Blei macht blöd ­_ Lösemittel können lähmen

Blei macht blöd, Lösemittel lahmen, Quecksilber geht ins Gehirn: Umweltgifte greifen auf vielfältige Weise das Zentrale Nervensystem des Menschen an. Neben den klassischen Luftschadstoffen, die Lunge und Atemwege schädigen, bereiten daher Nervengifte wie Schwermetalle und Lösemittel den Umweltmedizinern die größten Sorgen so das Ergebnis des Internationalen Kongresses für Umweltmedizin, zu dem in der vergangenen Woche knapp 1000 Mediziner aus 30 Ländern nach Duisburg gekommen waren.

Zu den schlimmsten Nervengiften zählen Lösemittel, die aus Farben und Lacken, Kleb- und Kunststoffen ausdünsten. Gefährdet sind Maler, Lackierer und Chemiearbeiter. „Obwohl wir die Zusammenhänge seit 60 Jahren kennen, ist die chronische Lösemittel Vergiftung erst seit. 1988 als Berufskrankheit anerkannt", berichtet Dr. Holger Altenkirch vom Krankenhaus Spandau/Berlin. Die Lösemittel-Enzephalopathie (Gehirnerkrankung) tritt in drei Schweregraden auf: im ersten Stadium klagen die Betroffenen über Kopfschmerz, Müdigkeit, Gedächtnisstörungen; allerdings kann der Arzt in der Regel keinen organischen Befund feststellen. Messbare Veränderungen bei der Hirnstrommessung stellen sich erst nach einer zehnjährigen Belastung mit überhöhten Lösemittel-Konzentrationen, etwa am Arbeitsplatz, ein.

Im dritten Stadium schließlich sind Koordination und Empfinden schwer geschädigt, totale Lähmungen einzelner Gliedmaßen möglich. Altenkirch dokumentierte derartige Fälle bei jugendlichen Klebstoff-Schnüfflern. Ein 16jähriger, der nur ein halbes Jahr lang toluolhaltigcn Klebstoff geschnüffelt hatte, konnte nur noch in einer Kombination aus „Hahnen- und Storchentritt" durch die Gegend staksen, konnte nicht mehr selbständig aufstehen, die Arme nicht mehr koordiniert bewegen. Ein 19jähriger, der zwei Jahre lang an der Tüte gehangen hatte, konnte gar nur noch auf dem Bett liegen.

Typisch für Lösemittelvergiftungen ist, dass die Symptome zurückgehen, wenn das Gift „abgesetzt" wird. Bis eine schwere Lähmung verschwindet, können allerdings Jahre vergehen; psychische und organische Störungen, etwa Persönlichkeitsveränderungen oder eine Hirnschrumpfung, bessern sich nie mehr vollständig.

Weit subtiler macht sich die chronische Vergiftung mit Blei bemerkbar. David Bellinger vom Children's Hospital in Boston/ USA diagnostizierte bei Kindern, die vor der Geburt (über die Mutter) starken Bleikonzentrationen ausgesetzt waren, einen um bis zu acht Punkte verringerten Intelligenzquotienten. Bellinger: „Im Schnitt sind diese Kinder vier bis sechs Monate hinterher." Wenn die Bleiexposition nach der Geburt verringert wird, kann das Defizit zwar im Laufe der Jahre ausgeglichen werden. Bleibt die Exposition aber hoch, stellen sich Leseschwäche und allgemeine Schulprobleme ein. Auch vor dem Hintergrund sinkender Bleikonzentrationen

(durch die Einführung bleifreien Benzins) sieht Bellinger keinen Grund zur Entwarnung: „Analysen von Knochenfunden aus prämetallurgischen Zeitaltern haben ergeben, dass die heutige Belastung mit Blei hundert- bis tausendfach höher liegt." Bedrückend sei dies vor allem vor dem Hintergrund, dass Blei bereits in sehr geringen Konzentrationen wirke: „Da gibt es keinen sicheren Grenzwert."

Wie Blei wird auch Quecksilber im Nervensystem, vor allem im Gehirn, eingelagert. Während die biologische Halbwertszeit, im Blut bei wenigen Tagen liegt, beträgt, sie im Gehirn mehrere Jahre. Die Vergiftung erfolgt in der Regel über den übermäßigen Genuss von Raubfischen (Hecht, Hai), aber eben auch durch Amalgam-Füllungen, die Quecksilber ausdampfen. Klassische Symptome einer chronischen Quecksilbervergiftung sind Zittern, Ängstlichkeit, Schlafstörungen, Allergien, aber auch eine generelle Schwächung des Immunsystems. Auch beim Quecksilber gebe es „keinen sicheren Grenzwert, weil Teile der Bevölkerung offenbar sehr empfindlich gegen Quecksilber sind - besonders Kinder", führte der schwedische Wissenschaftler Lars Friberg in Duisburg aus. Die schwedische Regierung erwägt daher für 1995 ein Verbot von Amalgam-Füllungen für Kinder. In Deutschland haben immerhin rund 1,6 Millionen Menschen „erhöhte" Quecksilberwerte im Blut, bei rund 50 000 Menschen erreicht der Wert eine „bedenkliche" Höhe, schätzt das Bundesgesundheitsamt. Hierzulande ist dies vor allem auf Amalgam zurückzuführen: So liegen die Quecksilber-Werte im Blut bei Menschen mit mehr als zehn Zahnfüllungen im Schnitt fünffach höher als bei Menschen ohne „Plombe".

Stuttgarter Nachrichten 2.3.1994