Chemiekampfstoff Medikamente
Pillen gegen den Feind
Westliche Staaten treiben die Entwicklung von
Arzneimitteln als Waffen voran. Jetzt warnen Ärzte vor einer Militarisierung
der Medizin Von Reiner Luyken Am 23. Oktober 2002
pumpten russische Sicherheitskräfte ein unidentifiziertes Gas, vermutlich
handelte es sich um das Betäubungsmittel Fentanyl, in
ein Moskauer Theater. Dort hielten Terroristen 800 Geiseln gefangen. Bei der
Befreiungsaktion starben 130 Geiseln. Man sollte meinen, die tödliche Aktion
hätte abschreckend gewirkt und zur Selbstbesinnung geführt. Das Gegenteil ist
der Fall, nicht nur in Russland. Auch der Westen treibt die Entwicklung von
Arzneimitteln als Waffen energisch voran. Das sei nötig, heißt es im
Kriegerjargon, um »in Krisensituationen über das volle Spektrum von
Eingreifmöglichkeiten« zu verfügen. Unter den acht Teilnehmerländern eines
Fachgremiums der Nato, das sogenannte nichtletale
Waffen untersuchte, taten sich Deutschland und Tschechien als enthusiastische
Befürworter einer Militarisierung der Pharmakologie hervor. Die Tschechen
entwickeln schon seit 2.000 Betäubungsmittel, die »zur
pharmakologischen Kontrolle aggressiven Verhaltens mit Waffen verabreicht
werden können«. Der deutsche Repräsentant betonte die »im Licht der neuen
Sicherheitslage« erwachsene Notwendigkeit einer Modifikation internationalen
Rechts, um den Einsatz chemischer Stoffe bei Geiselnahmen,
Massenausschreitungen oder bürgerkriegsähnlichen Gewalttätigkeiten wie etwa im
Kosovo zu legalisieren. Bei den infrage gestellten Abkommen handelt es sich um
das Genfer Protokoll von 1925 und die 1972 und 1993 vereinbarten Verbote
chemischer Kampfstoffe – Verträge, die sakrosankt sein sollten. Der britische
Ärzteverband wendet sich jetzt lautstark gegen die Militarisierung der Medizin.
Ein vergangene Woche publizierter Bericht bemerkt bissig, es möge ja löblich
sein, wenn Doktoren sich im Kampf gegen den Terror engagierten, doch »wir
glauben nicht, dass es zu den Aufgaben eines Arztes gehört, Waffen zu
entwickeln«. Ärzte, die sich daran beteiligten, verletzten fundamentale
Standesgrundsätze. Der Bericht hält es für nahezu ausgeschlossen, Menschen
mittels Medikamenten kampfunfähig zu machen, ohne ein bedeutsames Tötungsrisiko
einzugehen. Im Klima der Terrorpanik rechtfertigen die Mittel offenbar mit
immer größerer Selbstverständlichkeit das Ziel. Eine Verwandlung von Arzneimitteln
in Waffen eröffnet den Sicherheitskräften neue Perspektiven. Eine hormonale
Deaktivierung des Feindes wäre ebenso denkbar wie ein gezielter Einsatz bewusstseinstrübender Substanzen. Der Fantasie sind leider
keine Grenzen gesetzt.
(C) DIE ZEIT, 31.05.2007 Nr. 23 23/2007