CONTERGAN-SKANDAL

Streit um Fernsehfilm

 

Der an reale Ereignisse angelehnte Spielfilm „Eine einzige Tablette“ wirft die Frage auf, ob die Kunstfreiheit höher zu bewerten ist als Persönlichkeitsrechte und Dokumentationstreue.

 

Fast 50 Jahre nach dem „Contergan-Skandal" ist das Thema in die Medien zurückgekehrt. Behan­delt wird nicht etwa das Schicksal der von der Arzneimittelkatastrophe betroffenen Kinder und ihrer Fami­lien - allein in Deutschland sind es rund 5 000, weltweit mehr als 12.000. Es geht auch nicht um die Frage, was damals eigentlich passiert ist und was versäumt wurde.

Im Mittelpunkt steht vielmehr ein völlig anderes, wenngleich medien- und gesellschaftspolitisch wichtiges Problem, für das man sich im Interesse der Betroffenen allerdings einen anderen Präzedenzfall gewünscht hätte: Ist bei Fernsehfilmen, die sich an reale Ereignisse anlehnen, die Kunstfreiheit höher einzuschätzen als die Persönlichkeitsrechte und die Dokumentationstreue? Können also Spielfilmemacher die Fakten im Sin­ne der Dramatisierung verändern, oder müssen sie dabei auf die ehemals beteiligten Akteure und die historische Wahrheit Rücksicht neh­men und diese möglichst detailgetreu wiedergeben?

Derzeit sieht es so aus, als hätte die Kunstfreiheit obsiegt auch wenn eine letzte Entscheidung zu Einzelpunkten im Hauptsacheverfahren erst am 20. Juli 2007 vom Ham­burger Landgericht getroffen wird. Der Film kann laut Produktionsfirma und WDR ausgestrahlt werden, der Sendetermin ist (noch) unbe­kannt.

Worüber wurde vor Gericht ge­stritten? Im Auftrag des WDR hat die Produktionsfirma Zeitsprung im Jahr 2006 den zweiteiligen Spiel­film „Eine einzige Tablette“ herge­stellt, der den Contergan-Skandal anhand der persönlichen Geschichte des jungen Rechtsanwalts Wegener und seiner Frau, deren Tochter mit rätselhaften Missbildungen zur Weit kommt, beschreibt. Der Anwalt ver­folgt gemeinsam mit Ärzten die Spur der Contergan-Einnahme und vertritt - als der Zusammenhang hergestellt ist - die Interessen der betroffenen Familien (siehe Kasten) Zum glänzend besetzten Schauspielerensemble gehören prominente Dar­steller wie Benjamin Sadler, August Zirner, Katharina Wackernagel und Sylvester Groth.

Auf die Frage, warum er sich ge­gen eine Dokumentation entschie­den habe, sagte der Regisseur Adolf Winkelmann Anfang 2006: „Ich er­zähle erfundene Geschichten. Auch dies ist eine durch und durch erfun­dene Geschichte Sie ist lediglich angelehnt an Ereignisse, die sich da­mals so zugetragen haben. Meine Figuren sind alle erfunden." Winkelmann stellt die Geschichte der betroffenen Familie Wegener in den Vordergrund; „Was kann eine Fami­lie aushalten? Die Emotionen der Menschen - das ist es, was mich in­teressiert"

Die Einschätzung, dass es sich um eine erfundene Geschichte han­dele, konnte der Rechtsanwalt Karl Hermann Schulte-Hilten nicht teilen. Als Vater eines betroffenen Kindes hat er vor nahezu 50 Jahren (gemeinsam mit dem Humangenetiker Dr. Widukind Lenz) wie der Filmanwalt eine Schlüsselrolle bei der Aufklärung des Contergan-Skandals und der Schadensersatzklage Betroffener gegen den Hersteller Grünenthal gespielt. Schulte-Hilten versuchte deshalb, nach Kenntnis des Drehbuchs, aufgrund des Ver­stoßes gegen seine Persönlichkeitsrechte die Ausstrahlung des bereits abgedrehten Films zu verhindern - ohne Erfolg: Im April 2007 wies das Oberlandesgericht Hamburg seine Klage in allen Punkten ab und hob die einstweiligen Verfügungen ge­gen den Film auf.

