grundgehalts- und Wohnungsgeldzuschusses berechnet wird. Die Genannten setzen als Leiter städtischer Krankenhausabteilungen nicht ihre volle Arbeitskraft ein. Der größere Teil ihrer Arbeitskraft ist der Lehrtätigkeit und der Behandlung von Privatpatienten gewidmet. Eine Norm dafür, in welchem Verhältnis die Genannten für das Land Sachsen und für die Reichsmessestadt tätig sind, läßt sich schwer finden, weil die Beanspruchung durch die Lehrtätigkeit und der Umfang der Privatpraxis in den einzelnen Fällen verschieden ist. Die dienstlichen Leistungen der Genannten für die Reichsmessestadt Leipzig sind mit der Vergütung, die die Stadt gewährt, ausreichend abgegolten. Vom 1. 4. 1942 an habe ich die Vergütungen einheitlich wie folgt festgesetzt: Prof. Dr. Catel (25 Prozent der Stufe 2 der Gruppe A 1b Grundgehalt + WZ. nach der zuständigen Staffel, Sonderklasse), Prof. Dr. Sievers 20 Prozent desgl., Prof. Dr. Rieder 25 Prozent desgl., Prof. Dr. Bürger 25 Prozent desgl., Prof. Dr. Spiethoff 25 Prozent desgl., Prof. Dr. Lange 20 Prozent desgl.

zu 2) Ein 2. Amt ist in den Besoldungsvorschriften für die planmäßigen Beamten der Reichsmessestadt Leipzig nicht vorgesehen.

zu 3) Die Beauftragung der Genannten mit den in Frage stehenden Tätigkeiten bei der Reichsmessestadt Leipzig beruht nicht auf einem förmlichen Ernennungsakt im Sinne des DBG, sondern auf einer im Einzelfalle getroffenen vertraglichen Vereinbarung (Dienstvertrag). II. Zur Klärung der Frage, ob die unter I genannten Universitätsprofessoren ihre Tätigkeit für die Reichsmessestadt Leipzig im Haupt- oder Nebenamt (Nebenbeschäftigung) verrichten, habe ich in meinem dem Herrn Universitätsrentmeister zu Leipzig am 19. 3. 1942 erstatteten Bericht folgendes ausgeführt: Den ärztlichen Leitern der Kliniken der Univ. Leipzig ist zugleich die Leitung je einer Abteilung bei den städtischen Krankenhäusern, die mit den Universitätskliniken verbunden sind, übertragen. Sie sind im Verhältnis zum Lande Sachsen ordentliche Professoren (Staatsbeamte) und im Verhältnis zur Reichsmessestadt in ihrer Eigenschaft als Krankenhausabteilungsleiter städtische Angestellte. Es handelt sich gewissermaßen um zwei Tätigkeitsgebiete, die in Personalunion verwaltet werden. Es läßt sich sonach schwer eine Unterscheidung der Tätigkeitsgebiete nach Haupt- und Nebenamt treffen. Meines Erachtens ist das Verhältnis eines solchen Stelleninhabers zum Lande Sachsen und zur Reichsmessestadt als Einheit zu betrachten, d.h. als ein Rechtsverhältnis besonderer Art, das dem hier vorliegenden Charakter der Überschneidung staatlicher und städtischer Interessen gerecht wird. Diese Auffassung vertrete ich auch heute noch.“[94]

 

Daraus wird klar ersichtlich, dass die an den Universitätskliniken in den städtischen Krankenhäusern tätigen Professoren einerseits Beamte im Dienste des Landes Sachsen und andererseits auch städtische Angestellte gewesen sind.

 

In dieser Doppelfunktion ist als Abteilungsleiter im Stadtkinderkrankenhaus bzw. als Direktor der Universitätskinderklinik von 1933 bis 1946 Werner Julius Eduard Catel tätig. Er wird am 27. Juni 1894 in Mannheim geboren und steht seit 1. Juli 1922 als sogenannter „Ausbildungsassistent“ in städtischen Diensten. Seine Leipziger Wohnung befindet sich in C1, Kickerlingsberg 12, in Gohlis.[95] Seine Person ist eng mit der „Kindereuthanasie“ während der Zeit des Nationalsozialismus verbunden und wird sowohl durch bereits erschienene als auch in Leipzig und Kiel geplante Veröffentlichungen erforscht. Deshalb sollen an dieser Stelle nur einzelne Spuren verfolgt werden, die Hinweise auf die Arbeit der „Kinderfachabteilung“ an der Kinderklinik und auf die „Kindereuthanasie“ geben.

 

Spätestens seit Ende 1941 gibt es auch an der Leipziger Kinderklinik eine „Kinderfachabteilung“[96],in der Kinder umgebracht werden. Obwohl alle Vorgänge um die Kindstötungen als „geheime Reichssache“ gelten und auch die Herren Prof. Häßler und Oehme betonen, aufgrund der Geheimhaltung von nichts zu wissen, gibt es vielfach Hinweise darauf, dass Prof. Catel nicht der einzige ist, der um die „Reichsausschußkindern“ Bescheid weiß.

 

Frau Dr. Hildegard Wesse, 1943 selbst Leiterin der Kinderfachabteilung in Uchtspringe, arbeitet zusammen mit ihrem Mann 1942 etwa drei oder vier Monate in Leipzig bei Catel als Gastärztin, um dort die Kriterien und Untersuchungstechniken der „Kinder-Euthanasie“ zu erlernen. Sie beschreibt die Atmosphäre in seiner Klinik:

 

„Ich erinnere mich, dass Professor Catel einmal bei einer Konferenz sämtlicher Ärzte der Universitäts-Kinderklinik, es handelte sich um eine klinische Vorstellung von Kindern, zu dem vorstellenden Arzt sagte: „Sehen Sie das nicht, das ist doch ein idiotisches Kind; ich würde da als Behandlung den anderen Weg vorschlagen“, dabei meinte er die Meldung an den Reichsausschuß. Ich war darüber sehr erstaunt und sagte hinterher zu meinem Mann, hier scheinen ja alle Ärzte von dem Reichsausschussverfahren zu wissen. Es imponierte mir, dass das Verfahren hier so offen genannt wurde.“[97]

 

Ein weiterer Hinweis findet sich in der Personalakte über Dr. med. Franz Ferdinand Schwahn, geb. am 10. April 1910 in La-Chaux-de-Fonds (französischsprachige Schweiz). Er ist Mitglied in der NSDAP seit 1. Mai 1937. Sein Wiedereintritt in den Dienst der Reichsmessestadt Leipzig erfolgt am 1. Januar 1939 im Kinderkrankenhaus als Ausbildungsassistenzarzt. Vorher war Dr. Schwahn vom 1. April 1937 bis zum 30. September 1937 als Ausbildungsassistent und Abteilungsarzt der Kinderabteilung an der Leipziger Heilstätte bei Adorf i.V. tätig gewesen.[98]

 

In seiner Personalakte ist ein Schriftwechsel enthalten, in welchem Dr. Schwahn Beschwerde gegen Prof. Catel bzw. sein Verhalten ihm gegenüber führt. Catel wirft ihm vor, nicht mit ihm zusammenarbeiten zu wollen und sich nicht genug aufzuopfern in Zeiten des Krieges. Schwahn fühlt sich von Catels Behandlung verletzt:

 

„Ich möchte aber noch etwas näher auf die tieferen Gründe dieses Angriffes auf meine Person eingehen: ... es war von seiten des Herrn Prof. Catel nie Anlaß zur Klage, bis zu dem Zeitpunkt, als ich die medizinische Station 2 übernahm. Diese Station wird von   Oberschwester Isolde[99] geleitet. Es ist eine im ganzen Krankenhaus bekannte Tatsache, daß Oberschwester Isolde mit Herrn Prof. Catel auf Grund früherer Stationszusammenarbeit auch jetzt noch viel zusammen ist und daß bei diesen Zusammenkünften von der betreffenden Schwester Herrn Prof. Catel alles hinterbracht wird, was auch nur im entferntesten von Wichtigkeit sein könnte.“[100]

 

In einem Schreiben Prof. Catels vom 7. Juli 1941 an den Herrn Dezernenten des Personalamtes über die Verwaltung des Stadtkinderkrankenhauses bittet er den Dezernenten des Personalamtes, das Dienstverhältnis mit Dr. Schwahn möglichst mit sofortiger Wirkung aufzukündigen: „Herr Dr. Schwahn ist mit einigen Unterbrechungen seit dem Jahre 1935 als Assistenzarzt im Stadtkinderkrankenhaus Leipzig und der damit verbundenen Universitäts-Kinderklinik tätig. Ich habe ihn während dieser Zeit sowohl beruflich als auch außerberuflich in jeder Weise unterstützt und gefördert. Durch Teilnahme an bestimmten, mir von der Kanzlei des Führers übertragenen Aufgaben habe ich ihm sogar mein besonderes Vertrauen ausgesprochen.“[101] Damit gehört Schwahn offenbar zum Kreis derjenigen, die in das „Euthanasieprogramm“ einbezogen sind.

 

Weitere Hinweise auf Mitwisser finden sich im Bestand NS 51/227 des Bundesarchivs. In dieser Akte sind „Sonderzuwendungen“ verzeichnet, die an verdienstvolle Ärzte, Pflegepersonen oder Verwaltungspersonal vom „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ gezahlt wurden. Darunter befinden sich auch Zuwendungen, die von 1941 bis 1944 für Leipziger Mitarbeiter beantragt und ausgezahlt worden sind. Die entsprechenden Schreiben an die Leiter der „Kinderfachabteilungen“, welche die beantragten Zuwendungen bestätigen, leiten stets mit „Sehr geehrter“ ein, während Catel immer mit „Lieber Herr Professor“ angesprochen wird.[102] Andererseits schreibt auch Catel in seinen Briefen nach Berlin: „Lieber Herr von Hegener“.[103] Das deutet auf ein besonders herzliches Verhältnis zwischen Catel und dem die Schreiben unterzeichnenden von Hegener aus der mit der Euthanasie beauftragten Kanzlei des Führers hin. Im folgenden wird ein Teil des Briefwechsels zitiert, der mehrere Personen der Mitwisserschaft und aktiven Beihilfe überführt. Zunächst die Empfehlungen Catels für die Vergabe von „Sonderzuwendungen“ für das vergangene Jahr 1943 in einem Schreiben vom 23. November 1943:

 

„An den

Reichsausschuß zur wissenschaftlichen

Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden

Berlin – W 9

Postschließfach 101

 

Betr.: Sonderzuwendung zum Jahresabschluß

Ich möchte für die von Ihnen geplante weihnachtliche Sonderzuwendung in erster Linie Herrn Dr. Hempel und meine Sekretärin, Fräulein Grohme, in Vorschlag bringen. Ersterer hilft mir entscheidend bei der Untersuchung der zur Aufnahme eingewiesenen Kinder und erfüllt diese zusätzliche Aufgabe stets mit größter Pflichttreue.

Fräulein Grohme hat den gesamten Aktenverkehr, der von Monat zu Monat angestiegen ist, sowie die gesamte Korrespondenz mit den Gesundheitsämtern in ihrer Hand. Auch sie führt diesen zusätzlichen besonderen Auftrag mit größter Sorgfalt und Pflichttreue durch.

An 2. Stelle möchte ich die beiden Stationsschwestern benennen, in deren Hand, wie schon in den früheren Jahren, die Durchführung der Euthanasie liegt. Sie erhalten zwar vom Reichsausschuß schon eine monatliche Entschädigung, doch glaube ich, die beiden Schwestern (Oberschwester Irmgard Mädler und Oberschwester Isolde Heinzel) trotzdem in Vorschlag bringen zu können.

3. Schwester Ursula Lenke, die den größten Teil der Kinder pflegerisch betreut.

Heil Hitler!

(Unterschrift) Catel“[104]

Folgend ein weiteres Empfehlungsschreiben Catels für das vergangene Jahr 1944 vom 27. November 1944:

 

„An den

Reichsausschuß zur wissenschaftlichen

Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden

Berlin – W 9

Postschließfach 101

 

Lieber Herr v. Hegener!

Ich erhalte soeben Ihre Anfrage wegen der Sonderzuwendung zum Jahresabschluß. Für meine Leute freue ich mich sehr, daß dieselbe auch in diesem Jahre geplant ist.

Ich bringe in Vorschlag:

 

1. Dr. Hartenstein (der an Stelle des eingezogenen Dr. Hempel die ärztlichen Aufgaben auf der Kinderstation des Reichsausschusses versieht)

2. Oberschwester Isolde Heinzel

3. Schwester Ursula Lenke,

(meine Sekretärin Fräulein Grohme).

 

Mit den besten Grüßen

Heil Hitler!

Ihr

(Unterschrift) Catel“[105]

 

Nach Eingang des Zuwendungsbescheides aus Berlin bedankt sich Prof. Catel am 18. Dezember 1944 beim Reichsausschuß mit folgenden Worten:

 

„An den

Reichsausschuß zur wissenschaftlichen

Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden

Berlin – W 9

Postschließfach 101

 

Lieber Herr v. Hegener!

Ich erhalte eben Ihren Brief mit der Mitteilung über die Zuwendung zum Jahresabschluß 1944. Ich möchte nicht verfehlen, Ihnen im Namen der Empfänger den herzlichsten Dank auszusprechen. Es ist für uns alle selbstverständlich, auch im kommenden Jahr im alten Geiste weiterzuarbeiten.

Ich verbinde hiermit herzliche Wünsche für Sie für die Weihnachtstage und das kommende Jahr und hoffe, daß wir uns bald einmal gesund wiedersehen werden.

 

Mit den besten Grüßen

Heil Hitler!

Ihr

(Unterschrift) Catel“[106]

Einer der in Catels Zuwendungsempfehlungen genannten Mitarbeiter war Hans Christoph Hempel. In den Jahren 1943-1944 war er ein wichtiger Mitarbeiter Catels im Zusammenhang mit der „Kindereuthanasie“ gewesen. Seine Dissertation – „Ein Beitrag zur Huntingtonschen Erkrankung“, Leipzig 1938 – war unter dem damals die Krankenmorde schon vorbereitenden Hans Heinze in der Brandenburgischen Landesanstalt Potsdam erarbeitet worden, in Verbindung mit dem „Amt für Bevölkerungs- und Rassenpolitik der NSDAP, Gau Kurmark“. Hempel beforschte in Leipzig unter Anleitung Catels die Spaltbildungen des Rückenmarkkanals (spina bifida); bei diesen Forschungen gewann er Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen getötet und unter welchen Voraussetzungen derart geschädigte Kinder operiert werden sollten. Er veröffentlichte diese Selektionsanleitungen in kaum verhüllter Form 1942 in der Monatsschrift für Kinderheilkunde und schrieb am Schluss: „a) Dauerheilungen zeigen nur die operierten Meningocelen. Alle übrigen Formen sind mitunter lokal befriedigend versorgt, doch entstehen stets klinische Folgeerscheinungen der Spina bifida, die die normale Entwicklung und Leistungsfähigkeit wesentlich einschränken. b) Deswegen werden operative Maßnahmen bei Meningocelen etwa im zweiten Lebensjahr gefordert. c) Myelomeningocelen und Myelocystocelen sind konservativ zu versorgen und ihre Träger außerhalb der Familien in pädiatrischen Beobachtungsstationen unterzubringen.“ Diese „pädiatrischen Beobachtungsstationen“ waren nichts anderes als die „Kinderfachabteilungen des Reichsausschusses.“

 

Hempel habilitierte sich 1960 an der Karl-Marx-Universität in Leipzig.[107]

 

Eine weitere, nichtärztliche Mitarbeiterin, „in deren Händen die Durchführung der Euthanasie liegt“, ist die Oberschwester Helene Irmgard Mädler.[108] Sie wurde am 2. Juli 1904 in Plauen geboren und trat am 1. April 1928 im Kinderkrankenhaus in den Dienst der Reichsmessestadt Leipzig als Lernschwester ein. Sie absolvierte dort erfolgreich ihre Ausbildung und arbeitete gemäß eines Privatdienstvertrages mit der Stadt Leipzig seit 1. April 1930 als Säuglingsschwester.[109] Ein wichtiger Hinweis zu ihrer Mittäterschaft im Rahmen der Euthanasie findet sich in einem Schreiben der Verwaltung des Stadtkinderkrankenhauses an das Personalamt der Stadt vom 29. September 1942. Darin wird auch ein anderer als der von Prof. Benzenhöfer festgestellte Zeitpunkt der Einrichtung der „Kinderfachabteilung“ an der Leipziger Universitätskinderklinik genannt. In diesem Schreiben heißt es:

 

„Die Beobachtungsstation zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden ist am 23. 4. 1942 in Betrieb genommen worden.

