ENTMÜNDIGUNG Schrullige Frau oder paranoide
Psychose?
Eine
alte Frau wird entmündigt. Ihre Betreuer verkaufen gegen ihren Willen das Haus.
Jetzt versuchen die Behörden mit allen Mitteln zu verhindern, dass über den
Fall berichtet wird. Doch wer schützt hilfsbedürftige Menschen vor derartiger
Betreuung?
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Ein bisschen schmuddelig, das war das Haus an
der Bundesstraße in Kummerfeld, nordwestlich von Hamburg, wohl schon. In dem
Rotklinkerbau und im Garten türmten sich Dinge, die die meisten Menschen als
Abfall bezeichnen würden. Anna S. würde es dagegen wohl ihr Eigentum nennen.
Doch Anna S., die in Wahrheit ganz anders heißt, besitzt nun faktisch kein
Eigentum mehr. Ihr Haus ist verkauft, die Dinge in ihrem Garten haben
Mitarbeiter der Gemeinde containerweise
fortgeschafft. Einige Bäume auf dem Grundstück haben sie auch gleich abgesägt.
"Rechtliche Betreuung" nennt man den Zustand, in dem sich Anna S.
befindet - früher nannte man das nur "entmündigt."
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Anna S. ist 67 Jahre und das, was man
gemeinhin als "Messie" bezeichnet - ein
Mensch, der nichts wegwirft, der alles behält, was ihm in die Hände gerät.
Meist brauchen solche Menschen Hilfe, um den Alltag zu bewältigen. Hilfe hat Anna
S. nun mehr, als ihr jemals lieb war. Dafür haben Annika L. und Rolf S.
gesorgt, ihre beiden rechtlichen Betreuer - so lautet der juristische Ausdruck
für Vormünde. Auch ihre beiden Namen sind geändert. Ob sie ihren Job gut machen
oder nicht, darüber kann man streiten. Schreiben kann man jedenfalls nur schwer
darüber. Dafür sorgt ein Beschluss des Amtsgerichts Pinneberg und ein Berliner
Rechtsanwalt, der sich auf Medienrecht spezialisiert hat.
Gutachten für eine schrullige Frau
Die Geschichte von Anna S. beginnt 2004. Weil die alte Dame ihr mehrere tausend
Quadratmeter großes Grundstück offensichtlich verwahrlosen lässt, fühlen sich
die Beamten des Amtes Pinneberg-Land auf den Plan gerufen. Sie schalten das
Amtsgericht Pinneberg ein. Die Richter lassen zwei Gutachten von der etwas
schrulligen Frau erstellen. Laut dem "Hamburger Abendblatt"
bescheinigt das erste der Frau ein "gesundes Misstrauen", das zweite
dagegen "paranoide Schizophrenie". Anna S. wird unter rechtliche
Betreuung gestellt, das Gericht stellt ihr die beiden Betreuer zur Seite - für
die Richter fast schon Routine.
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Denn bundesweit werden Jahr für Jahr immer mehr Menschen unter
rechtliche Betreuung gestellt, viele davon sind Alzheimer-Patienten. Nach einer
Statistik des Bundesjustizministeriums hat sich die Zahl der zum ersten Mal
unter Betreuung Gestellten zwischen 1994 und 2004 fast verdoppelt und lag in
2004 bei 218.254. Einer völligen Entmündigung kommt eine solche Betreuung noch
nicht gleich: Die Vormundschaft wird vom Gericht nur auf den Lebensbereich
angewandt, in dem sich der jeweils Betreute nicht mehr selbst helfen kann,
beispielsweise in Finanzangelegenheiten.
Für Anna S. bedeutete das: Ihre Betreuer kümmerten sich um ihre Schulden, die
sich Zeitungsberichten zufolge auf 40.000 Euro belaufen haben sollen. Nach
Angaben ihres Anwalts hatte Anna S. viel Geld auf der Bank, und sie besaß
verschiedene Immobilien wie das Haus in Kummerfeld, das ihr besonders ans Herz
gewachsen war. Doch Annika L. und Rolf S. entschieden, ausgerechnet dieses
Haus zu verkaufen - gegen den ausdrücklichen Willen ihrer Betreuten. Käufer war
die Gemeinde Kummerfeld - und damit indirekt die Behörde, die die rechtliche
Betreuung für Anna S. vorschlagen hatte. Die Kommune will das Grundstück nun
komplett neu bebauen lassen.
