1976
Benzodiazepinentzug mit Physostigmin entdeckt
Wiederholt
kam eine 35 jährige benzodiazepinsüchtige Frau nach einer Überdosierung von
Valium benommen und mit unsicherer Atmung durch den Notarzt der Feuerwehr zu
uns stationär auf die Tox. Nach Abklingen der Vergiftung rutschte sie stets in
ein Valium- Entzugsdelir. Dies dauerte 14 Tage auf der Intensivstation.
Weiterführende Behandlungen lehnte sie stets ab und kam nach wenigen Wochen mit
demselben Bild wieder zur Aufnahme.
Eines
Tages war ich gerade in der Aufnahmestation als sie erneut mit Atemstillstand
nach etwa 20 Tabletten Valium 10 und 3 Gläsern Rotwein
zur
Aufnahme kam. Um sie nicht intubieren und lange beatmen zu müssen, spritzte ich
ihr 2,5 ml Physostigminsalicylat, den Gegenspieler von Valium in den Muskel.
Nach 10 Minuten begann sie wieder selbst zu atmen, nach 20 Minuten öffnete sie
mühsam die Augen und man konnte mit ihr reden. Die Pulsfrequenz fiel ab und die
vorher heiße Haut wurde aschfahl und kalt (eine normale Wirkung des Antidots).
Etwa 12 stündlich musste die gleiche Dosis wiederholt werden gegen die
Vergiftungssymptomatik. Nach der 5.Ampulle blieb sie wach.
Überraschenderweise
stellten wir fest, dass sich diesmal kein Entzugsdelir anschloss. Auch war die
Patientin erstmalig bereit, über ihre Abhängigkeit zu reden und Angebote für
eine sanfte Entwöhnung in einer erfahrenen Gruppe der „Anonymen Alkoholiker“
anzunehmen. Jahrelang meldete sie sich am Jahrestag dieser Vergiftung, bekam
gesunde Kinder und zog in eine andere Stadt.
Im
Tox-Labor fanden sich sehr hohe Blutspiegel durch die akute Vergiftung mit
Valium, die sich auf die schwere, lange Abhängigkeit von Benzodiazepinen
draufgesetzt hatte. Der Alkoholblutspiegel war mit 2,3 Promille auch hoch.
Danach
untersuchte ein Doktorand systematisch 50 ähnliche Fälle und bestätigte die
Erstbeobachtung voll und ganz. Die Rückfallquote lag bei 10%.
Er
machte auch eine Vergleichsstudie mit Flumazenil, dem echten Gegenspieler von
Benzodiazepinen. Im Prinzip war das Ergebnis sehr ähnlich, nur war es sehr
schwierig den Zeitpunkt für die erneute Antidotgabe zu bestimmen: anfangs
dreistündlich ein viertel der 10ml Ampulle, dann sechsstündlich diese Dosis,
zuletzt zwölfstündlich diese Dosis.
Der
Preis der Antidote betrug ein Vielfaches, die Nebenwirkungen (Schweiß,
Ängstlichkeit, Depression) war viel geringer, jedoch lag die Rückfallquote
viermal so hoch als beim Physostigmin. Die Aufhebung der anticholinergen
Wirkung greift am Dopaminsystem auf, der Stelle an der die Suchtwirkung der
Benzodiazepinen liegt.
Wenn
man bedenkt, dass bei den langwirkenden Benzodiazepinen der körperliche Entzug
etwa 6 Wochen beträgt, die psychische Abhängigkeit etwa 12 Monate beträgt,
versteht man erst, was es bedeutet, hier einen Turboentzug binnen 10 Tage durchzuführen.
Im
letzten Jahrhundert haben manche Kliniken sogar über Wochen (und Monate) einen
Entzug mit „Ausschleichen“ der Dosis praktiziert, was
die psychische Belastung der Süchtigen auf die Folter spannt und – nur – den
Arzneimittelhersteller erfreut. Die Rückfallquote lag bei 100%!
(Auszug aus meiner neuen Biografie)