 

Die erforderliche Personalvermehrung wurde vom Personalamt am 3. 11. 41 genehmigt.

 

Diese neu eröffnete Station wird von der Schwester

 

                   Irmgard Mädler

                   geb. 2. 7. 1904 in Plauen

 

geleitet. Schwester Mädler befindet sich bereits seit 1. 4. 1928 in den Diensten des Stadtkinderkrankenhauses. Sie hat sich als eine tüchtige, gewissenhafte und pflichttreue Schwester erwiesen. In nimmermüder Einsatzbereitschaft hat sie ihre Dienstobliegenheiten stets zur vollsten Zufriedenheit erledigt. Ihre Führung, charakterliche Haltung sowie das kameradschaftliche Verhalten waren jederzeit einwandfrei und ohne Tadel.

 

Schwester Mädler vereint in sich alle die beruflichen und charakterlichen Qualitäten, die die Voraussetzung für die erfolgreiche Leitung eines Stationsbetriebes sind. Die erforderliche Probezeit von 6 Monaten hat sie mit vollem Erfolge bestanden.

 

Ich bitte, Schwester Irmgard Mädler ab 1. November 1942 zur Stationsschwester zu ernennen.

                                                                  Im Auftrage

 

                                                                  (Unterschrift) Schwenke, O.-I. (Oberinspektor)“[110]

 

In seiner Antwort vom 29. Oktober 1942 verfügt der Leiter des Personalamtes, Dr. Lisso, „der Schwester Mädler unterm 1. 11. 1942 die Stelle einer Stationsoberschwester zu übertragen.“[111] Unmittelbar nach dieser Verfügung ersucht die Stadt bei der Kreisleitung Leipzig der NSDAP um eine „politische Auskunft.“ Darin wird für Irmgard Mädler bestätigt, dass „für den angefragten Zweck in politischer Hinsicht keine Bedenken bestehen.“[112]

 

Oberschwester Irmgard Mädler stirbt am 4. Dezember 1943 bei dem „erfolgten Terrorangriff in Ausübung ihres Dienstes.“ Sie wurde im Luftschutzkeller verschüttet.[113]

4.5 Die Sicht eines Zeitzeugen – Prof. Erich Häßler

Der am 22. April 1899 in Leipzig geborene Fritz Otto Erich Häßler war Professor für Kinderheilkunde und seit den zwanziger Jahren bis zu seiner fristlosen Entlassung am 5. November 1945 an der Leipziger Kinderklinik tätig.[114] Er arbeitet in diesen Jahren an der Seite von Prof. Julius Eduard Werner Catel, dessen Name eng mit der Kindereuthanasie verbunden ist. Der folgende Abriss ist Ergebnis eines neunzigminütigen Interviews mit Prof. Häßler vom 10. November 2000.

 

„Bisher haben viele über die Euthanasie geschrieben, aber alle falsch. Mit mir will ja keiner sprechen, weil sie alle die Wahrheit nicht wissen wollen. Nur ich weiß, wie es damals war, ich bin als einziger noch am Leben. Es ist eine sehr lange Geschichte.

 

Der Chef der Leipziger Kinderklinik - Prof. Bessau - war 1922 auf den Lehrstuhl für Kinderheilkunde nach Berlin berufen worden. Ich war seit 1923 an der Leipziger Kinderklinik als sogenannter Medizinalpraktikant, was heute Arzt im Pflichtjahr ist. Ich war bestraft worden vom Ministerium, weil ich zu zeitig Staatsexamen gemacht hatte. Deshalb musste ich statt einem Jahr anderthalb Jahre Medizinalpraktikant sein, was mir aber sehr zugute kam, so dass ich erst famuliert habe und dann als Medizinalpraktikant an der Leipziger Kinderklinik neun Monate war. Da geht meine ärztliche Tätigkeit sozusagen los. Damals war die Poliklinik so, dass die Stationsärzte stundenweise Poliklinik machen mussten. Also meinetwegen Catel Dienstag und Donnerstag, Fernbach die anderen Tage, jeder musste zweimal in der Woche neben seiner Stationsarbeit zwei Stunden Poliklinik machen. Das war so übernommen von dem Vorgänger. An der Klinik war ein einziger Oberarzt. Nach meiner Medizinalpraktikantenzeit, also halb 1925 und halb 1926, ich hatte inzwischen schon promoviert, da habe ich Bessau gefragt, ob ich bei ihm auch eine Assistentenstelle kriegen kann. Da hat er gesagt, ja, wenn mal eine frei ist. Ich hatte das Glück, dass ich an der Dresdner Kinderheilstätte eine Hilfsassistentenstelle kriegte. Halb 1925 und halb 1926 war ich also in Dresden. Zum 1. Januar 1927 kriegte ich dann von Bessau einen Brief, jetzt wäre eine Volontärstelle frei und wenn ich wollte könnte ich nach Leipzig zurückkommen (ab 1. 10. 27 als Ausbildungsassistent im Kinderkrankenhaus[115]). In der Zeit war aber in Leipzig an der Klinik eine große Umstellung erfolgt. Der alte Oberarzt Prof. Amandus Frank war freiwillig ausgeschieden, er hatte sich mit Bessau nicht ganz so gut verstehen können. Er hatte sich in Mannheim niedergelassen, in seiner Heimat. Nun hatte Bessau die Poliklinik selbständig gemacht und hatte zwei Oberärzte ernannt, das eine war der Jude Rosenbaum und das andere war Catel (ab 1. 10. 27 Oberarzt[116]). Der erste Oberarzt war Rosenbaum, der zweite Oberarzt war Catel. Rosenbaum kriegte die Leitung der Poliklinik, hatte aber außer einer Schwester keine Mitarbeiter und keine Räume. Die Poliklinik war also selbständig geworden. Es gab damals solche Ausbildungsstellen, die wurden befristet auf vier Jahre eingestellt und konnten ihren Facharzt machen und dann hörte die Stelle auf. Während dieser Zeit mussten sie eine gewisse Zeit also so ein Jahr auch an der Poliklinik arbeiten. Rosenbaum hatte zwei Mitarbeiter die eigentlich Assistenten der Klinik waren aber für ein Jahr lang an die Poliklinik abgestellt wurden. Catel war Oberarzt für die Klinik, der mal Visite machte, wenn der Chef nicht da war, aber der erste Oberarzt und Vertreter des Chefs war Rosenbaum. Rosenbaum war überzeugter Jude aber auch ein guter Deutscher, das geht daraus hervor, dass er im ersten Weltkrieg das eiserne Kreuz erster Klasse bekommen hatte. Ich war also im Januar 1927 wieder nach Leipzig gekommen, kriegte erst eine Scharlachstation, dann war ich der einzige Verantwortliche für die Poliomyelitisepidemie die da ausbrach, das ist alles schriftlich fixiert, war dann eine Zeit lang also 1927, 1928, 1929 war ich auf Infektionsstation, dann auf der inneren Station und 1930 oder 1931 machte mich dann Bessau zum Stationsarzt seiner Privatstation. Die anderen Stationen waren Säle, die Privatstation waren Einzelzimmer. Praktisch war ich Stationsarzt wie auf jeder anderen. Alle Untersuchungen durfte ich machen und der einzige Unterschied war, dass Bessau auf seiner Privatstation jeden Tag Visite machte. Aber in der Regel erst nach 19 Uhr, am Tag war er beschäftigt und es schwankte natürlich aber es war selbstverständlich, dass da der Stationsarzt und die Stationsschwester noch anwesend waren. Also ich musste warten, konnte um sieben nicht nach Hause, bis der Bessau Visite gemacht hatte. Ich war unverheiratet. Ich hatte keine andern großen Interessen, also ich war beinahe in der Klinik zu Hause. D.h. gewohnt habe ich bei meiner Mutter, aber das spielt keine Rolle. Catel war erst Stationsarzt auf einer Säuglingsstation, die hatte er noch weitergeführt neben seinem Oberarztamt und Rosenbaum war also Leiter der Poliklinik. Und 1932, das Datum ist wichtig, bat Rosenbaum von der Leitung der Poliklinik befreit zu werden, weil er mehr Zeit für wissenschaftliche Arbeiten haben wollte. Und es wurde ihm entsprochen. Und wer wurde der Leiter der Poliklinik? Ich, 1932! Das habe ich gehabt bis 1945, bis Leipzig besetzt wurde. Die Leipziger Klinik war teilweise städtisches Kinderkrankenhaus und teilweise staatliche Universitätsklinik. Es gab also staatliche Stellen und städtische Stellen und ich hatte eine städtische Stelle. Ich war also städtischer Angestellter, da ich aber nun Leiter der Poliklinik über Jahre war, wurde ich vom damaligen Oberbürgermeister, Dr. Goerdeler, nach Beschluß der Stadtverordnetenversammlung als Stadtmedizinalrat zum städtischen Beamten ernannt. Ich war dann in der Catel-Zeit Stadtmedizinalrat und städtischer Beamter. Jetzt ging das Jahr 1932 zu Ende und Bessau hatte sein Lebensziel erreicht, er wollte nämlich Professor in Berlin sein. Das hatte er erreicht, er wurde also zum Wintersemester 1932/33 nach Berlin berufen, was seinem Streben entsprochen hatte. Und mit ihm gingen nun die ältesten Assistenten Prof. Catel, Dr. Schönfeld der Röntgenarzt und noch ein Dr. Harnapp nach Berlin. Also die drei hatte er zunächst mitgenommen und zu mir hatte er gesagt, wenn sie wollen und es ist eine Stelle frei, können sie auch mal nachkommen. Aber ich hatte ja gar kein Interesse daran. Aber was wurde nun mit der Leipziger Klinik? Da wurde kommissarischer Leiter der erste Oberarzt, der Jude Prof. Rosenbaum. Also zu Beginn des Wintersemesters 1932/33. Und ich blieb natürlich weiter Leiter der Poliklinik. Aber da nun viele wegwaren musste ich noch allerhand Funktionen übernehmen. Ich musste das Röntgen übernehmen, dann weiter die praktischen Übungen der Studenten übernehmen, ich war also schon an der Ausbildung der Studenten beteiligt und war außerdem noch Personalarzt. Also ich war weitgehend an der Klinik integriert, schon. Dadurch, das so viele nach Berlin gegangen waren und andere hatten sich noch niedergelassen, waren eine ganze Reihe Stellen freigeworden. Und damals war es so, dass die Kinderklinik sehr beliebt war, 1933 war jeder zweite Kinderarzt ein Jude. Und alle die strebten, wollten Kinderärzte werden. Und so waren damals an der Kinderklinik unbezahlte Volontäre, das konnten sich aber nur Juden leisten, das waren die einzigen die damals Geld hatten. Und nun waren die Stellen freigeworden und was machte Rosenbaum, er besetzte alle freien Stellen mit den schon vorhandenen Juden, das ist naheliegend. Aber, jetzt waren praktisch alle Stationsärzte Juden und die Klinik galt in Leipzig als die „Judenklinik“. Nun kam aber Hitler, also der Umbruch Januar 1933. Nach etwa zwei oder drei Wochen erschien eine Kommission, eine befugte Kommission von der Stadt und forderte Rosenbaum auf, die Leitung der Klinik niederzulegen. Er konnte bleiben, sollte aber als Jude die Leitung der Klinik niederlegen. Was machte nun Rosenbaum? Er ruft mich und sagt: „Hiermit übergebe ich Ihnen die Klinik, sehen Sie, wie Sie fertigwerden.“ Jetzt war ich noch Leiter der Klinik, aber von Rosenbaums Gnaden. Aber die Leipziger Klinik hatte über 200 Betten. Was passierte nun am anderen Morgen? Alle Juden kamen und sagten, wenn Rosenbaum geht, wollen wir nun auch gehen. Und ich musste ja an ihr ärztliches Gewissen appellieren, denn ich kann ja nicht die Poliklinik und noch 200 Kinder versorgen, denn sonst waren nur noch ganz junge Ärzte, meist Damen da. Sie ließen sich überreden mir zuliebe, Sie sehen also, dass ich nicht verhasst war bei ihnen, vorläufig zu bleiben. Am anderen Tag wurde ich dann aufs Dekanat bestellt, da sagte mir der Dekan: „Damit Sie eine juristische Grundlage haben, ernennen wir Sie zum provisorischen Leiter der Klinik.“ Da kriegte ich nun von der Fakultät den Auftrag die provisorische Leitung neben der Poliklinik mitzumachen. Aber nun ging das los, ich musste Staatsexamen abnehmen, ich musste Hebammen prüfen und alles in der Klinik und Poliklinik machen. Und war noch nicht habilitiert. Und nun war die Sache so, Rosenbaum war zwar der Leiter gewesen, aber der juristische Vertreter bei der Fakultät nicht. Er war kein Fakultätsmitglied, das war der Internist Morawitz. Aber Morawitz war in der Zeit, in der kritischen Zeit, auf einer Reise in Ägypten. Nach ungefähr ein oder zwei Wochen kam er von seiner Reise zurück und das erste, was er machte, dass er sich mit mir in Verbindung setzte und sagte: „Herr Häßler, wie können Sie denn das überhaupt schaffen?“ Da habe ich gesagt: „Schlecht, aber wenn ich nachher auch noch die Hauptvorlesung halten soll, dann bin ich restlos überfordert.“ Da sagt er: „Was machen wir denn?“ Nun, ich sage: „Das einfachste ist doch, wir rufen Catel zurück, der Oberarzt war und der die Verhältnisse kennt.“ Da hat dann die Fakultät beim Ministerium den Antrag gestellt, dass Catel zum kommissarischen Leiter der Klinik bestellt wird. Nun, nach einigen weiteren Tagen wurde ich wieder zu Morawitz bestellt, der sagte mir: „Das Ministerium ist einverstanden, dass Catel kommissarischer Leiter der Klinik wird, für die Dauerbesetzung kommt er nicht in Frage!“ Das ist ganz wichtig. Warum nicht? Weil er kein Parteimitglied war. Damals musste doch, wer eine leitende Stelle wollte, Parteimitglied sein. Also völlig unpolitisch ist er, also in Leipzig wurde geforscht, die Klinik war vollständig unpolitisch gewesen und Catel auch. Nun wurde ihm gesagt, du hast nur die kommissarische Leitung. Aber während dem ganzen Wintersemester war überhaupt kein Name genannt worden, wer mal Chef wirklich werden sollte. Das Wintersemester war vergangen, ohne dass überhaupt ein Name oder eine Idee kam, wer nun wirklich endgültiger Leiter werden sollte. Es ist doch psychologisch verständlich, dass nun Catel alles darangesetzt hat, endgültig die Leitung zu bekommen. Und was war dazu notwendig? Dass er Parteimitglied wurde und sich bei der Partei anbiederte! Psychologisch verständlich. Ob er nun schon zu den „Märzgefallenen“ gehörte, weiß ich nicht. Ab Januar hatte Hitler die Macht übernommen und im März war ein großer Zustrom zur Partei, die nannten wir die Märzgefallenen. Ob er dazugehört hat, weiß ich nicht, jedenfalls ist er Parteimitglied geworden und hat dann auch in Büchern und so weiter eben nationalsozialistische Ideen vertreten. Das liegt doch nahe. Als er gekommen war hatte Bessau gesagt: „Wenn Catel nach Leipzig geht, muss der Häßler für ihn nach Berlin kommen.“ Aber Catel hatte gesagt: „Na, ohne Häßler kann ich doch auch nichts machen!“ Da musste dann die einzige ältere Kollegin, Jung, für Catel nach Berlin. Da kein Facharzt weiter an der Klinik war, die Juden waren weg, es waren nur solche ganz jungen Assistenten kurz nach dem Staatsexamen da, sehr tüchtige, sehr fähige aber eben im Beginn der Ausbildung. Und so wurde ich sozusagen ehrenhalber Oberarzt der Klinik neben meiner Leitung der Poliklinik und gleichzeitig Vertreter des Chefs bei Abwesenheit. Er (Catel, d. Verf.) wurde dann Chef und es ging hin bis zum Jahre 1939. Bis zum Jahre 1939 war überhaupt das Wort „Euthanasie“ nicht gefallen. 1939 ereignete sich das nun mit dem Kind „Knauer“. Worin bestand nun die Schädigung? Das ist aber entscheidend, das ist der entscheidende Punkt. Das Kind wurde am 20. Februar 1939 in Pomßen geboren. Das war eine Hausentbindung. Die Eltern hatten sich auf ein Kind gefreut, die Geburt geht los, das Kind wird ausgestoßen und die Hebamme schreit: „Um Gottes Willen, das hat ja keine Arme und Beine! Nur Rumpf und Kopf!“ Und da sagt die Mutter: „Um Gottes Willen, das kann ich nicht sehen!“ Und was macht nun der Vater mit der Hebamme? Sie fahren nach Leipzig und geben das Kind in der Kinderklinik ab. Nun war es in der Kinderklinik. Und sie haben gesagt: „Wir nehmen es auf keinen Fall wieder zurück!“ Was macht nun der Chef, was macht nun der Chef mit dem Kind? Da braucht man nichts zu untersuchen, es hat doch keine Arme und keine Beine. Was soll man da untersuchen? Was macht er nun mit dem? Er kann`s doch nicht in der Klinik großziehen. Das kann er doch nicht. Er kann doch nicht ein Kind ... mit einem Kind ein Klinikbett lebenslang belegen. Also er hat die Eltern bestellt und hat sie überredet, dass sie an Hitler schreiben, dass er die Genehmigung zum Gnadentod gibt. Und das haben sie dann auch gemacht. Aber Hitler war bis dahin gegen „Euthanasie“, nun kriegte er den Brief, er sollte die Genehmigung geben, dass das gliederlose Kind, Rumpf bloß und Kopf, den Gnadentod empfängt. Was macht nun Hitler? Der schickt Karl Brandt nach Leipzig. Ja, wohin, an die, nun wo das Kind ist, in die Kinderklinik. Aber nun kommt Herr Brandt unangemeldet. Er kommt in die Kinderklinik unangemeldet. Und was verlangt nun Brandt? Wenn der Chef nicht da ist, will er den Stellvertreter sprechen. Und wer war der Stellvertreter? Ich. Also ich habe überhaupt noch nicht gewusst, ich war ja Poliklinik, dass das Kind da ist, hatte es überhaupt bis dahin nicht gesehen und nun war der Stationsarzt mit anwesend und berichtete nun den ganzen Vorgang. Wissen Sie noch wie der Stationsarzt hieß? Das weiß ich nicht. Also nun die Untersuchung dauerte fünf Minuten, was ist da zu untersuchen, ein Rumpf und Kopf und keine Gliedmaßen. Und was macht nun Brandt? Er verabschiedet sich nach fünf Minuten und sagt zu mir: „Sagen Sie Herrn Catel, was er auch macht, es wird keine gerichtliche Verfolgung geben.“ Das heißt also: er hat ihm erlaubt die „Euthanasie“, aber nicht befohlen. Er hat keinen Befehl gegeben, das Kind wird umgebracht, sondern hat den Schwarzen Peter Catel zurückgegeben. Im Mai ist Brandt in die Klinik gekommen und im gleichen Monat ist es dann gestorben. Nun geht die Sache aber weiter. Hitler und Brandt haben gesagt, in ganz Deutschland ist es nicht der einzige Fall, dass schwer missbildete Kinder sind. Brandt kann nicht in ganz Deutschland zu jedem Kind fahren, also wurde nun eine Kommission gegründet, im Auftrag von Hitler oder Brandt. Und diese Kommission wurde offiziell eingesetzt. Und wer irgendwie in die Verlegenheit oder Not kam, einem Kind den Gnadentod zu geben, musste dorthin die Akten schreiben, wo das Kind genau beschrieben wurde. Und die Akten mussten die bearbeiten. Und in dieser Kommission war unter anderem auch, weil er nun bekannt war, Catel. Und was ihm nun mit Recht vorgeworfen wird, dass die Kommission nur nach Akten gearbeitet hat. Wenn ein Richter einen Angeklagten zum Tode verurteilen will, dann muss er doch wenigstens den selber ansehen. Also, dass hier nur nach Akten gearbeitet wird, das wird ihm nun mit Recht vorgeworfen. Also in dieser Kommission war auch Catel. Aber die ganze Aktion sollte auf Wunsch von Hitler geheime Reichssache bleiben. Sie waren also zum Stillschweigen verpflichtet, so dass Catel nicht ein einziges Wort mit mir darüber gesprochen hat. Er war verpflichtet und ich hatte ja auch gar keinen Grund. Aber ich war ja sein Vertreter und 1943 wollte er ja auch mal Urlaub machen und da hatte er mir gesagt: „Wenn Akten aus Berlin kommen, die lassen Sie ungeöffnet. Ich wünsche nicht, dass Sie die aufmachen.“ Ich habe also nie eine solche Akte aufgemacht oder gesehen, worüber ich natürlich nicht böse bin. Das sage ich Ihnen ganz ehrlich. Und nun, was ging 1939 los, der Krieg. Und im Krieg kommt nun noch allerhand Erschwernis hinzu, so dass dann die Indikation vielleicht allmählich etwas erweitert worden ist. Ich wollte Sie noch fragen, wie ist denn das Kind dann gestorben? Das weiß ich nicht. Hat er das eingeschläfert, oder was? Wahrscheinlich mit Luminal.[117] Aber, ist nur ´ne Vermutung, ich weiß es nicht. Ich habe es nie, nur das eine Mal gesehen, wo ich gerufen worden bin. Weder vorher, noch nachher. Ich war nur als Vertreter dort gewesen, weil Catel nicht anwesend war.“[118]