 

Teil der Firmengeschichte von Grünenthal

 

Auch die Firma Grünenthal wehrte sich gerichtlich gegen den Film in der vorgesehenen Fassung - mit mehr Erfolg als Schulte-Hilten. Al­lerdings wurden auch hier fast alle Beanstandungen abgewiesen. Im Gegensatz zu den agierenden Perso­nen wird der echte Name der Herstellerfirma „Grünenthal“ genannt. Durchsetzen wollte die Firma des­halb, dass historische Fakten be­rücksichtigt werden,

„Contergan ist und bleibt Teil un­serer Firmengeschichte“ erklärte Grünenthals geschäftsführender Ge­sellschafter Sebastian Wirtz. „Wir setzen uns daher für eine historisch korrekte Aufarbeitung des Themas ein. Bei diesem Film wird der Zu­schauer allerdings nicht unterschei­den können, was wahr ist und was unwahr." Eine außergerichtliche Ei­nigung der beiden Parteien war nicht zu erzielen, da die Firma auf Änderungen insistierte, die die TV-Produktionsfirma ablehnte,

 

Unterschiedliche Interpretationen

 

Der Ausgang der verschiedenen Verhandlungen vor dem Landgericht und dem Oberlandesgericht Ham­burg wird von den Parteien indes unterschiedlich interpretiert: Der WDR frohlockte und sieht den Weg prinzipiell frei für eine Ausstrah­lung. Grünenthal teilte mit, dass es Änderungen gegenüber dem ur­sprünglichen Drehbuch in mehreren Punkten gegeben habe. Die Firma weist auf mündliche Ausführungen der Richterin im Urteil sowie auf die Pressemitteilung de« Gerichts hin, dass die Firma sich in stärkerem Maß, als dies zum Ausdruck kom­me, durchgesetzt hätte, da die Fil­memacher bereits mehrere Schlüsselszenen herausgeschnitten hätten,

In der Tat heißt es in der Presse­mitteilung des Oberlandesgerichts vom 10. April 2007: „Dabei ist zu berücksichtigen, dass die einstweili­ge Verfügung zu einer Zeit erging, als der Film noch nicht vorlag, und einige Szenen, die ursprünglich im Drehbuch vorhanden waren und ver­boten wurden, nicht oder verändert in den Film übernommen worden sind.“ Das Gericht erklärt seine Ent­scheidung so: „Der Senat hat bei seiner Abwägung berücksichtigt, dass es sich bei dem Spielfilm um ein Kunstwerk handelt, das nicht den Anspruch erhebt, in allen Details die damaligen Ereignisse dokumentarisch abzubilden. Das Grünenthal zu­stehende Recht der Unternehmens Persönlichkeit ist hier von relativ geringem Gewicht, da die dargestellten Ereignisse rund 40 Jahre zurücklie­gen und kein Mitglied der Firmenlei­tung aus der damaligen Zeit noch für das Unternehmen tätig ist"

Die Produktionsfirma verneint, auf Eingabe von Grünenthal hin nachträglich Veränderungen in Schnitt und Inhalt des Films vorgenommen zu haben. Der Film habe immer in unveränderter Fassung vorgelegen: Änderungen am Drehbuch während des Produktionsprozesses seien üblich.

Außerdem wurde vereinbart, dass jeweils vor der Ausstrahlung beider Teile ein Vor- und Abspann laufen soll der den Fiktionscharakter des Films deutlich macht. Über den Fortgang des Hauptsacheverfahrens, daß nach Abschluss des laufenden Verfahrens am 20. Juli 2007 über die einstweiligen Verfügungen wieder aufgerollt und seinen Weg bis zum Bundesverfassungsgericht nehmen kann, hat die Firma Grünenthal noch nicht entschieden. Dies würde freilich Jahre dauern und könnte eine zwischenzeitliche Ausstrahlung nicht verhindern.

