Blinde sollen schon bald mit Mikrochips sehen

 

Ärzte starten Pilotstudie mit einer Augenprothese

 

VON ALEXANDER GALDY Blinde, die wieder sehen können – das klingt wie ein Wunder. Und vielleicht wird es schon sehr bald wahr: Nach jahrelanger Forschung wollen deutsche Wissenschaftler jetzt zum ersten Mal elektronische Sehimplantate an erblindeten Menschen testen. Noch in diesem Jahr werden acht Patienten der Uniklinik Tübingen im Auge einen Mikrochip tragen, durch den sie wenigstens teilweise wieder sehen können.

 

Drei Millimeter groß und 0,1 Millimeter flach ist der Mikrochip, der unter die Netzhaut (subretinal) implantiert wird. „Wir erwarten, dass die Patienten damit zumindest Türen und Fenster erkennen können, im optimalen Fall auch Gesichter“, erklärt Eberhard Zrenner, Direktor der Augenklinik Tübingen. Die Pilotstudie ist in dieser Form weltweit einzigartig. Sie kann vielen Hoffnung geben, aber nicht allen. „Wer von Geburt an blind ist, wird leider nicht von der Entwicklung des Mikrochips profitieren“, betont Zrenner.

 

Maximal ein Viertel der rund 150 000 Blinden in Deutschland könnte mit dem Implantat ein wenig Sehkraft zurückbekommen. Der Chip hilft nur jenen Menschen, bei denen die Erblindung auf einer fortschreitenden Degeneration der äußeren Netzhaut (Retina) beruht. Dies ist bei Patienten mit erbbedingter Retinitis Pigmentosa oder altersbedingter Makuladegeneration der Fall. Nach und nach schädigen diese Krankheiten die Sinneszellen der Netzhaut, die Stäbchen und Zapfen, bis diese absterben. Lichtsignale können somit nicht mehr in elektrische Impulse umgewandelt werden, die notwendig sind, um im Gehirn ein Bild entstehen zu lassen.

 

Zunächst ist der Blick der Betroffenen bei Teilen des Sehfeldes getrübt. Mit der Zeit schränkt sich das Blickfeld immer weiter ein. Es kommt zum so genannten Tunnelblick. Am Ende steht totale Blindheit. Eine Heilung mit Medikamenten gibt es bisher nicht.

 

Bei Netzhautdegeneration und Retinitis Pigmentosa

 

Doch im Unterschied zu von Geburt an Blinden sind bei jenen mit Retinitis Pigmentosa und Makuladegeneration bestimmte Nervenzellen in der Netzhaut noch intakt. Die Übertragung von Signalen ist noch möglich.

 

Und hier setzen die Tübinger Wissenschaftler an. Der Mikrochip übernimmt die Aufgabe, die in einem gesunden Auge Stäbchen und Zapfen erfüllen. Fällt ein Lichtsignal auf das elektronische Implantat, wird es mit 1500 Elektroden in elektrischen Strom umgewandelt.

 

Diese Impulse regen die noch intakten Zellen der Netzhaut ebenso an, wie es die Stäbchen und Zapfen bei einer gesunden Netzhaut tun würden. Über den Sehnerv schicken dann die Nervenzellen Signale zum Gehirn, wo dann ein Bild entsteht.

 

Bisher testete die Tübinger Forschungsgruppe ihr Verfahren nur an Tieren. Sie konnten mit Messung der Hirnströme nachweisen, dass Signale in dem für das Sehen zuständigen Bereich des Hirns der Versuchstiere ankamen. Doch was die Tiere genau sahen, weiß keiner. Genauere Erkenntnisse werden erst die Berichte der acht Patienten liefern, die den Mikrochip zunächst für 30 Tage tragen werden.

 

„Wir gehen von einer pastellartigen einfarbigen Lichtwahrnehmung aus“, meint Reinhard Rubow, einer der beiden Vorstände der Retina Implant AG in Reutlingen, die den Chip für Zrenners Sehkonzept herstellt. Zusammen mit seinem Kollegen Walter Wrobel bereitet Rubow bereits die Zulassung des Chips vor.

 

Doch zunächst steht den acht Probanten der Studie eine etwa einstündige Operation an einem Auge bevor. Der Chirurg entfernt dafür durch eine kleine Öffnung an der Seite des Auges den Glaskörper, eine gelartige Flüssigkeit, die den Augapfel ausfüllt. Dann erfolgt ein Einschnitt an der Stelle auf der Netzhaut, wo die Lichtstrahlen auftreffen.

 

Der Arzt spritzt eine Flüssigkeit unter die Netzhaut, die sich so vom so genannten Pigment- Epithel abhebt. Der Chip wird in die so entstandene Blase eingesetzt. Die Flüssigkeit wird abgesaugt und die Netzhaut presst den Chip gegen das Nervengewebe. Das Implantat ist nun sicher fixiert. Silikonöl oder Gas dienen als Ersatz für den entnommenen Glaskörper.

 

Seit Jahren forschen Wissenschaftler überall auf der Welt. Verschiedene Systeme wurden auch schon entwickelt. So zum Beispiel auch Sehprothesen auf der Netzhaut (epiretinal), die ihre Signale von einer kleinen Kamera auf dem Brillengestell bekommen.

 

Laut Wrobel hat der in Tübingen und Reutlingen entwickelte Chip einige Vorteile gegenüber den Kontrahenten. Und das sei nicht nur die bessere Auflösung: „Unser Implantat bewegt sich mit dem Auge mit. Man muss nicht den ganzen Kopf drehen wie bei einer Kamera am Brillengestell, um etwas zu sehen.“

 

Das supretinale Implantat müsse auch nicht wie das epiretinale mit einem Spezialnagel im Auge befestigt werden. Vor allem sei es von außen nicht sichtbar. Fremde sehen daher nicht, dass der Betroffene eine Behinderung hat. „Und das ist für Blinde sehr wichtig“, meint Wrobel.-

 

Den Preis für das Implantat schätzt der Vorstand von Retina Implant auf 30 000 Euro. In diesem Bereich liegen auch die Kosten für andere Implantate, wie zum Beispiel für das Innenohr. Auf die Pilotstudie soll im kommenden Jahr eine Langzeitstudie folgen. Dann wird der Chip schon weiterentwickelt sein, was die Stromversorgung angeht. In der aktuellen Version läuft die Stromversorgung über dünne Golddrähte zu einer externen Stromquelle. Später einmal soll eine kleine Spule hinter dem Ohr, ganz ohne Drähte und allein durch induktive Stromübertragung, die Arbeit des Implantats unterstützen.

 

Quelle: Merkur Online 14.10.2005