 

Zwischendurch verweist Prof. Häßler immer wieder auf eine in verschiedenen Ausgaben des Thüringer Ärzteblattes während des Jahrgangs 2000 geführte Diskussion, die sich mit Prof. Jussuf Ibrahim, dem ehemaligen Leiter der Jenaer Kinderklinik, seinen Mitarbeitern und deren Verwicklungen in die nationalsozialistische Euthanasiepraxis beschäftigte.

 

 

 

An dieser Debatte beteiligten sich verschiedene Ärzte mit Beiträgen, so auch Prof. Häßler, der selbst in Jena tätig war, in einem Brief an den Präsidenten der Thüringer Ärztekammer, Herrn Prof. Beleites:

 

„Sehr geehrter Herr Präsident,

Ihren Beitrag im Thüringer Ärzteblatt habe ich mit Interesse gelesen. Es ist eines Rechtsstaates wirklich unwürdig, dass offiziell eine Vorverurteilung erfolgen kann, ehe eine Gerichtsverhandlung stattgefunden hat und ein Urteil gesprochen wurde.

Aber zu einer Frage haben auch Sie nicht Stellung genommen. Was hätte Herr Professor Ibrahim mit den von den Eltern ungeliebten und mit schweren Intelligenzdefekten in den schweren Kriegsjahren, es handelt sich fast ausschließlich um die Jahre 1943/44, eigentlich anfangen sollen? Er konnte doch die Kinder, die reine und schwere Pflegefälle waren, nicht auf die Dauer in seinem Hause behalten und Klinikbetten damit belegen? Oder sollte er die Kinder den Eltern, die sie nicht abholten, vor die Tür legen lassen? Dies wird in allen Beiträgen überhaupt nicht berücksichtigt und diskutiert!

Ich selbst fand nach dem schweren Bombenangriff auf Leipzig im Dezember 1943, nachdem ich meine Frau und die 5 kleinen Kinder aus dem brennenden Wohnhaus geführt hatte, die brennende Leipziger Kinderklinik vor. Die Holzbaracke war völlig niedergebrannt, und alle 25 Kinder und die beiden Schwestern waren mitverbrannt! Dies erwähne ich nur, um die Situation in den Kriegsjahren 1943/44 zu schildern, was von keiner Seite berücksichtigt wurde.

Auf die aufgeworfenen Fragen habe ich auch keine Antwort!

 

Mit besten Grüßen

Prof. Dr. med. Erich Häßler“[119]

 

Ohne an dieser Stelle eine weitere Diskussion beginnen zu wollen, fällt doch auf, dass sich die Aussagen zu den getöteten Kindern sowohl aus dem Interview als auch aus dem Leserbrief im Thüringer Ärzteblatt gleichen. Nachdem Herr Prof. Häßler diesen und verschiedene andere Aufsätze zitiert hatte bzw. mich zitieren ließ, fuhr er wie folgt, fort:

 

„Jetzt kommt was ganz entscheidendes, was wir noch besprechen müssen. Da sind hundert und tausend Kinder dem Bombenangriff in der Zeit zum Opfer gefallen. Was ist in Dresden alleine passiert? Mich würde noch interessieren, es wurden doch solche Kinderfachabteilungen eingerichtet. Kommt alles, kommt alles, kommt alles! Also nun passen Sie mal auf. Jetzt war dieser Bombenangriff 1943, die Klinik war zerstört. Es waren aber Ausweichstellen vorbereitet worden, dreie. Eine in Klinga, die zweite größere in Hochweitzschen und die dritte in der Theresienstrasse in Leipzig. Nun war ich also in der Nacht schon dorthin geeilt, was mir von den Schwestern sehr hoch anerkannt worden ist. Und Catel war dann, seine Wohnung war nicht zerstört. Und er war erst Mittag gekommen und hat dann aber sofort eingeleitet. Die Schwestern hatten die Kinder provisorisch – es war gezielt die Kinderklinik bombardiert worden, ringsum war alles heil – in den Familien in den umliegenden Häusern untergebracht. Nun wurden also alle die Kinder abtransportiert. Und zwar aus psychologischen Gründen, die Säuglinge nach Klinga, die älteren nach Hochweitzschen. Die Theresienstrasse wurde dann Aufnahmestation und Poliklinik. Schön. Und nun, Catel hatte eine Wohnung in Leipzig. Er übernahm Klinga. Und ich hatte keine Wohnung und übernahm Hochweitzschen. Ich wurde also Leiter der Ausweichstelle Hochweitzschen, wo alle Kinder jenseits des Säuglingsalters, nicht nur der Kinderklinik, sondern auch der Chirurgie usw. dorthinverlegt wurden. Natürlich waren nicht nur die Kinder sondern auch die entsprechenden Schwestern und auch einige Ärzte mit hinverlegt worden, die Kinder mussten ja dort versorgt werden. Und nun 1944 bis Mai 1945 hatte ich eine doppelte Funktion. Ich muss noch sagen, meine Familie war zunächst in einem Zimmer in Hochweitzschen untergebracht, aber durch Vermittlung einer Freundin hatten wir in dem Dorf Tragnitz, das liegt gleich neben Leisnig unten an der Mulde, im Pfarrhaus eine Notwohnung bekommen. Also meine Frau und die fünf Kinder wohnten dann in Tragnitz, das ist ungefähr sechs bis acht Kilometer von Hochweitzschen entfernt. Und während des ganzen Jahres 1944 war es nun so, dass ich in Leipzig in der Theresienstrasse nur mit einer Schwester ohne weitere Mitarbeiter eine kleine poliklinische Sprechstunde, es war nicht viel, gemacht habe. Und war dann mit da für die Kinder, die neu aufgenommen wurden von Montag bis Sonnabend. Sonnabend früh bin ich dann jede Woche mit den neuaufgenommenen Kindern und natürlich entsprechender Begleitung nach Hochweitzschen gefahren, hab dort Visite gemacht, hab mich mit den Kollegen besprochen und bin dann Sonntag zu meiner Familie nach Tragnitz gegangen. Und Montag früh bin ich wieder nach Leipzig zurückgefahren. Also das ging das ganze Jahr 1944. Nun ging aber der Krieg weiter und es drohte die Besetzung von Leipzig. Und am Tag ehe Leipzig besetzt wurde, bin ich dann endgültig nach Hochweitzschen gegangen, weil dort die Bedrohung, die Besetzung durch die Russen drohte und ich die Kinder, Schwestern und auch meine Familie nicht alleine lassen wollte. Ich bin noch bis Naunhof zu Fuß gegangen und bin dann mit dem letzten Zug nach Hochweitzschen gefahren. Dann war Schluss. Leipzig wurde besetzt, Hochweitzschen und die Gegend blieb noch ein paar Tage besatzungsfrei und dann kamen die Russen. Schwere Zeit. Können Sie mir glauben! Vergewaltigungen und so weiter. Ich hatte eine sehr intelligente Oberschwester, die bei mir da mit war, die war auf die Idee gekommen, die hatte an alle Häuser „Typhus“ geschrieben. Das hat der geglaubt, da kam kein Russe rein. Ich will nichts weiter schildern, was da alles passiert ist, jedenfalls war es dann so, dass dann die Mulde für lange Zeit absolute Grenze war und kein Kontakt mit Leipzig mehr möglich war. Dort war der Amerikaner. Die waren zunächst mal, einmal sogar bis Leisnig vorgerückt, bis Kloster Buch und dann hatten sie sich wieder bis über die Mulde zurückgezogen. Also die Freiberger Mulde war die politische Grenze, offiziell unpassierbar, wer wollte, musste eben durch die Mulde schwimmen. Nun brauchte ich ja einen Brötchengeber. Wir mussten doch leben. Und da haben wir beschlossen, wir unterstellen uns der neuen sächsischen Regierung in Dresden. Hochweitzschen war ja an und für sich eine staatliche Anstalt. Und wir unterstellten uns der Anstalt. Nach einer gewissen Zeit wurde nun, also ich bin nie in Klinga gewesen und Catel ist nie in Hochweitzschen gewesen, also praktisch seit 1943 waren wir getrennt, die Grenze wieder offen, die Kinder wurden zum Teil entlassen nach Leipzig und neue Kinder wurden nach Hochweitzschen gebracht und ich nahm aber nun aus der Umgebung Leisnig, Döbeln, Rosswein usw. auch kranke Kinder direkt auf. Und schließlich war es nun so, dass im Laufe des Jahres 1944 die Kinderklinik in Leipzig natürlich wieder aufgebaut wurde, so dass nun keine Leipziger Kinder mehr kamen. Aber ich hatte in Leipzig keine Wohnung. Ich habe aus der Ausweichstelle ein selbständiges Kinderkrankenhaus gemacht. Und das besteht heute noch, ist allerdings inzwischen nach Leisnig verlegt worden. Ich war nun Leiter eines Kinderkrankenhauses in Hochweitzschen und, ich kann das genaue Datum nicht sagen, Ende 1945 war die Leipziger Klinik soweit wiederhergestellt, dass dort wieder gearbeitet werden konnte. Und Catel war nun wieder Leiter der Klinik in Leipzig. Und nun kam, dass er sagte oder schrieb, ich sollte zu ihm kommen und da sagt er: „Herr Häßler, Sie können wieder in die Klinik arbeiten kommen, ziehen Sie doch wieder nach Leipzig.“ Da habe ich gesagt: „Nein, ich habe in Leipzig keine Wohnung, ich habe mir dort ´ne Existenz geschafft, mit Genehmigung der Leipziger Verwaltung der Kinderklinik, ich komme nicht wieder nach Leipzig.“ Daraufhin wurde er sehr böse und sagte: „Wenn Sie sich abnabeln wollen, nun da bleiben Sie.“ Und da sind wir, ich muss sagen, im Zorn auseinandergegangen. Ich hatte dort ein kleines lebensfähiges Krankenhaus, die Kosten trug der sächsische Staat. Die anderen Kliniken waren alle wieder nach Leipzig zurückgewandert. Alles war wieder aufgebaut. Und Catel war nun wieder Leiter der Klinik in Leipzig. Und nun muss ich Sie bitten, dass Sie einen kleinen Abschnitt lesen. Da muss ich vorausschicken. Ein mir sehr befreundeter Kollege, dessen Doktorvater ich auch bin, der war eingezogen gewesen im Krieg, hatte noch vorher kurz Staatsexamen machen können und wollte nun Kinderarzt werden und ging deshalb an die Leipziger Klinik, um eine Assistentenstelle zu bekommen. Und nun lesen Sie mal was er schreibt. Das ist hochinteressant.“[120]

