Arzneimittel-Tollhaus Deutschland

Von Kurt G. Blüchel, 5. Jan 2007 

Das Diktat des Überflusses. Eine Bestandsaufnahme der gigantischen 

Verschwendungen im deutschen Medizinbetrieb von Kurt G. Blüchel

 

Der von Bundesregierung und Opposition ausgehandelte 

Gesundheitskompromiss gebietet der systematischen Plünderung der 

Krankenkassen durch medizinische Überversorgung kaum Einhalt. Die 

Verschwendungsorgie im Gesundheitswesen koste die Versicherten aber 

jährlich fünfzig Milliarden Euro, kritisiert Kurt G. Blüchel

Ausländische Pharma-Multis erfänden völlig neue Massenkrankheiten, um 

den deutschen Markt für Arzneimittel zu vergrößern. Die Schulmedizin 

verkomme zur Quacksalberei; ihre Misserfolge machten das 

Gesundheitswesen unbezahlbar. Und die Politik kuriere den Medizinbetrieb 

zu Tode.

 

Der weltberühmte Arzt Ferdinand Sauerbruch, Chef der Berliner Charité im 

Dritten Reich, wurde einmal zu einem Notfall in seiner eigenen Familie 

gerufen. Bei dem schwer kranken Patienten handelte es sich um den Hund 

seiner Tochter. Nach dem Eingriff kommentierte er das Resultat seiner 

Bemühungen mit jener Bemerkung, die als geflügeltes Wort zu 

zweifelhaftem Ruhm gelangen sollte: "Operation gelungen, Patient tot."

 

Vor einem ähnlich jammervollen Schicksal steht vermutlich das soeben von 

Regierung und Opposition verabschiedete Gesundheitsreförmchen. Sein 

größter Fehler: Rücksichtnahme auf vordemokratische Systemstrukturen. 

Sein größtes Handicap: Nichtberücksichtigung eines rasant wachsenden 

Verschwendungspotenzials. Nicht etwa leere Kassen treiben den schwer 

angeschlagenen Medizinbetrieb in die Katastrophe, sondern die maßlose 

Vergeudung des Beitrags-Reichtums durch nimmersatte Interessengruppen.

 

Die Diagnose ist unstrittig, und sie gibt wenig Anlass zur Hoffnung: Das 

deutsche Gesundheitswesen, einst das Mekka der Medizin und 

jahrzehntelang von Experten im In- und Ausland als vorbildlich 

gepriesen, ist enorm überteuert und gleichzeitig unglaublich 

ineffizient. Im Ergebnis produziert es inzwischen mehr Kranke als 

Gesunde. Die Versicherten zahlen für die Luxusklasse, der Service 

allerdings ist - von rühmlichen Ausnahmen abgesehen - drittklassig. 

Dieses Fazit legen nicht nur internationale Studien mit zum Teil 

vernichtender Urteilsbegründung nahe, die beispielsweise der deutschen 

Herzmedizin - für viele das Filetstück unseres Medizinbetriebs - weit 

gehende Inkompetenz bescheinigen. Beschämender noch ist der 

Qualitätsstandard der deutschen Krebsmedizin, die seit Jahren im 

internationalen Ranking das Schlusslicht bildet. Mittlerweile ist selbst 

die wenig verwöhnte "Kundschaft" unzufrieden: Mehr als die Hälfte aller 

Deutschen bewerten nach jüngsten Umfragen die Qualität der 

"Leistungserbringer" im Medizinbetrieb als mangelhaft, in vielen 

Bereichen gar als völlig ungenügend. Hauptkritikpunkte: falsche und 

überflüssige Diagnosen sowie unsinnige und riskante Behandlungsmethoden.

 

Durchleuchtungswahn

In Deutschland werden jährlich rund 1250 Röntgenuntersuchungen pro 1000 

Einwohner vorgenommen. In den Niederlanden und Schweden liegt diese Zahl 

zwischen 500 und 600. Dabei ist die ärztliche Versorgung in diesen 

Ländern auf Grund europäischer Vergleichsstudien erheblich besser als 

bei uns. Auf bis zu 50 Prozent der jährlich rund 100 Millionen von 

Internisten, Orthopäden, Chirurgen und Ärzten anderer Fachrichtungen 

durchgeführten Röntgenuntersuchungen könnte verzichtet werden, ohne dass 

die Qualität des ärztlichen Handelns darunter leiden würde - 

Einsparpotenzial: eine Milliarde Euro. Prof. Dr. Horst Kuni von der 

Universität Marburg weist darauf hin, dass infolge von 

Röntgenuntersuchungen in Deutschland etwa 50 000 Menschen jährlich an 

Krebs erkranken, 15 000 davon sterben.