Und was sagen die Betroffenen dazu? Im März 2007 veröffentlichte der Bundesverband Contergangeschädigter e.V., Köln, eine Stellung­nahme zu den Vorgängen um die Ausstrahlung des Films, die eine Parteinahme für eine der Positionen ablehnte (www.contergan.de). Bei der Vorbereitung des Films hatte man den Verein kaum einbezogen; auch das Drehbuch liegt diesem bis heute nicht vor. Die Aufarbeitung in einem Spielfilm, der die emotionale Aufarbeitung der Arzneimittelkatastrophe ermöglicht, hält der Ver­band für grundsätzlich für sinnvoll, Allerdings: „Nur eine korrekte Be­richterstattung kann im Sinne der Betroffenen sein“, heißt es in der Stellungnahme. Im konkreten Fall habe der Verband daran Zweifel. Grünenthal solle allerdings nicht geschont werden, da der Name im­mer in Verbindung mit der Katastro­phe verbunden bleibe.

 

Filmalternativen zur Aufarbeitung des Skandals

 

Für die mediale Rückschau und Aufarbeitung der Katastrophe ist der Zuschauer glücklicherweise nicht nur auf den Spielfilm angewiesen. Im Jahr 2003 strahlte die ARD die exzellente Dokumentation „Contergan - die Eltern" aus; 2004 folgte die preisgekrönte Dokumentation „Der Contergan-Skandal - Die grüß­te Katastrophe der Medizin nach dem Krieg“, die sich mit dem weite­ren Leben der Betroffenen beschäf­tigte. Im Zusammenhang mit dem Spielfilm könnte durch Wiederho­lung der Beitrüge eine echte Aufar­beitung möglich werden.

Es ist zu hoffen, dass im Sinne der Betroffenen der Jahrestag der Contergan-Katastrophe im Herbst vom Verantwortungsbewusstsein der Medienmacher für das sensible The­ma geprägt wird und nicht der Prozess um die Kunstfreiheit im Vor­dergrund steht.

 

- Annette Tuffs

 

Kurzinformation des WDR

zum Film »Eine einzige Tablette"

 

Ende der 50er-Jahre hat dar aufgebende Anwalt Paul Wegener allen Grund, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Die Bemühungen seines Sozius, Horst Bauer, für Ihre neu gegründete Kanzlei zahlungskräftige Mandanten aus der Industrie zu gewinnen, trägt erste Früchte, und bei seiner Frau Vera ist ein Kind unterwegs. Schnell vergessen ist da ein scheinbar unbedeutender Scheidungsfall bei dem ein Kind im Spiel ist, das mit schweren Missbildungen zur Welt ge­kommen ist. Erst als seine eigene Frau Vera auch ein missgebildetes Kind zur Welt bringt, dämmert ihm, dass zwischen den beiden Geschichten ein Zusam­menhang besteht. Sollte das Medikament Contergan schuld an den Missbildun­gen sein, jenes Präparat, das ausgerechnet von derjenigen Firma produziert wird, die sein Sozius - dessen Frau Hanne ebenfalls schwanger ist - als Kunde gewinnen will? Auf Drängen seiner Frau setzt Paul alles daran, der Herstellerfir­ma den Prozess zu machen. Dennoch dauert es Jahre, bis der Staatsanwalt Feddersen in dem Fall die Ermittlungen aufnimmt. Als Pauls Tochter eingeschult wird, ist es endlich so weit: Das Verfahren ist eröffnet. Pauls Kampf gegen das mächtige Unternehmen und dessen Anwalt Naumann, der Kampf von David ge­gen Goliath geht weiter…

 

Deutsches Ärzteblatt, Jg. 194, Heft 25, 22. Juni 2007

 

Im  CONTERGAN-SKANDAL haben sich die Arzneimittelhersteller ebenso schäbig gezeigt wie beim AMALGAM-SKANDAL heute!