 

Nun ließ mich Prof. Häßler aus der Autobiographie von Prof. Wilhelm Johannes Oehme lesen, der bei ihm promoviert hatte. Wieder in Leipzig fand ich Anschrift und Telefonnummer von Prof. Oehme, der heute in Wolfenbüttel lebt, heraus und rief ihn am 5. Januar 2001 an. Ich fragte ihn ganz konkret zur „Kindereuthanasie“ in Leipzig. Auf meine Frage, ob ich ihn denn mal besuchen dürfte, damit er mir die Umstände der damaligen Zeit schildern könnte, antwortet er, dass dies überhaupt nichts brächte, es gäbe nichts mehr zu sagen, als er mir eben am Telefon geschildert habe. Im folgenden seine Aussagen als Gedächtnisprotokoll:

 

„Wir waren Naivlinge, haben gar nichts gewusst. Als ich 1945 als Assistenzarzt anfing, wurde darüber nicht geredet. Der Hempel, der sogar mein Freund war, war vielleicht beteiligt, aber es wurde nie darüber geredet. In den Dreißiger Jahren war ich entweder Soldat oder Student und als Student durfte man gar nicht auf Station. Wir haben nichts mitbekommen. Als ich mein Buch schrieb, habe ich im Universitätsarchiv gesucht, um ein Zipfelchen zu finden. Da waren gewisse Sonderzuwendungen an Schwestern verzeichnet, wo ich annahm, dass sie für diese Sache gezahlt wurden. Den Zahn hat mir aber Prof. Häßler gezogen, denn die Zuwendungen waren offenbar für Überstunden, die die betreffenden Angestellten geleistet hatten, gezahlt worden. Da sehen Sie, dass nichts zu finden ist. Wer hat Ihnen denn dieses Thema gegeben, das ist eigentlich eine Frechheit, denn dazu ist nichts in den Akten zu finden.“[121]

 

Ich las also den folgenden Abschnitt, von dem Prof. Häßler meinte, dass er besonders wichtig wäre, aus Prof. Oehmes Autobiographie vor. Dort heißt es:

 

„Mit Entlassungsschein versehen, ging ich in die Universitäts-Kinderklinik, wo ich meinen Dienst am 27. Juni 1945 antrat. Die Station war reichlich mit Blumen geschmückt; doch diese galten (natürlich) nicht mir, sondern dem „Geburtstagskind“ Prof. Werner Catel: Catel war ein ausgezeichneter Lehrer und im Umgang verbindlich. Es ging das Gerücht um, daß eine Mutter, der er den Tod ihres Kindes mitteilen musste, strahlend sein Zimmer verlassen habe.“[122]

 

Nach Zitat dieses Abschnittes fuhr Prof. Häßler fort:

 

„Das genügt. Also, was geht daraus hervor? Dass die Euthanasie auf Wunsch oder zumindestens mit Duldung der Eltern erfolgte. Also die eigentlichen waren die Eltern, die das veranlasst haben.

 

Also das haben wir jetzt fertig, ich muss noch kurz weitererzählen. Ich war also Leiter des Krankenhauses innerhalb der Anstalt Hochweitzschen und nach vier Jahren, 1949, kriegte ich dann die Chemnitzer Kinderklinik, wurde ich Leiter der Chemnitzer Kinderklinik, auch vier Jahre. Und nach weiteren vier Jahren, 1953, wurde ich dann nach Jena berufen.

 

Catel war also wieder Chef in Leipzig, er wollte mich haben, ich wollte aber nicht. Das ist auch vielleicht zu verstehen. Und nun kommt noch etwas hinzu. Eine Stationsschwester, wahrscheinlich die von der Säuglingsstation, hatte sich in ihn verliebt. Und dann war es zu einem Verhältnis gekommen. Schließlich hat sie ihn überwunden. Er hat sich dann von seiner Frau scheiden lassen und hat die Stationsschwester geheiratet und ist dann, das genaue Datum weiß ich nicht, nach dem Westen abgehauen. Welche Gründe er letzten Endes gehabt hatte, weiß ich nicht. Er hat dann zunächst eine Tuberkuloseheilstätte geleitet. Und nach einer gewissen Zeit kriegte er dann den Lehrstuhl in Kiel. Und dann war aber einer der´s ihm missgönnt hat, der Degkwitz[123], der hat dann die ganze Euthanasie in Leipzig aufgerollt, so dass er vorzeitig in Kiel aussteigen musste.“[124]

 

Prof. Häßler ließ mich im folgenden noch weitere Beiträge vorlesen. Zum Schluss wiederholte er mir noch einmal verschiedene Kernaussagen aus unserem Gespräch und entließ mich dann aus dem Gespräch.

 

Catels damalige Oberärzte und (zumindest) Mitwisser Siegfried Liebe, Erich Häßler und Hartmut Dost prägten nach 1945 nachhaltig die Kinderheilkunde der DDR als Chefärzte in Leipzig, Jena und Berlin – ihnen ist es wohl auch zu verdanken, dass Catels Lehrbuch der Kinderkrankenpflege 1956 als Lizenzausgabe beim VEB Georg Thieme Verlag in Leipzig erschien.[125]

4.6 Die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Leipzig-Dösen

Eine unübersehbare Spur mit Hinweisen auf Eugenik und Euthanasie weist die Entwicklung der Sächsischen Landesanstalt Leipzig-Dösen auf.

 

Aus Kapazitätsgründen wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Leipzig die Errichtung einer neuen Anstalt für Geisteskranke erforderlich. Im Jahre 1899 begann man deshalb mit dem Bau der Heil– und Pflegeanstalt Leipzig Dösen. Die Kapazität war für 1.000 Patienten ausgelegt, die Wirtschaftseinrichtungen sogar für 1.600 Personen.[126] Im Jahre 1901 begann der reguläre Anstaltsbetrieb. War die Stadt Leipzig zunächst Bauherr und Träger der Anstalt, änderte sich dies im Jahre 1913 mit der Übernahme der Trägerschaft durch den sächsischen Staat. Dösen wurde Sächsische Landesanstalt.[127]

 

Nach Inkrafttreten des GzVeN im Jahre 1934 wurden auch für die Dösener Patienten Anträge auf Unfruchtbarmachung gestellt. Bis zum Ende des genannten Jahres stellten die Dösener Psychiater für 204 Patienten die entsprechenden Anträge.[128] Die Patienten mussten zur Durchführung des chirurgischen Eingriffs in die Universitätsfrauenklinik bzw. in das Städtische Krankenhaus St. Jakob gebracht werden. Aufgrund vielfältiger organisatorischer Probleme fand diese Regelung nur wenig Zustimmung. Deshalb genehmigte das Sächsische Ministerium des Innern die Einrichtung eines Operationssaales, der im Mai 1935 seine Arbeit aufnahm. Fortan wurden die meisten Dösener Patienten in der Anstalt unfruchtbar gemacht und nur wenn Komplikationen zu erwarten waren erfolgte der Eingriff in anderen Einrichtungen.[129] Zwischen 1934 und 1940 wurden insgesamt 583 Dösener Patienten sterilisiert.[130]

 

Am 10. Juli 1937 begann die in Dösen eingerichtete erbbiologische Abteilung zu arbeiten. Ziel dieser Einrichtung war es, Verwandte und Nachkommen von möglichst vielen Kranken zu erfassen, um deren „Erbqualität“ sicher beurteilen zu können. Für jeden Patienten wurde zunächst eine Personenkarte angelegt. Darauf wurden die Personalien des Betroffenen und seiner Verwandten ersten Grades sowie der Großeltern stichwortartig verzeichnet. Mittels dieses Verfahrens konnte man in Dösen bereits nach einem halben Jahr auf Kurzinformationen über 12.000 Personen zurückgreifen.[131] Nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges war die Arbeitsfähigkeit der Abteilung stark eingeschränkt und kam Ende 1939 zum Erliegen. Allerdings nahm die Dösener erbbiologische Abteilung im Februar 1941 noch einmal ihre Arbeit auf und führte die Personenkartei bis Ende 1943 weiter.[132]

 

Mit Ausbruch des Krieges und dem Anlaufen der T4-Aktion wurden auch für Dösener Patienten die entsprechenden Meldeformulare ausgefüllt und nach Berlin gesandt. Für alle 1940/41 von Dösen ausgegangenen Sammeltransporte ist belegbar, dass die verlegten Patienten über sogenannte „Zwischenanstalten“ der Euthanasie zugeführt wurden.[133] Man kann davon ausgehen, dass tatsächlich etwa 800 – 900 Dösener Anstaltsinsassen während der ersten Euthanasiephase umkamen.[134]

 

Die Einrichtung einer „Kinderfachabteilung“ in Dösen wurde durch Prof. Catel initiiert, der den Dösener Chefarzt im Oktober 1940 aufgrund Bettenmangels in der Universitätskinderklinik bat, Kinder nach Dösen verlegen zu dürfen und zu diesem Zweck dort eine Station für Kinder einzurichten. Am 19. Oktober 1940 wurde die „Reichsausschussabteilung“ eröffnet.[135] Die ersten Patienten waren Kinder im Alter bis zu drei Jahren. Der therapeutische Anspruch der Dösener Kinderabteilung beschränkte sich darauf, die Kinder diagnostisch einzuordnen und sie dann entweder einer Spezialbehandlung zuzuführen oder zu töten.[136] Traurige Bedeutung erlangte in diesem Zusammenhang die bereits beschriebene Luminalbehandlung, auch als „Luminalkur“ oder „Luminalschema“ bezeichnet, deren „Erfinder“ der Dösener Chefarzt Hermann Paul Nitsche[137] war. Es ist davon auszugehen, dass zwischen Oktober 1940 und Dezember 1943 mehr als 500 Kinder in Dösen starben.[138] 

 

Auch nach dem offiziellen Ende der „Aktion T4“ im August 1941 wurden Dösener Patienten verlegt und getötet. Im Rahmen der „Aktion Brandt“[139] fungierten in Sachsen die Landesanstalten Großschweidnitz und Waldheim als Euthanasiezentren. Die Transporte in beide Zentren, bei denen mindestens 532 Dösener Patienten verlegt wurden, sind als Maßnahmen im Sinne der „Aktion Brandt“ zu interpretieren. Aufgrund lückenhafter Quellenlage konnte das weitere Schicksal der in diese Einrichtungen verlegten Kranken nur in 235 Fällen ermittelt werden. Von dieser Anzahl verstarben 215 Pfleglinge in der entsprechenden Zielanstalt. Diese Relation legt die Vermutung nahe, dass weit mehr als 215 Kranke bei den Räumungsverlegungen im Rahmen der „Aktion Brandt“ den Tod fanden.[140]

4.7 Die sterblichen Überreste der Opfer – Urnenfunde auf Leipziger Friedhöfen

In Leipzig wurde ein zufälliger Fund von Urnen wahrscheinlicher Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie im Jahr 1998 auf dem städtischen Ostfriedhof bekannt. Dort fand man eine Gruppe mit insgesamt 35 Urnen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Leipzig-Dösen stammen, die im Rahmen der Tötungsaktion über die Zwischenanstalt Zschadraß nach Pirna-Sonnenstein verbracht und dort vergast worden sind. Einem dort tätigen Mitarbeiter war aufgefallen, dass auf den Grabkarten Vermerke der Tötungsanstalten zu finden waren. Alle 35 Urnen wurden in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Sonnenstein überprüft, wobei 24 zweifelsfrei und 11 als „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ zur Opfergruppe gehörend eingestuft wurden. Später konnten noch weitere Opfer auf anderen Friedhöfen gefunden werden. Inzwischen steht fest, dass die Opfer der Kindermordaktion nicht nur hier in Leipzig getötet, sondern auch zu einem nicht unerheblichen Anteil, selbst wenn sie aus anderen Regionen gestammt haben, hier in Leipzig beerdigt worden sind.

 

In der Grabgruppe fanden sich Einträge, die in den Aufnahmebüchern Dösens wiedergefunden wurden, so: Herr Willy Paul Emil Kolditz, geb. am 2. April 1898 unter der Nummer 263 (laufende Nummer 13003), der am 11. Oktober 1938 in Dösen aufgenommen und am 17. Mai 1940 nach Hubertusburg verlegt wurde. Dieser Transport umfasste insgesamt 124 männliche Patienten. Die Grabkarte bzw. Untersuchung in Sonnenstein wies als Sterbedatum den 19. März 1941 und als Sterbeort Hartheim aus. Letzteres darf bezweifelt werden, da aus Tarnungsgründen immer eine andere „Tötungsanstalt“ angegeben worden ist. Die Grabstelle I B 15 14 Nr. 269 auf dem Ostfriedhof, die Kolditz zugewiesen wurde, dürfte mit Sicherheit ein Urnenversand aus Sonnenstein gewesen sein.

 

Eine zweite psychisch Kranke, Hedwig Anna Zellmann, geb. am 11. Mai 1876 in Großenhain, wird am 4. Oktober 1934 unter der Nr. 179, lfd. Nr. 7462 in Dösen aufgenommen. Sie wird am 23. August 1940 mit weiteren 101 Patientinnen nach Arnsdorf in eine sogenannte Zwischenanstalt verlegt. Laut Aussage der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein erfolgte die Einäscherung am 29. Januar 1941 auf dem Sonnenstein. Die Grabkarte wies aus Tarnungsgründen Hartheim als Einäscherungsort aus. Die Beisetzung der Urne erfolgte am 05. Juni 1941 auf dem Ostfriedhof Leipzig (Grabstelle I B 15 11, Nr. 266).

 

Wilhelm Rohkohl wurde am 28. Juni 1902 an unbekanntem Ort geboren. Über ihn heißt es: „Rohkohl wurde, nachdem er die Schule mit durchschnittlichen Leistungen absolviert hatte, Klempner. Er übte diese Tätigkeit fünf Jahre aus, wechselte dann in die Landwirtschaft und ging 1936 auf Wanderschaft. Man griff ihn auf und führte ihn der Leipziger Arbeitsanstalt zu. Von dort kam er 1937 nach Dösen. Rohkohl hatte schon seit Jahren Zuckungen in den Extremitäten, er klagte über sein schlechter werdendes Gedächtnis, fiel durch Auffassungsstörungen und Kritiklosigkeit auf. Man diagnostizierte Chorea Huntington. Wilhelm Rohkohl wurde sterilisiert. Seine Frau ließ sich scheiden. Er blieb in der Anstalt und half bei der Arbeit soweit es ihm mit seinen ausfahrenden Bewegungen möglich war. Im Mai 1940 wurde er nach Hubertusburg verlegt. Von dort kam der 38jährige über Arnsdorf im August 1940 in eine „Vernichtungsanstalt.“[141] Die Einäscherung erfolgte am 30. September 1940. Die Grabkarte wies wiederum Hartheim als Einäscherungsort aus. Die Beisetzung der Urne erfolgte am 23. Juni 1941 auf dem Ostfriedhof Leipzig (Grabstelle I B 15 13).