"Bereichert sich das Dorf?"
Die "Pinneberger Zeitung" und ihr
Mutterblatt, das "Hamburger Abendblatt", begannen, einen Skandal zu
wittern. Eine Reihe von Artikeln erschien, in denen das seltsame
Grundstücksgeschäft in Frage gestellt wurde: "Bereichert sich ein Dorf auf
ihre Kosten?" lautete eine der Überschriften. In dem Beitrag wurde der von
Anna S. engagierte Rechtsanwalt mit den Worten zitiert, möglicherweise habe die
Betreuung ja nur dazu gedient, leichter an das begehrte Grundstück
heranzukommen.
Auch Kummerfelds Bürgermeister, Hanns-Jürgen Bohland,
kam zu Wort: "Wir haben uns wirklich nicht um das Grundstück
gerissen." Alles sei nach Recht und Gesetz gelaufen, versicherte er. In
einer gemeinsamen Stellungnahme stärkten die Fraktionsvorsitzenden von CDU und
SPD Bohland den Rücken. Die Nutznießer-Vorwürfe seien
"absurd".
Eine weitere Berichterstattung wird nun schwerer fallen. Denn Annika L. und
Rolf S. haben anscheinend genug von der Medienkritik. Nach den ersten
Zeitungsberichten im Januar beantragte Rolf S. laut "Hamburger
Abendblatt" im Februar vom Amtsgericht, die Betreuung auszudehnen - und
hatte Erfolg: "Der Aufgabenkreis der Betreuer wird um den Bereich der
Vertretung gegenüber Presse, Fernsehen und gegenüber dem
Behindertenbeauftragten des Landes Schleswig-Holstein erweitert",
verfügten die Pinneberger Richter.
Schwarze Balken verordnet
Mit anderen Worten: Künftig dürfen Medienvertreter nur noch direkt mit den
beiden Betreuern sprechen. Was andernfalls passieren kann, erfuhr das
"Hamburger Abendblatt" umgehend. Mit Hilfe eines Berliner
Medien-Anwaltes setzten die Betreuer eine einstweilige Verfügung durch: Bei der
Androhung eines Ordnungsgeldes in Höhe von 250.000 Euro wird der Zeitung unter
anderem verboten "in die Antragsteller/Antragstellerin (also die Betreuer
und die Betreute) identifizierbarer Weise über den Rechtsstreit zwischen -
gelöscht - und der Gemeinde - gelöscht - oder die Betreuungsverhältnisse zu
berichten..." - ein umfassender Maulkorb für die Presse also. Den darunter
stehenden Artikel verunstalteten über 30 schwarze Balken, mit denen die
Redaktion jeden Namen unkenntlich gemacht hatte.
Die plötzlich erweiterte Betreuung begründen die Richter damit, dass bei Anna
S. eine paranoide Schizophrenie vorliegt, "in der sich die Betroffene von
Personen und Institutionen beeinträchtigt fühlt". Für eine Stellungnahme
gegenüber SPIEGEL ONLINE war das Pinneberger
Amtsgericht bis zum Nachmittag nicht zu erreichen. Nach Ansicht von Sabine Wudtke, der Pressesprecherin des übergeordneten
Landgerichts Itzehoe, kommt es in Betreuungsfällen immer wieder dazu, dass
Betreuungen ausgeweitet werden müssten. "Das ist nicht verwerflich,
sondern ganz normal." Im Fall von Anna S. habe möglicherweise die aktuelle
Berichterstattung und das Medienverhalten der Betreuten eine solche Erweiterung
nötig gemacht.
Klaus Günther Barth, stellvertretender Chefredakteur vom "Hamburger
Abendblatt", zeigt sich gegenüber SPIEGEL ONLINE wenig beeindruckt von der
gerichtlichen Verfügung. Dass mit einer Klage die Betreute beschützt werden
solle, findet er "abstrus". Es sei der Redaktion ja gerade darum
gegangen, die Rechte von Anna S. zu schützen. "Wir bleiben da dran",
sagt er, "soweit uns das rechtlich möglich ist."
Spiegel online 25.3.06