 

Es gilt als sicher, dass in der Zeit von Oktober 1940 bis Februar 1943 in der Kinderfachabteilung Dösen Hunderte Kinder getötet worden sind. Darunter befanden sich auch Kinder aus anderen Regionen Deutschlands (ein Zug mit etwa 35 Kindern aus dem Rheinland wurde nachgewiesen) und Kinder von Kriegsgefangenen.[142] Wie die erste Tabelle zeigt, sind von 330 getöteten Kindern 153 hier in Leipzig beerdigt worden.

                                 Tabelle 2

Ort der Bestattung

Anzahl der Kinder

in Leipzig

153

auswärts

104

nicht ermittelt

73

gesamt

330

                                 Quelle: Seyde: Stadtinterne Recherche.

 

Von diesen in Leipzig beerdigten Opfern wurde die Mehrzahl auf dem Neuen Johannisfriedhof, eine andere Gruppe - wie die meisten Opfer des Nationalsozialismus - auf dem Ostfriedhof bestattet.

 

                                 Tabelle 3

Friedhöfe

Anzahl der Kinder

1. Neuer Johannisfriedhof

97

2. Ostfriedhof

33

3. Südfriedhof

14

4. Friedhof Kleinzschocher

2

5. Israelitischer Friedhof

2

6. Friedhof Sellerhausen

2

7, Nordfriedhof

1

8. Friedhof Connewitz

1

9. Friedhof Stötteritz

1

                                 Quelle: Seyde: Stadtinterne Recherche.

 

Bei 51 Kindern, die der Tötung zum Opfer fielen, handelt es sich um Leipziger Kinder.

 

                                 Tabelle 4

in Leipzig geboren

Anzahl der Kinder

männlich

30

weiblich

21

gesamt:

51

                                 Quelle: Seyde: Stadtinterne Recherche.

 

Eines dieser Kinder war Siegrid S. Dieses Mädchen, dass am 8. November 1939 in Leipzig geboren wurde, wurde nicht einmal 1 ½ Jahre alt, da sie über das Gesundheitsamt der Stadt mit einem formalen Schreiben an die Eltern vom 5. Februar 1941 in die Kinderfachabteilung Dösen überwiesen wurde und hier, offiziell am 24. Mai 1941[143], „verstarb“. Sie wurde nachweislich auf dem neuen Johannisfriedhof beigesetzt (Grabstätte V 2 14 13 ). Dass es sich um ein Opfer der Aktion gehandelt hat, zeigt eine Liste des Gesundheitsamtes, auf der die Vergütungen der meldenden Hebammen zu finden sind, die 2,08 RM für jedes dem Reichsausschuss „als behindert gemeldete“ Kind erhielten. In diesem Falle - die Hebamme hatte zwei Kinder gemeldet - wurden 4,16 RM am 19. Juni 1940 an die Adresse der Hebamme T. überwiesen. Vorausgegangen war dieser Überweisung die Registrierung der Meldung mit einem vorgefertigten Formular, dass - neben der zuständigen Abteilung des Gesundheitsamtes und dem Datum folgenden Text enthielt: „Die Hebamme (Name), Leipzig (Adresse), hat eine Anzeige nach dem Runderlaß vom 18. August 1939 über das Kind (Name und Geburtsdatum des Kindes) erstattet. Im Auftrag (Unterschrift)“. Der Gesamtbetrag des Jahres 1939 - 12,48 RM (6 Kinder)- wird dem „Reichsausschuß“ in Rechnung gestellt.

 

Insgesamt werden bis 1945 75 Kinder gemeldet und im Gesundheitsamt auf diese Weise registriert. Noch am 5. April 1945 wurde die letzte Meldung aufgenommen. Die Jahresabrechnung für das Jahr 1944 (5 Kinder) war sogar noch am 20. Juni 1945 mit der Bemerkung „Rückerstattung beantragt“ eingeleitet worden.[144]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

5. Schicksale der Leipziger Opfer

5.1 Ida Elsa K.

Wie durch Leipziger Institutionen auch Menschen, die nur durch ihren Lebenswandel auffielen und dadurch irgendwann in die Mühlen der „nationalsozialistischen Auslese“ gerieten, als „Geistesschwache“ entmündigt und schließlich über eine T4-Zwischenanstalt der Vernichtung preisgegeben wurden, soll folgendes Beispiel zeigen. Zunächst lernen wir Frau K. über ihren noch erhaltenen, handgeschriebenen Lebenslauf kennen:

„Leipzig, d. 11.10.38

Mein Lebenslauf

 

Ich heiße Elsa Ida K. bin geboren am 5. 7. 1910 in Leipzig. Mein Vater heißt Ernst Friedrich K. Meine Mutter heißt Ida K. geborene D. Ich habe noch 5 Geschwister außer mir davon bin ich die 2 älteste. Mein Bruder Herbert ist jetzt 29 Jahre alt er arbeitet bei Stöhr dann komme ich Elsa 28 Jahre alt.? Dann kommt Artur, Walter, Robert. Sie arbeiten alle bei der Firma Stöhr u. Co. Dann habe ich noch eine Schwester sie heißt Erika Knabe ist 18 Jahre alt. Als ich zur Schule kam war ich 7 Jahre ich wurde jedes Jahr versetzt ich ging in die 52. Volksschule. Mit 14 ½ bin ich entlassen worden. Ich ging im Haushalt und war tätig bei Krüger ich war 4 Jahre dort. Von da aus zog ich wieder nachhause und ging zu der Firma Stöhr Co. Wollkämmerei ich arbeitet 1 Jahr dort. Als ich 19 Jahre alt war wurde ich geschlechtskrank und musste ins Krankenhaus. Als ich geheilt war holte mich mein Mutter wieder. Ich vertrug mich mit meine Geschwister nicht so zog ich in ein Heim und ging von dort aus zur Arbeit. Ich ging in eine Fabrik zu Titel u. Krüger ich hörte auf und ging in eine deutsche ... Fabrik Faber. Ich bezahlte im Heim die Woche 10,50 M für Essen, Schlafen und Wäsche gewaschen. Ich musste ausziehen weil ich die Zeit nicht eingehalten hatte. Mit denn Ausgang wir hatten zwei Mal Ausgang in der Woche mittwochs und sonntags bis 10 Uhr ich kam immer später. So zog ich von meine Vater aus in Schlafstube nach Lindenau und wurde arbeitslos. Ich bekam Arbeitslosenunterstützung 8.60 M und im Monat bekam ich von der Fürsorge 7 M Monatsbeihilfe. Ich zog dort aus weil ich kein Ofen in meine Zimmer hatte es war so kalt im Winter. Ich (blib) wohnte dann in Lindenau in der Kuhturmstr. 29 bei Hoffmann. Mit 21 Jahr lernte ich meine festen Freund kennen. Ich stellte ihn meine Eltern vor. Sie waren mit ihm zufrieden. Ich zog mit ihm zusammen nach Plagwitz in die Ziegelstr. bei eine Bäckermeister da hat wir zwei möblierte Zimmer, er hat Arbeit in Mokau in der Wollkämmerei und ich hatte auch wieder Arbeit in der Pfaffendorferstr. In der Wollgarnspinnerei. Als ich mit in zwei 4 Jahre ging, es war im Jahre 1934 starb meine Mutter und ich machte dann Schluß mit ihm ich gab auch nicht wieder nach. Im Jahre 1935 lag ich wieder im Krankenhaus wurde entlassen bummelte herum schlief in Hotels mit Männern und wurde wieder krank bis ich von der Polizei gefunden wurde so bekam ich Haftstrafe. Ich wurde auf Gesundheitsamt bestellt und musste jede Woche zum Artzt dann wurde ich wieder krank dann hatte ich mein Leben satt und hörte auf mit schlechten Lebenswandel. Ich lernte einen Mann kennen er hieß Heinz H. er stellt mich vor bei seiner Mutter und Geschwistern sie hießen mich willkommen. Ich erzählte meinem Freund meinen Lebenswandel er sagte es muß anders werden. So ging er mit mir Arbeit suchen und wir fanden auch welche in einer Chemischen Fabrik in Reinsdorf. Wir suchten ein solides Zimmer für mich. Und so wohnte ich in Leipzig C1 Marienstr. 6 bei Opitz bezahlte die Woche 3.75 M. Es war sehr schön dort. Im Jahre 1937 war ich schwanger von meinem Freund so musste ich in die Frauenklinik. Im Oktober den 16. 1937 bekam ich ein Vormund ich wurde entmündigt. Mein Vormund heißt Oberinsp. Schumann. Ich kam von ihn aus in ein Mädchenheim Zufluchtstätte der Inneren Mission und war dort so lange von 29 November 1937 bis am 8. Oktober 1938 dann kam ich am 8. Oktober in die Arbeitsanstalt (Riebeckstrasse 63). Mein Vater lebt noch in Leipzig W 32 Siemensstr. 33 II. Etg. Er arbeitet bei Stöhr u. Co. als Spinner.

 

(Stempel) 12. Okt. 1938                                                                                                    Elsa K.“[145]

 

Frau K. bittet, nachdem sie entmündigt ist und Vewaltungs-Oberinspektor Alfred Schumann[146] Leipzig - C1, Stadthaus, Zimmer 692, Abteilung für Pfleg- und Vormundschaften, zu ihrem Vormund bestimmt wurde, denselben in folgendem Brief um Beurlaubung aus der Städtischen Arbeitsanstalt Leipzig:

 

„Leipzig, d. 14. 7. 40

Sehr geehrter Herr Oberinspektor Schumann

 

Hier erlaube ich mir noch mal an Ihnen ein paar Zeilen zu schreiben. Ich möchte doch höflichst darum bitten wegen meiner Beurlaubung, da ich doch meine Arbeit tuhe, was mir gesagt wird und auch den besten Willen dazu habe, auszuhalten. Denn ich will doch auch mal draußen in der Freiheit vorwärts kommen und vor allen Dingen möchte ich auch hart arbeiten. Es ist mir gleich was ich für Arbeit bekomme, denn heute muß mann alle Arbeiten nehmen. Ich werde es ihnen beweißen das ich aushalten kann und will. Ich hoffe das mein Wunsch zu erfüllen ist.

Heil Hitler.

Elsa K.“[147]

 

Soweit die erhaltenen Äußerungen von Frau K. Die angefragte Beurlaubung wird von Schumann nicht genehmigt.

 

Ein völlig anderes Bild zeichnen die beteiligten Institutionen von ihr. So schreibt die Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkranke am 24. August 1937 an den Staatsanwalt beim Landgericht:

 

„Die am 5. 7. 1910 in Leipzig-Lindenau geb. Elsa K., bedarf der Entmündigung weil sie auf Grund ihrer psychopathischen Charakterabartigkeit zur Verwahrlosung neigt und sich unfähig gezeigt hat, einen geordneten Lebenswandel zu führen. Darüber hinaus wirkt sie wegen ihrer sexuellen Verwahrlosung und Haltlosigkeit, trotzdem sie noch von Go. (Gonorrhöe, d. Verf.) nicht geheilt ist, für die öffentliche Volksgesundheit weitgehend gefährlich und hat nach den Akten bereits ihre Geschlechtskrankheit verbreitet. Sie ist selber für ihren Lebenswandel aufgrund ihrer Charaktereigenschaft uneinsichtig und würde gänzlich verwahrlosen, wenn sie sich selber überlassen bleibe.“[148] 

 

Am 22. Oktober 1937 hatte Frau K. ein totes Kind entbunden. Nach ihrer Einweisung in die Städtische Arbeitsanstalt fordert ihr Vormund im Februar 1939 eine Beurteilung von der Verwaltung des Hauses über sein Mündel an, die wie folgt ausfällt: „Die Führung und Arbeitsleistung ihres Mündels Elsa K. lässt sehr viel zu wünschen übrig. Obwohl die K. arbeitsfähig ist, zeigt sie sich in der Arbeit unsauber, langsam und liederlich. Ihr Verhalten der Aufsicht gegenüber ist verlogen. Mit den Insassen ist sie gern in Streit verwickelt und spielt selbst die Unschuldige. Ihr Bestreben ist, die Aufmerksamkeit der Umwelt auf sich zu lenken teils durch Krankheit, Frechheit usw. um ihr den Ernst des Lebens beizubringen, bedarf sie längerer Verwahrung.“[149] Die Beurteilungen der Städtischen Arbeitsanstalt gleichen sich alle, bis zu ihrer Verlegung nach Zschadraß werden mehrere davon verfasst. Auf dem Personalbogen des Städtischen Arbeitshauses befindet sich ganz unten unter einem Stempel mit Datum 17. Januar 1940 eine handschriftliche Notiz: „Meldebogen I an Min. gegeben.“[150] Das ist ganz offensichtlich der Tag der Meldung ihres Falles an den Reichsausschuß in Berlin. Zwischen Oktober 1940 und Januar 1941 muss sie dann nach Zschadraß verlegt worden sein, ein genaues Datum geht aus der Akte nicht hervor. In einem formellen Schreiben vom 6. Januar 1941 bittet der o. g. Verwaltungs-Oberinsprektor Alfred Schumann die Direktion der Heil- und Pfleganstalt Zschadraß: „unverzüglich Mitteilung zu geben, wenn mein Mündel entlassen bezw. in eine andere Anstalt verlegt werden oder sterben sollte.“[151] Kurz darauf, am 10. Februar 1941 erhält Schumann die gewünschte stereotype Nachricht aus Zschadraß: „Heute wurde die Kranke K. Elsa Ida aus Leipzig in eine andere Anstalt verlegt.“[152] Wie in allen Fällen wird auch in diesem eine direkte Sprache vermieden, gemeint ist: Frau K. wurde in eine Vernichtungsanstalt, vermutlich Pirna-Sonnenstein, zu dessen Einzugsbereich Zschadraß zählte, weiterverlegt und dort vergast.

5.2 Ella G.

Beim Telefonat mit Herrn W. von der Chemnitzer Gruppe des Bundes der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V. wurde ich gebeten, Frau Christa K. aus Leipzig zur nächsten Zusammenkunft, zu der auch ich eingeladen war, mitzubringen. Ich erklärte mich dazu bereit und unterhielt mich während der Autofahrt mit Frau K. Nach dem Treffen und unserer gemeinsamen Heimfahrt fand sie sich bereit, mir die Geschichte ihrer Familie zu berichten. Die folgende Erzählung ist das Gedächtnisprotokoll unserer Unterhaltungen vom 23. März 2001:

 

„Christa K. wurde am 21. September 1936 geboren. Nach ihrer Geburt hatte ihre Mutter, Frau Ella G., Depressionen – sogenannte Wochenbettdepressionen – bekommen. Vorher hätte sie nie so was gehabt. In diesem Zustand brachte ihr Vater die Mutter am 23. Dezember 1936 nach Dösen und wies sie offenbar selbst in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt ein. Für diese Tat hasst sie ihren Vater noch heute. Wäre ihr Großvater nicht so schlimm magenkrank gewesen, hätte er die Einweisung seiner Tochter sicherlich zu verhindern gewusst. Die Mutter, also Frau K.s Großmutter, hatte mit ihr zu tun gehabt und deswegen keine Kraft und Zeit, um die Tochter zu kämpfen. Ella G. blieb bis Sommer 1940 in Dösen. Genau war es der 16. Juli 1940, der Tag, an dem Frau G. nach Zschadraß verlegt wurde. In Frau K.s Erinnerung muss es um diese Zeit herum gewesen sein, denn sie hatte im Sommerkleidchen, das ihre Großmutter genäht hatte, ihre Mutter besucht. Sie kennt ihre Mutter bewusst nur von diesem einen Besuch. Sie registrierte die Mutter gar nicht als solche, es war eine fremde Frau für sie. Sie kannte ja nur ihre Oma und ihre Tante. Frau K. war in Begleitung ihrer Großmutter in Dösen. Ihre Mutter hatte mit ihr auf einem Schaukelstuhl geschaukelt. Beim Besuch hatten Sie der Mutter nassen Kuchen, der etwas am Papier klebte, vom Bäcker Müller aus der Reclamstrasse und eine Flasche Milch mitgebracht. Die Milch hatte die Oma abgekocht und in eine Flasche gefüllt und mit einer Einmachhaut verschlossen. Christa hatte daran herumgespielt und die Abdeckung kaputt gemacht. Darauf hätte die Großmutter geschimpft und gedroht, sie nicht mit zu ihrer Mutter zu nehmen. Die Milch wäre für die Mutti, die wollten sie jetzt besuchen. Die Mutter war so hungrig, dass sie den Kuchen gierig hinunterschlang und sogar das Papier ableckte.“

 

Aus der Karteikarte des Patientenarchivs Zschadraß geht hervor, dass Frau G. in die untere Verpflegungsklasse eingestuft worden war. Das bedeutete, dass die zu ihrer Verpflegung aufgewendeten Kosten radikal reduziert worden waren. In Dösen gab es also zwei Verpflege- und Unterbringungsklassen. Die deutlich teurere obere Kategorie bot den Vorteil, dass sie den Patienten in den Kriegsjahren eine wenigstens ausreichende Ernährung sicherte. Jedoch wurden weniger als 1 Prozent der Anstaltsinsassen in der gehobenen Kategorie versorgt. Ungeachtet der bereits prekären Ernährungssituation wurde im April 1938 eine sogenannte Sonderkost eingeführt, die fettarm und fast völlig fleischlos war. Damit konnten jährlich mehrere tausend Reichsmark gespart werden.[153] Zur Veranschaulichung sei aus einem von Pastor Paul Gerhard Braune erstellten Bericht zitiert, der in ähnlicher Weise für die Dösener Verhältnisse zugetroffen haben mag: „ Eine Besucherin berichtet, dass die Patienten in Waldheim morgens nur eine Schnitte Brot bekämen, mittags einen Teller Essen und abends einen Teller Suppe. Diese Versorgung gäbe es aber nur für arbeitende Kranke. Diejenigen, die nicht arbeiten können, bekämen nur eine halbe Schnitte Brot, einen viertel Teller Essen und einen halben Becher Suppe. Wird jemand bettlägerig, so gibt es noch weniger, in der Zelle gar nichts. Wenn dabei die arbeitenden Patienten ihren hungernden Gefährten von ihrem Wenigen etwas abgeben, so wird ihnen zur Strafe die nächste Mahlzeit gekürzt, weil sie offenbar noch zuviel bekämen.“[154]

 

Frau G. hatte graue Kleidung getragen, nach der die Großmutter sie gefragt hätte, das wäre doch nicht ihre eigene gewesen. Dabei handelte es sich um einen ausgewaschenen Unterrock und eine alte Strickjacke. Man hatte ihr offenbar schon alle Privatsachen weggenommen. Die Mutter wurde dann zunächst nach Zschadraß[155] verlegt. Frau K. wurde von ihrer Großmutter aufgezogen, die damals schon 61 Jahre alt war, der Vater hätte später sehr schnell eine neue Frau geheiratet. Die hätte sie nicht gewollt, außerdem hatte die Großmutter ihrer Mutter versprochen, sich um die kleine Tochter zu kümmern. Aus der Patientenakte von Ella G. aus Zschadraß geht hervor, dass sie am 10. September 1940 in eine andere Anstalt verlegt worden sei.[156] Irgendwann danach hätten sie eine Todesnachricht aus Grafeneck bekommen. Diese wäre aber gefälscht gewesen.[157] Da stand so sinngemäß drin, dass sie verstorben wäre, sie wäre bereits eingeäschert, hinkommen dürfte man nicht wegen der Ansteckungsgefahr. Aber das war eine Finte mit Grafeneck. Die haben sogar ihr eigenes Standesamt gehabt, das war eine Finte, dass nur ja keiner hinkam. Möglichst weit weg vom Wohnort, aber so weit haben die die Leute nicht mehr rumgekarrt. Die brauchten ja den ganzen Treibstoff fürs Militär. Frau G. ist aber nach Aussage von Herrn Dr. Böhm[158] auf dem Sonnenstein umgekommen. Der Todesschein aus Grafeneck verzeichnet folgendes: Sterberegister Nr. 1/64 des Jahres 1940, Todesschein: Klara Ella G., geb. R. aus Leipzig, Stand: Hausfrau, 39 Jahre alt, geboren in Markranstädt Kreis Leipzig, gestorben am 24. September 1940 in Grafeneck. Grafeneck am 14. Oktober 1940, der Standesbeamte in Grafeneck, Landkreis Münzingen.

 

1959 sei die Großmutter gestorben, was ein großer Schmerz für Frau K. war, sie hatte ihr die Mutter ersetzt. Eine Tante, die ältere Schwester der Mutter, wäre auch in Dösen gewesen zur Behandlung. Als sie diese besucht hätte, wohl in den fünfziger Jahren, wären ihr gleich die Räumlichkeiten bekannt vorgekommen, vom Besuch bei ihrer Mutter im Jahre 1940.“

5.3 Bewohner von Leipziger Heim- und Pflegeeinrichtungen

Die Einbeziehung der Bewohner von Alters- und Pflegeheimen in die Aktion T4 ist in der Euthanasie-Forschung bisher nahezu unberücksichtigt geblieben. Die in diesen nichtpsychiatrischen Einrichtungen versorgten Patienten wurden jedoch ebenso wie die Insassen der staatlichen und konfessionellen Anstalten von der T4-Organisation mit Hilfe der üblichen Meldebögen flächendeckend erfasst. 1939 bestanden in Sachsen 89 Alters- und Pflegeheime mit insgesamt etwa 10.000 Plätzen.[159]

 

 

 

 

 

Aus folgenden Leipziger Pflegeeinrichtungen wurden Bewohner gemeldet:[160]

 

               Tabelle 5

Einrichtung

Betten

Fragebögen

Alters- u. Pflegeheim Thekla, Leipzig

111

110

Städtisches Pfleghaus Leipzig, Täubchenweg 4

230

292

Altersheim Leipzig-Schönefeld

65

24

Altersheim Leipzig-Eutritzsch

90

18

Fürsorgeamt Plagwitz, Leipzig

120

34

Fürsorgeheim Leipzig-Connewitz

145

37

Städtische Arbeitsanstalt Leipzig

400

187

               Quelle: Schilter: Unmenschliches Ermessen. S. 102.

 

Exemplarisch für diese Opfer sollen folgende aus den Beständen des Bundesarchivs in Berlin recherchierten Fälle stehen.

 

Frau Frieda Olga H. wurde am 1. Oktober 1882 in Meerane/Sachsen geboren. Ihr Lebensweg lässt sich aus den Akten nicht rekonstruieren, wohl aber ihr trauriges Lebensende. Seit 7. August 1939 war sie in der Versorgtenabteilung eines Leipziger Obdachlosenheimes untergebracht. In einer Bescheinigung vom 17. März 1941 bestätigt die Verwaltung des Obdachlosenhauses Leipzig-Thonberg, Dauthestrasse 1, dass Frau H. bis zu diesem Tag in der Anstalt voll verpflegt wurde und sie nicht im Besitz von Lebensmittelkarten sei. Offenbar war sie in der Pflegeabteilung des Obdachlosenhauses untergebracht. Am selben Tag wird sie mit einem Sammeltransport in Zschadraß „zugeführt“, wie es lakonisch im Aufnahmebogen der Landesanstalt heißt. Die Verständigung sei sehr schwierig, so der aufnehmende Arzt dort. „Hört anscheinend schwer, scheint nicht lesen zu können.“ Beim Versuch mit Bleistift ihren Namen zu schreiben kommt Frau H. leserlich aber nur bis zum vierten Buchstaben von sechs. Dazu heißt es weiter: „Diagnose: Schwachsinn.“

 

Es folgt ein betroffen machender Briefwechsel zwischen den völlig ahnungslosen Schwestern der Olga H. und der Landesanstalt Zschadraß, der im folgenden wörtlich wiedergegeben werden soll:

 

„Leipzig, 9. 4. 41

An die Direktion der Heilanstalt

Zschadrass, Colditz i./Sa.

 

Am Sonntag d. 30. März 41 wollte ich meine Schwester Frieda Olga H., welche im Pflegeheim Leipzig Dauthestrasse I untergebracht wahr besuchen, wie vorher alle 14 Tage regelmäßig, musste aber zu meinem größten Erstaunen feststellen, das meine Schwester nicht mehr da wahr. Auf meine Fragen wurde mir mitgeteilt, es wüsste niemand Bescheid wo sie hingebracht worden ist, müsste ich mich also nach dem Stadthaus wenden, dort erfuhr ich ihren jetzigen Aufenthalt.

Da man mich und meine anderen Schwestern völlig im Unklaren gelassen hat bis heute, möchte ich hiermit herzl. bitten, mir doch mitzuteilen, warum und weshalb meine Schwester nach dort geschafft worden ist. Sie ist doch ein harmloser ruhiger sauberer Mensch und ihre größte Freude war unser regelmäßiger Besuch dasselbe auch für uns, wir sind in großer Sorge darum. Ich bitte herzl. um ausführl. Bescheid deshalb.

Mit viel. herzl. Dank im voraus

Heil Hitler

Frau Martha V., geb. H.

Leipzig S 36, Bornaische Str. 209 III, Rückporto beiliegend.“

 

„Leipzig O5 am 13. 4. 41

An die Direcktion der Heil- und Pflegeanstalt Zschadraß

 

Wie ich erfahren habe, befindet sich meine Schwester Olga Frieda H. seit 17. 3. 41 in der Heil- und Pflegeanstalt Zschadraß, möchte mich um ihr Wohlergehen erkundigen.

 

Heil Hitler!

Frau Helene K., geb. H.

Leipzig O5 Ebermayerstr. 1. ptr. r.“

 

Darauf erhalten beide Schwestern am 17. April 1941 gleichlautende Antwortschreiben mit folgendem Text:

 

„Fräulein Frieda Olga H. aus Meerane ist auf Anordnung des Reichsverteidigungskommissars aus kriegswichtigen Gründen in die hiesige Anstalt verlegt worden. Die Pat. verhält sich soweit ruhig und etwas stumpf. Sie erkrankte in der letzten Zeit an einer leichten Gelbsucht.

 

Die Anstaltsdirektion.

I.A.

gez. Dr. Walther“

 

Schließlich wird die Schwester Helene K. am 5. Mai 1941 in einem formellen Schreiben, das in gleicher Art und Weise tausenden von Angehörigen der Euthanasieopfer in ganz Deutschland zugestellt wurde, darüber informiert, dass Olga H. von Zschadraß „heute in eine andere Anstalt verlegt“ wurde.[161] Ziel dieser verschleiernden Informationstaktik ist nach Wunsch des Leiters der Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten in Berlin eine sofortige und lückenlose Benachrichtigung der Angehörigen usw., damit unnötige Beunruhigungen und Beschwerden der Beteiligten möglichst vermieden werden.[162]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

7. Zusammenfassung und Ausblick

Insbesondere die Lebensgeschichten derjenigen Leipziger Bürger, die ich in den Beständen des Bundesarchivs kennenlernen durfte, haben mich emotional sehr stark berührt. Deshalb war es mir auch wichtig, ihren Schicksalen in dieser Arbeit besonderen Raum zu geben.

 

Ursprünglich hatte ich geplant, in einem Teil dieser Arbeit rassenhygienische bzw. bioethische Standpunkte der Vergangenheit und Gegenwart darzustellen und als Teil der aktuellen Debatte zu diskutieren. Die erhaltenen Biographien vermitteln uns jedoch eine eindeutige Botschaft, die, wie ich glaube, Diskussionen solcherart hier nicht angemessen erscheinen lässt. Vielmehr teilen sie uns ganz emotionslos mit, dass sich das Leben vor mehr als sechzig Jahren genauso abgespielt hat, wie es schwarz auf weiß in den erhaltenen Papieren steht. An dieser erdrückenden Faktizität müssen sich meines Erachtens alle künftigen Debatten messen.

 

Das Erstaunliche ist, dass sich alle Vorgänge, die diese Arbeit zum Inhalt hatte und die in Gesamtdarstellungen bereits in der Literatur beschrieben wurden, auf städtischer Ebene bestätigt zeigten. Das betraf bürokratische Mechanismen genauso wie persönliche Haltungen, die sich insbesondere an der Schwelle des Kriegsendes im Mai 1945 als außerordentlich wandelbar zeigten. Wahrscheinlich hätte ich mit höherem Zeitaufwand noch weitere Spuren finden können. Sicher könnte ein Vorgehen dieser Art in jeder beliebigen deutschen Stadt wiederholt werden. Diese Vorstellung ist bedrückend, aber sicher folgerichtig.

 

Ungeachtet des Wirkens des Bundes der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V. oder bereits publizierter Arbeiten zur Eugenik und Euthanasie im Nationalsozialismus können die Opfer bisher nur ansatzweise ein angemessenes Erinnern und Gedenken erfahren.

 

Für die Stadt Leipzig untermauern diese wie auch andere Arbeiten, dass eine würdige Gedächtnisform für die Leipziger Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie und Rassenideologie ein wünschenswertes Anliegen heutiger Stadtpolitik sein sollte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

8. Quellen- und Literaturverzeichnis

8.1.1 Verzeichnis der verwendeten Archivalien

Bundesarchiv Berlin (Barch)

Bestand R 179 Kanzlei des Führers, Hauptamt II b, Nr.: 10132, 10186, 3370, 10187, 10185, 81, 13369, 10133, 10127, 10507, 10552, 10107, 13378, 86, 10040, 13649, 10005, 82, 6354, 83, 10514, 10189, 10546, 438, 7929, 85, 7856, 15875, 13613, 9963, 10134, 10549,10548, 10537, 3369, 10547, 13346, 11433, 7904, 10011, 10184, 1083, 13321, 10506, 12785, 442, 10540, 7884, 1319, 7906, 3333, 3069, 87, 7903, 13350, 6127, 7905, 9501, 439, 10135

 

Bestand NS 51/227 B

 

Bestand ehem. BDC.: Vetzberger, Walter

Stadtarchiv Leipzig (StadtAL)

Krankenhaus Dösen: Nr. 40

 

Gesundheitsamt: Nr. 7, 39, 789, 793, 797, 815, 833, 835, 843, 847

 

Personalakte Dr. Risel, Karl Hans

 

Personalakten: Kap. 10 0 Nr. 175, Kap. 10 V Nr. 213, Kap. 10 Nr. P 520, Kap. 10 P Nr. 637, Kap. 10 P Nr. 638, Kap.10 F Nr. 672, Kap. 10 G Nr. 928, Kap. 10 K Nr. 990, Kap. 10 B Nr. 1334, Az: F 1083, Z 335, St/M Nr. 2212, Kap. 10 S Nr. 2546, Kap. 10/Karte - C 67, Kap. 10 (B 1389), Karte Kap.10 (D 520), Karte Kap. 10 (F 1258), Karte Kap. 10 (W 1076), Karte Kap. 10 (H 1068), Sta. Nr. M 1439, Sta. Nr. B 2078, Kap. 10 H Nr. 1630, S 1743, M 791, K 1619, S 633, Kap. 10 H 1121

 

Stadtverordneten- und Ratsversammlung: StVuR       Nr. 1968, StVuR Nr. 1970, StVuR 1971

 

Kapitelakten: Beifascikel 1 Cap.16 No.5, Kap. 16 Nr. 5 Bd. 12, Beiheft 5 Kap. 16 Nr. 5

8.1.2 Unveröffentlichte Manuskripte

Seyde, Thomas.: Stadtinterne Recherche zur Aufarbeitung der Geschichte der Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus im Auftrag des Oberbürgermeisters der Stadt Leipzig. Leipzig 2001.

8.2 Zeitzeugenberichte

Frau Christa K., Leipzig:                                       Interview vom 23. März 2001

 

Prof. Erich Häßler, Jena:                                        Interview vom 10. November 2000

 

Prof. Wilhelm Johannes Oehme, Wolfenbüttel:            Telefongespräch vom 05. Januar 2001

 

Mitglieder der Chemnitzer Gruppe des Bundes der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V.

Ein leitender Mitarbeiter des ehemaligen Bezirkskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie, Leipzig-Dösen.

8.3 Digitale Medien

http://www.dickej.f2s.com/Darstellung/Links/gesetz/gzven.html. 2. 6. 2001.

 

http://www.uni-leipzig.de/~psy/schroe.html. 2. 6. 2001.

 

http://www.zeit-fragen.ch/ARCHIV/ZF_36EU/T03.HTM. 23. 5. 2001.

 

http://www.lichtblick-newsletter.de/historisch.html. 2. 6. 2001.

 

http://www.toolan.com/hitler/append5a.html. 13. 4. 2001.

 

http://ods.schule.de/bics/cif/geschich/projekte/odns/krank/plan.htm. 21. 6. 2001.

 

http://www.solidaritaet.com/neuesol/2000/26/col.htm. 27. 5. 2001.

 

http://members.aon.at/schloss-hartheim/HHseite2.htm. 21. 6. 2001.

 

http://www.etika.com/d49ns/49ns68.htm. 22.6.2001.

8.4 Periodische Publikationen

Ärzteblatt Thüringen: Offizielles Mitteilungsblatt der Landesärztekammer Thüringen und der Kassenärztlichen Vereinigung Thüringen. Hrsg.: Landesärztekammer Thüringen. Jena 1990 -.

Symptom: Leipziger Beiträge zu Psychiatrie und Verrücktheit. Hrsg.: von der Betroffeneninitiative „Durchblick e. V.“ und der Sächsischen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie. Leipzig 1996.

8.5 Literatur

Aly, Götz (Hrsg.): Aktion T4 1939 - 1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstrasse 4. Berlin 1989.

Aly, Götz/Roth, Karl Heinz.: Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 2000.

Bach, Christiane: Die Zwangssterilisierung auf der Grundlage des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses im Bereich der Gesundheitsämter Leipzig und Grimma, die Tötung Geisteskranker und die Rolle der erbbiologischen Erfassungs- und Begutachtungspraxis der Psychiatrie zwischen 1933 und 1945. Med. Diss. Leipzig 1989.

Bastian, Till: Furchtbare Ärzte. Medizinische Verbrechen im Dritten Reich. München 1996.

Benzenhöfer, Udo: Der Fall „Kind Knauer“. In: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 95, 1998, Heft 19, S. B-954 f.

Ders.: „Ohne jede moralische Skrupel“. In: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 97, 2000, Heft 42, S. B 2352 – B 2355.

Ders.: Der gute Tod? Euthanasie und Sterbehilfe in Geschichte und Gegenwart. München 1999.

Ders.: „Kinderfachabteilungen“ und „NS-Kindereuthanasie“. Wetzlar 2000.

Braune, Paul Gerhard: Denkschrift für Adolf Hitler vom 9. Juli 1940. In: Aktion T4 1939 - 1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. Berlin 1989.

Greve, Michael: Die organisierte Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ im Rahmen der „Aktion T4“. Pfaffenweiler 1998.

Hohmann, Joachim S.: Der "Euthanasie"-Prozess Dresden 1947. Eine zeitgeschichtliche Dokumentation. Frankfurt am Main 1993.

IBN. Index Bio-Bibliographicus Notorum Hominum. Pars C, Corpus alphabeticum. Osnabrück 1980.

Ich klage an. Hrsg. vom Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V. Detmold 1989.

Klee, Ernst: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die Vernichtung lebensunwerten Lebens. Frankfurt a. M. 1999.

Ders.: Dokumente zur „Euthanasie“. Frankfurt a. M. 1997.

Mitscherlich, Alexander/Mielke, Fred: Das Diktat der Menschenverachtung. Aus der deutschen Ärztekommission beim amerikanischen Militärgericht in Nürnberg. Heidelberg 1947.

Müller-Hill, Benno: Tödliche Wissenschaft. Berlin 1989.

Nationalsozialistische Euthanasie-Verbrechen in Sachsen. Hrsg. vom Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e. V. und der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Dresden/Pirna 1999.

Oehme, Wilhelm Johannes: Fünf Epochen und ein Medizinerleben. Als Kinderarzt in Leipzig, Marburg und Braunschweig. Berlin 1999.

Platen-Hallermund, Alice: Die Tötung Geisteskranker in Deutschland. Aus der Deutschen Ärztekommission beim amerikanischen Militärgericht. Bonn 1998.

Roick, Christiane: Heilen, Verwahren, Vernichten. Die Geschichte der sächsischen Landesanstalt Leipzig-Dösen im Dritten Reich. Med. Diss. Leipzig 1997.

Schilter, Thomas: Unmenschliches Ermessen. Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1940/41. Leipzig 1998.

Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Göttingen 1992.

Schultz, Ulrich: Dichtkunst, Heilkunst, Forschung. Der Kinderarzt Werner Catel. In: Reform und Gewissen. „Euthanasie“ im Dienste des Fortschritts. Berlin 1985.

Thom, Achim: Das verhängnisvolle Wirken des Pädiaters Werner Julius Eduard Catel (1894-1981). In: Universität Leipzig. Jg. 1992, Heft 3.

Thom, Achim/Caregorodcev, Genadij Ivanović (Hrsg.): Medizin unterm Hakenkreuz. Berlin 1989.

Thom, Achim/Rapoport, Mitja (Hrsg.): Das Schicksal der Medizin im Faschismus. Auftrag und Verpflichtung zur Bewahrung von Humanismus und Frieden. Internationales wissenschaftliches Symposium europäischer Sektionen der IPPNW 17. - 20. November 1988, Erfurt/Weimar, DDR. Neckarsulm/München 1989.

Verzeichnis des Personenbestands Anfang 1932. Hrsg.: Universität Leipzig. Leipzig 1932.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Selbständigkeitserklärung

Hiermit erkläre ich, die vorliegende Diplomarbeit selbständig und ohne unerlaubte fremde Hilfe angefertigt zu haben. Ich habe keine anderen als die im Schriftenverzeichnis angeführten Quellen benutzt und sämtliche Textstellen, die wörtlich oder sinngemäß aus veröffentlichten oder unveröffentlichten Schriften entnommen sind, und alle Angaben, die auf mündlichen Auskünften beruhen, als solche kenntlich gemacht.

 

 

 

Leipzig, 5. Juli 2001                                                                                   Christoph Buhl



[1] Barch. R 179. Nr. 10540. Blatt 23.

[2] In dieser Arbeit wird aus Gründen des besseren Verständnisses das für damalige Verhältnisse völlig legitime Vokabular verwendet. Die entsprechenden Wörter sind mit An- und Ausführungszeichen markiert, dies soll auch eine Abgrenzung zur Auffassung des Verfassers kennzeichnen.

[3] Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V. Ich klage an. S. 45 ff.

[4] Alfred Ploetz (1860-1940): Deutscher Arzt, der im Prozess der Konzeptualisierung und Institutionalisierung der „Rassenhygiene“ eine Schlüsselrolle spielte. Sein Hauptwerk erschien 1895 unter dem Titel: „Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen“.

[5] Wilhelm Schallmayer: Deutscher Arzt, der im Jahre 1892 seine fünf Jahre zuvor verfasste und bis dahin von verschiedenen Verlegern zurückgewiesene Schrift: „Über die drohende körperliche Entartung der Culturmenschheit“ veröffentlichte. Er entwickelte u. a. das Konzept der „Asylierung“, welches empfahl, die Verwahrung von „gemeingefährlichen Irren“, Epileptikern, „Schwachsinnigen“ und Verbrechern aus Gründen der Rassenhygiene auf das ganze fortpflanzungsfähige Alter auszudehnen.

[6] Schmuhl: Rassenhygiene. S. 43 f.

[7] Benzenhöfer: Der gute Tod? S. 80.

[8] Benzenhöfer: Der gute Tod? S. 82.

[9] Schilter: Unmenschliches Ermessen. S. 17.

[10] Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. S. 19.

[11] Karl Binding (geb. 1841): war bis zu seiner Emeritierung 1913 Professor des öffentlichen Rechts in Leipzig gewesen. Er galt als einer der bedeutendsten Strafrechtslehrer überhaupt.

[12] Alfred Erich Hoche (geb. 1865): war seit 1902 Ordinarius für Psychiatrie in Freiburg und galt als einflussreicher Hochschullehrer.

[13] http://www.zeit-fragen.ch/ARCHIV/ZF_36EU/T03.HTM.

[14] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 7. Blatt 1 ff.

[15] Schmuhl: Rassenhygiene. S. 154 f.

[16] http://www.lichtblick-newsletter.de/historisch.html.

[17] Müller-Hill: Tödliche Wissenschaft. S. 35.

[18] Schmuhl: Rassenhygiene. S. 159.

[19] http://www.toolan.com/hitler/append5a.html.

[20] Schmuhl: Rassenhygiene. S. 180 f.

[21] Benzenhöfer: Der Fall „Kind Knauer“. S. B-954 f.

[22] Philippe Aziz: Ein französischer Journalist, der im Jahre 1973 mit der betroffenen Familie, er bezeichnete sie als „Familie Kressler“, ein Interview geführt hatte, dessen Ergebnisse er 1975 im o. g. Buch veröffentlichte.

[23] Benzenhöfer: „Kinderfachabteilungen“. S. 8 ff.

[24] Kanzlei des Führers: Sie wurde 1934 eingerichtet, aus Parteimitteln bezahlt und war ursprünglich ein kleines Amt, um Hitlers Privatangelegenheiten und alle an ihn gerichteten Eingaben zu bearbeiten. Die KdF hatte sich bis 1938 zu einem Verwaltungsapparat, bestehend aus fünf Hauptämtern, entwickelt. An der Spitze stand Reichsleiter Phillipp Bouhler, SS-Standartenführer und alter Kämpfer der Partei.

[25] Klee: Dokumente. S. 239.

[26] Benzenhöfer: „Kinderfachabteilungen“. S. 82 f.

[27] Barch. NS 51/227. Blatt 8.

[28] http://www.solidaritaet.com/neuesol/2000/26/col.htm.

[29] Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. S. 100.

[30] Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. S. 87 f.

[31] Schmuhl: Rassenhygiene. S. 202 f.

[32] http://ods.schule.de/bics/cif/geschich/projekte/odns/krank/plan.htm.

[33] Am 24. August 1941 wurde aufgrund der wachsenden Beunruhigung der Bevölkerung und der Proteste von katholischen und evangelischen Geistlichen ein Abbruch der Aktion T4 verfügt. Allerdings bedeutete dies keineswegs ein Ende der Krankenmorde: die Kindereuthanasie lief uneingeschränkt weiter, und in den Spitälern sowie in den Heil- und Pflegeanstalten fand die Aktion T4 in der sogenannten „wilden Euthanasie“ ihre Fortsetzung. Als „wilde Euthanasie“ wird die Ermordung von Anstaltsinsassen durch Medikamente, Verhungernlassen oder „Vernichtung durch Arbeit“ bezeichnet. Diese Maßnahmen wurden von den behandelnden Ärzten verfügt und vom Pflegepersonal bzw. von Ärzten ausgeführt. Neuere Forschungen gehen davon aus, dass der „wilden Euthanasie“ mehr Menschen zum Opfer fielen als der ersten Phase der Aktion T4. Die Maßnahmen der „wilden Euthanasie“ waren zwar nicht zentral gesteuert, fanden jedoch mit ausdrücklicher Billigung der leitenden Stellen der Euthanasieaktion statt.

(Quelle: http://members.aon.at/schloss-hartheim/HHseite2.htm.)

[34] Laut dpa wurden von 1939 bis 1945 rund 200.000 Psychisch Kranke und Geistig Behinderte ermordet, wobei sich die Agentur auf eine Ausstellung „Psychiatrie im Nationalsozialismus“ beim Weltkongress der Psychiatrie vom 6. - 11. 8. 1999 in Hamburg beruft sowie auf das Buch von Michael von Cranach und Hans-Ludwig Siemen: Psychiatrie im Nationalsozialismus, Oldenbourg Verlag München, 1999. Oben genannte Zahl wird wie folgt aufgeschlüsselt: Aktion T4: 70.000 Menschen vergast, Kindereuthanasie: 5000 Tote. Nach Ende der Aktion T4 „wilde Euthanasie“ teils durch Todesspritzen, teils durch Hungerkost: 90.000 Tote.

(Quelle: http://www.etika.com/d49ns/49ns68.htm.)

[35] Schmuhl: Rassenhygiene. S. 364.

[36]„Sonderkommando Lange“: Gegen Ende 1939 nahm im Gebiet des Warthelandes, Danzig-Westpreußens und Ostpreußens ein Sonderkommando unter dem Befehl des SS-Sturmbannführers und Kriminalrates Herbert Lange seine Arbeit auf. Von Dezember 1939 bis Mai 1940 ermordete das „Sonderkommando“, das aus fünfzehn Angehörigen der Sicherheitspolizei, die die Hinrichtungen durchführten, und sechzig Männern der Schutzpolizei, die die Absperrungen vornahmen, bestand, mehrere Tausend Menschen. Das Kommando führte einen mit der Aufschrift „Kaisers – Kaffee – Geschäft“ versehenen Anhänger mit sich, der von einem Sattelschlepper gezogen wurde. Auf der Zugmaschine war ein Behälter angebracht, in dem sich eine Stahlflasche, gefüllt mit Kohlenmonoxyd, befand. Von dieser Flasche führte eine Leitung in das luftdicht verschlossene Innere des Kastenaufbaus des Anhängers. Indem man das Gas in den Kastenaufbau einströmen ließ, konnte man bis zu siebzig Menschen pro Transport töten.

[37]„Wachsturm Eimann“: Im Oktober 1939 erhielt der in Danzig stationierte SS-Sturmbannführer Kurt Eimann den Befehl, Patienten aus pommerschen Anstalten, die in mehreren Transporten auf dem Bahnhof Neustadt/Westpreußen eintreffen sollten, an einer geeigneten Stelle erschießen zu lassen. Eimann entschied sich für den Wald von Piasznicz im Kreis Neustadt. Dort fanden von Oktober bis Dezember 1939 Massenhinrichtungen an Geisteskranken statt, bei denen die Opfer durch Genickschuss getötet wurden.

[38] Schmuhl: Rassenhygiene. S. 220 ff.

[39] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 7. Blatt 14.

[40] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 7. Blatt 20.

[41] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 815. Blatt 2.

[42] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 815. Blatt 3.

[43] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 815. Blatt 9.

[44] Das ist ein auszufüllender Posten auf dem bereits vorhandenen Vordruck.

[45] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 815. Blatt 11.

[46] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 815. Blatt 15.

[47] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 815. Blatt 16.

[48] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 815. Blatt 17.

[49] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 815. Blatt 19.

[50] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 815. Blatt 18.

[51] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 11.

[52] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 815. Blatt 51.

[53] StadtAL. Krankenhaus Dösen. Nr. 40. Blatt 11.

[54] StadtAL. Krankenhaus Dösen. Nr. 40. Blatt 23.

[55] Kursive Hervorhebungen im Text sind Äußerungen des Verfassers.

[56] Frau Christa K., Leipzig: Interview vom 23. März 2001.

[57] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 847. Blatt 1 f.

[58] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 847. Blatt 9.

[59] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 847. Blatt 14.

[60] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 797. Blatt 178.

[61] StadtAL. Personalakten. St/M Nr. 2212. Blatt 1.

[62] StadtAL. Personalakten. St/M Nr. 2212. Blatt 14.

[63] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 793. Blatt 87 f.

[64] StadtAL. Personalakten. Kap. 10 B Nr. 1334. Blatt 20.

[65] StadtAL. Personalakten. Kap. 10 B Nr. 1334. Blatt 87.

[66] StadtAL. Personalakten. Kap. 10 B Nr. 1334. Blatt 118.

[67] StadtAL. Personalakten. Kap. 10 B Nr. 1334. Blatt 120.

[68] StadtAL. Kap. 10 V Nr. 213. Blatt 11.

[69] StadtAL. Kap. 10 V Nr. 213. Blatt 12.

[70] StadtAL. Kap. 10 V Nr. 213. Blatt 33.

[71] Barch. Personalunterlagen der NSDAP (ehem. BDC).: Vetzberger, Walter, Fachgebiet: Rassenpfleger, Amtsbezeichnung: Obermedizinalrat.

[72] Barch. Außenstelle Zehlendorf.: Vetzberger, Walther.

[73] StadtAL. Kap. 10 V Nr. 213. Blatt 72.

[74] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 835. Blatt 36.

[75] StadtAL. Kap. 10 V Nr. 213. Blatt 138 ff.

[76] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 833. Blatt 70.

[77] StadtAL. Kap. 10 V Nr. 213. Blatt 173.

[78] StadtAL. StVuR. Nr. 1968. Blatt 10.

[79] StadtAL. Kap. 10 V Nr. 213. Blatt 190.

[80] StadtAL. Kap. 10 V Nr. 213. Blatt 192.

[81] StadtAL. Kap. 10 V Nr. 213. Blatt 198.

[82] http://www.dickej.f2s.com/Darstellung/Links/gesetz/gzven.html.

[83] Thom/Caregorodcev: Medizin unterm Hakenkreuz. S. 139.

[84] http://www.uni-leipzig.de/~psy/schroe.html.

[85] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 815. Blatt 9 ff.

[86] StadtAL. Gesundheitsamt. Nr. 793. Blatt 126 ff.

[87] IBN: S. 7366.

[88] Roick: Heilen, Verwahren, Vernichten. S. 23.

[89] Bach: Die Zwangssterilisierung. S. 55.

[90] Diese Aussage bestätigte Prof. Häßler im Interview vom 10. November 2000.

[91] StadtAL. Kapitelakten: Kap. 16 Nr. 5 Bd. 12. Blatt 17.

[92] Verzeichnis des Personenbestands Anfang 1932. S.52.

[93] Verzeichnis des Personenbestands Anfang 1932. S. 52 f.

[94] StadtAL. Kapitelakten. Beiheft 5 Kap. 16 Nr. 5. Blatt 11 ff.

[95] StadtAL. Kapitelakten. Kap. 10/Karte - C 67.

[96] Benzenhöfer: „Kinderfachabteilungen“. S. 83.

[97] Schultz: Dichtkunst, Heilkunst, Forschung. S. 120.

[98] StadtAL. Kapitelakten. Kap. 10 S Nr. 2546. Blatt 1.

[99] Isolde Sigrid Heinzel: Sie wird am 12. Dezember 1906 in Stadt Neugasse (Olmütz) geboren. Seit 1. Oktober 1926 steht sie in städtischen Diensten als Lernschwester am Städtischen Kinder-Krankenhaus Leipzig. Dort arbeitet sie seit 1. September 1937 als Oberschwester. Nach Auslagerung der Kinderklinik in verschiedene umliegende Standorte gibt sie auf einem in russischer und deutscher Sprache verfassten Personalbogen vom 26. Januar 1946 als Arbeitsort: Stadtkinderkrankenhaus Leipzig, Zweigstelle Klinga bei Naunhof, an. Gegenwärtige Stellung: Oberschwester, Ich bin nicht verheiratet und habe keine Kinder. Laut Aussage von Prof. Häßler war auch Prof. Catel während der Auslagerung in Klinga tätig. Als Aussage zu Isolde Heinzels Tätigkeit dort steht ein Schreiben des Stadtkinderkrankenhauses vom 13. März 1946 an das Personalamt II a der Stadt. Dort heißt es: „Die Oberschwester Isolde Heinzel ersucht im beifolgenden Schreiben um Entlassung aus städtischen Diensten. Die Oberschwester Heinzel war zuletzt in unserer Zweigstelle Klinga eingesetzt. Dort haben sich durch das Verhalten ihrerseits sehr unkameradschaftliche Verhältnisse unter der Schwesternschaft entwickelt. Nach eingehender Untersuchung der Verwaltung mit dem Betriebsrat haben wir der Oberschwester Heinzel angeraten, das Dienstverhältnis von sich aus zu lösen. Dem kommt die Oberschwester Heinzel nach. Wir bitten, der Entlassung mit dem 31.3.1946 die Zustimmung zu erteilen. Stempel: Der Betriebsrat des Stadtkinderkrankenhauses Leipzig (unleserliche Unterschrift).“ Mit Zustimmung des Personalamtes ergeht daraufhin eine Entlassungsurkunde mit folgendem Wortlaut: „Ich entlasse die Oberschwester Isolde Heinzel, geboren am 12. Dezember 1906, zum 31. März 1946 auf ihren Antrag. Für ihre der Stadt Leipzig geleisteten treuen Dienste spreche ich ihr meinen Dank aus. Leipzig, am 25. März 1946 In Vertretung (Unterschrift) Weise, Stadtrat.“ Vom 12. Januar 1946 bis zu ihrer Entlassung bzw. ihrem freiwilligen Ausscheiden ist Oberschwester Idsolde wegen Krankheit arbeitsunfähig. Sie leidet unter einem „nervösen Erschöpfungszustand.“ 1947 wird Isolde Heinzel Catels zweite Ehefrau. Für ihre Verdienste um die „Kindereuthanasie“ hatte er in Berlin o. g. „Sonderzuwendungen“ beantragt. (vgl.: StadtAL. Kapitelakten. Kap. 10. H 1121)

[100] StadtAL. Kapitelakten. Kap. 10 S Nr. 2546. Blatt 76 ff.

[101] StadtAL. Kapitelakten. Kap. 10 S Nr. 2546. Blatt 83.

[102] Barch. NS 51/227. Blatt 134.

[103] Barch. NS 51/227. Blatt 142.

[104] Barch. NS 51/227. Blatt 63.

[105] Barch. NS 51/227. Blatt 118.

[106] Barch. NS 51/227. Blatt 142.

[107] Schultz: Dichtkunst, Heilkunst, Forschung. S. 117.

[108] Barch. NS 51/227. Blatt 63.

[109] StadtAL. Kapitelakten. Kap. 10 M Nr. 791. Blatt 24.

[110] StadtAL. Kapitelakten. Kap. 10 M Nr. 791. Blatt 54.

[111] Ebd.

[112] StadtAL. Kapitelakten. Kap. 10 M Nr. 791. Blatt 55.

[113] StadtAL. Kapitelakten. Kap. 10 M Nr. 791. Blatt 58.

[114] StadtAL. Kapitelakten. Karte Kap. 10 (H 1068).

[115] StadtAL. Kapitelakten. Karte Kap. 10 (H 1068).

[116] StadtAL. Kapitelakten. Kap. 10/Karte - C 67.

[117] Ein großer Teil der Kinder wurde mit Luminal getötet. Das geschah, indem man einmal oder mehr­fach den „Kranken“ 0,3 Gramm Luminal täglich verabreichte. Luminal hatte den „Vorteil“, dass die tödliche Wirkung bei stetiger Gabe kleinerer Überdosen erst nach mehreren Tagen eintrat und dann meist als Lungenstauung, oft in Verbindung mit Kreislaufversagen. Dementsprechend wurde als Todesursache in der Regel Pneumonie oder Herzschwäche angegeben.

[118] Prof. Erich Häßler, Jena: Interview vom 10. November 2000.

[119] Ärzteblatt Thüringen: Jahrgang 11 (2000). Heft 8. S. 430.

[120] Prof. Erich Häßler, Jena: Interview vom 10. November 2000.

[121] Prof. Wilhelm Johannes Oehme, Wolfenbüttel: Telefongespräch vom 05. Januar 2001.

[122] Oehme: Fünf Epochen und ein Medizinerleben. S. 45.

[123] Rudolph Degkwitz: Durch intensive Bemühungen des Pädiaters Rudolph Degkwitz, der 1943 aufgrund einer Denunziation des Chefs der Eppendorfer Hautklinik, Paul Mulzer, von der Gestapo verhaftet worden war, wurde bei der Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens wegen Mordes gegen Catel ein so starker öffentlicher Protest ausgelöst, dass er 66jährig vorzeitig emeritierte.

[124] Prof. Erich Häßler, Jena: Interview vom 10. November 2000.

[125] Schultz: Dichtkunst, Heilkunst, Forschung. S. 118.

[126] Roick: Heilen, Verwahren, Vernichten. S. 6.

[127] Roick: Heilen, Verwahren, Vernichten. S. 11.

[128] Ebd.: S. 87.

[129] Ebd.: S. 95 f..

[130] Ebd.: S. 97.

[131] Ebd.: S. 102.

[132] Ebd.: S. 104.

[133] Ebd.: S. 111.

[134] Ebd.: S. 120.

[135] Roick: Heilen, Verwahren, Vernichten. S. 131.

[136] Ebd.: S. 133.

[137] Hermann Paul Nitsche: Er wurde 1876 geboren und war während zwei Phasen Direktor der Dösener Heilanstalt. Im April 1918 übernahm er, aus Pirna-Sonnenstein kommend, die ärztliche Leitung in Dösen. Schon Anfang der zwanziger Jahre setzte er sich in wissenschaftlichen Vorträgen mit der Frage des Ausschlusses geistig Kranker von der Fortpflanzung auseinander. Im Jahre 1925 wurde er vom Sächsischen Innenministerium zum Professor berufen und beriet seit 1927 dasselbe in Anstaltsfragen. Zum 1. August 1928 wurde Nitsche in die Anstalt Pirna-Sonnenstein versetzt, die er bis zu ihrer Umwandlung in eine Vernichtungsanstalt Ende 1939 leitete. Im Januar 1940 kam er an die Heilanstalt Dösen zurück, wo er ab 1. Februar als Anstaltsleiter offiziell die Amtsgeschäfte übernahm. Zu dieser Zeit ließ Nitsche im Auftrag des KdF-Leiters Viktor Brack ein medikamentöses Tötungsverfahren an über einhundert Kranken erproben, das als „Luminalschema“ bereits vorn beschrieben wurde. Am 1. Mai 1940 wurde Nitsche an die „Euthanasie-Zentrale“ in Berlin abgeordnet, wo er zunächst als Obergutachter und seit Dezember 1941 als amtierender medizinischer Leiter der „Aktion T4“ fungierte. Er gehörte zu den Hauptverantwortlichen für die Ermordung von etwa 70.000 Anstaltsinsassen, war Mitorganisator der Tötung arbeitsunfähiger und geisteskranker KZ-Häftlinge, der Judenvernichtungen sowie Initiator der medikamentösen Krankentötungen in der dezentralen Euthanasiephase. Nach dem Krieg wurde er von einem Dresdner Gericht zum Tode verurteilt und am 25. März 1948 durch das Fallschwert hingerichtet.

[138] Roick: Heilen, Verwahren, Vernichten. S. 141.

[139] „Aktion Brandt“: Wie vorn beschriebene Reinstitutionalisierung der Euthanasieaktion ab Jahresmitte 1943 unter der Leitung von Hitlers Leibarzt Dr. Karl Brandt.

[140] Roick: Heilen, Verwahren, Vernichten. S. 160.

[141] Roick: Heilen, Verwahren, Vernichten. S. 115.

[142] Die Daten basieren auf der Arbeit eines leitenden Mitarbeiters des Bezirkskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie, Leipzig-Dösen, der bei seiner Recherche vor der Wende auf 330 Kinderopfer gestoßen war. Diese Opferdaten wurden mit Daten der Abteilung Friedhöfe der Stadt Leipzig abgeglichen.

[143] Es ist anzunehmen, dass der angegebene Todestag nicht stimmt, da in der Regel zur Verbesserung der Pflegesatzeinnahmen, die Todeszeitpunkte nach hinten korrigiert wurden.

[144] Seyde: Stadtinterne Recherche.

[145] Barch. R 179. Nr. 13613. Blatt 8.

[146] Schumann, Ernst Alfred: Er wird am 30. Juli 1887 in Riesa geboren und erlebt eine klassische Verwaltungskarriere. Am 2. April 1906 tritt er in städtische Dienste als Kanzleihilfsarbeiter im Baupolizeiamt A. Seit 1. Januar 1909 ist Schumann in der Gasanstalt II, seit 1. April 1922 in der „flieg. Abteilung“ tätig. Schließlich wechselt er zum 1. April 1924 zum Fürsorgeamt der Stadt. Mustergültig liest sich seine Beförderungsliste. Nach seinem Eintritt als Kanzleihilfsarbeiter wird er am 1. August 1912 zum Hilfsexpedienten befördert. Dem folgen am 1. Januar 1913 die Beförderung zum Expedienten, am 1. April 1920 zum Stadtsekretär. Nach einer Revision der B.O. vom 1. April 1920 wird er rückwirkend zu diesem Datum zum Stadtobersekretär ernannt. Seit 1. Oktober 1927 darf er sich Stadtinspektor, seit 1. Januar 1938 Stadtoberinspektor nennen. Wie aus den Akten hervorgeht, tritt er während seiner Tätigkeit im Fürsorgeamt häufig als Vormund späterer „Euthanasieopfer“ auf. Schumann wird am 4. Juni 1945 fristlos entlassen.

[147] Barch. R 179. Nr. 13613. Blatt 25.

[148] Barch. R 179. Nr. 13613. Blatt 5.

[149] Barch. R 179. Nr. 13613. Blatt 12.

[150] Barch. R 179. Nr. 13613. Blatt 1.

[151] Barch. R 179. Nr. 13613. Blatt 28.

[152] Barch. R 179. Nr. 13613. ungez. Bl.

[153] Roick: Heilen, Verwahren, Vernichten. S. 160 f.

[154] Braune: Denkschrift für Adolf Hitler. S. 27.

[155] T4 Zwischenanstalt Zschadraß, wohin viele Leipziger Opfer zunächst verlegt wurden, um ihre Spur besser verwischen zu können.

[156] Sächsisches Krankenhaus Zschadraß. Patientenarchiv. Akten Nr. G 89.

[157] Ein großer Teil des Personals arbeitet an der Verschleierung und falschen Beurkundung der Tötungen. Man gründet zur Abfassung der Benachrichtigungen an die Angehörigen in den Tötungsanstalten sogenannte „Trostbriefabteilungen“. Die „Trostbriefe“ werden nach einem festen Schema verfasst. Mit knappen Beileidsbezeugungen und unter Hinweis auf die Erlösung des Verstorbenen von seinem unheilbaren Leiden wurde der Tod unter Angabe einer erfundenen Todesursache mitgeteilt. Die sofortige Einäscherung des Leichnams wird mit seuchenpolizeilichen Anordnungen der örtlichen Polizeibehörde begründet. Eine Überführung der Urne wird den Verwandten angeboten, die Kleidung der Toten enthält man ihnen vor, indem man angibt, sie hätte unter einer Desinfektion gelitten und sei deshalb der NSV überlassen worden. Die Unterschrift leistet ein Tötungsarzt mit falschem Namen. Da die Masse der Sterbefälle in den Tötungsanstalten Aufsehen erregt hätte, ordnet die Berliner Euthanasiezentrale die Einrichtung von Sonderstandesämtern innerhalb der Anstalten an, die für die Ermordeten Sterbeurkunden mit erfundenen Todesursachen ausstellen. Diese falschen Sterbeurkunden werden den Trostbriefen beigefügt und an die Angehörigen verschickt.

[158] Dr. Boris Böhm: wissenschaftlicher Mitarbeiter des „Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e. V.“

[159] Schilter: Unmenschliches Ermessen. S. 102.

[160] Schilter: Unmenschliches Ermessen. S. 250.

[161] Barch. R 179. Nr. 83.

[162] Bach: Die Zwangssterilisierung. Anlage 18. Blatt 1 ff.