 

Von den jährlich rund 200 000 an deutschen Kliniken vorgenommenen 

Gebärmutterentfernungen ist "mindestens jede Zweite überflüssig". Bei 

Frauen, denen auf Grund von Bauchbeschwerden der Blinddarm entfernt 

wurde, stellte sich laut Prof. J. Waninger von der Universität Freiburg 

heraus, dass in 75 Prozent aller Fälle die Beschwerden auch nach dem 

Eingriff noch vorhanden waren. Bei 40 Prozent aller Eierstockoperationen 

lag nach Prof. Dr. H. Koester, ehemaliger Direktor der Frauenklinik der 

Städtischen Kliniken Dortmund, keine ausreichende medizinische 

Begründung vor.

 

Die Zahl der Herzkatheter-Labors hat sich in den letzten zehn Jahren 

verdoppelt. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der Katheteruntersuchungen 

um 250 Prozent auf rund 490000 angestiegen. "Sicher wird heute zu viel 

und zu unkritisch katheterisiert", erklärt Dr. Ernst Giert vom Städtischen 

Krankenhaus Offenbach. Aber: "Wer einen Hammer hat, tendiert dazu, jedes 

Problem für einen Nagel zu halten." Die Zahl der Ballondilatationen (mit 

Ballondilatationen werden Verengungen der Herzkranzgefäße aufgesprengt) 

ist gar um 400 Prozent angestiegen. Mit 4267 

Linksherzkatheter-Untersuchungen pro eine Million Einwohner liegt 

Deutschland in Europa mit Abstand an der Spitze. Im europäischen 

Durchschnitt, so ist einem Herzbericht der obersten 

Landesgesundheitsbehörden zu entnehmen, wurden 1873 

Linksherzkatheter-Untersuchungen pro eine Million Einwohner 

durchgeführt. Die meisten Herzkatheter-Untersuchungen werden anscheinend 

nur um ihrer selbst willen gemacht, es schließt sich keine Therapie an. 

"Da kann man schon auf die Idee kommen", so der Berliner Herzspezialist 

Professor Eckart Fleck, "dass mancher Kardiologe mehr für sein Konto als 

für den Patienten arbeitet."

 

Deutschland nimmt im internationalen Vergleich mit rund 70 Betten je 10 

000 Einwohner einen Spitzenplatz ein. Gleichzeitig dauert die 

Krankenhausbehandlung hier zu Lande mit durchschnittlich 12 Tagen je 

Krankenhausfall am längsten. Der Grund: Die Betten müssen belegt sein. 

Regierungsberater Professor Karl W. Lauterbach rechnete vor, dass hier 

zu Lande etwa 230 000 (von rund 550 000) Klinikbetten abgebaut werden 

müssten, um auf den internationalen Durchschnittswert zu kommen. Das 

Sparpotenzial beläuft sich in diesem Bereich auf rund 20 Milliarden Euro.

 

Unnötige Überdiagnostik

Bei der Krebsdiagnostik könnten nach Prof. Dr. Henning König von der 

Universität Erlangen bis zu 25 Prozent der Kosten eingespart werden. Die 

Einsparungen seien möglich, ohne dass die Qualität der Diagnosen und der 

nachfolgenden Behandlung leidet. Es sei lediglich erforderlich, auf die 

gegenwärtige "unnötige Überdiagnostik" zu verzichten - damit könnte 

gleichzeitig Zehntausenden von Patienten viel Leid erspart werden. 

Jedoch: "Das im Gesundheitssystem erbrachte Leistungsspektrum orientiert 

sich primär - völlig zu Recht - an den wirtschaftlichen 

Überlebenschancen der Leistungserbringer und nicht an den Bedürfnissen 

der Leistungsnehmer" (Patienten), wie einem Leitartikel des Deutschen 

Ärzteblattes zu entnehmen war.

 

Eine von der Schwäbisch Gmünder Ersatzkasse in Auftrag gegebene Studie 

ergab, dass 30 Prozent aller Knie-Operationen überflüssig sind und 

darüber hinaus 50 Prozent der Operierten mit dem Ergebnis nur bedingt 

oder gar nicht zufrieden waren. Andererseits ist es, wie Professor Jani 

in der Ärztezeitung Medical Tribune darlegte, innerhalb von nur drei 

Jahren zu einem Anstieg arthroskopischer Eingriffe von 600 Prozent 

gekommen. Bei 442 kontrollierten Spiegelungen des Magens waren 43 

Prozent medizinisch unbegründet.

 

Deutsche Chirurgen amputieren bei Zuckerkranken viel zu häufig: In 

unseren Kliniken werden pro Jahr fast 30 000 Amputationen vorgenommen. 

"Das sind viel mehr als in anderen europäischen Staaten wie Frankreich, 

den Niederlanden, Italien und den skandinavischen Ländern", sagte Hans 

Henning Wetz von der Universität Münster. "Es könnten 8000 bis 10 000 

weniger sein." Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Deutschland 

schon vor Jahren in einer Deklaration aufgefordert, die Amputationen bei 

Zuckerkranken zu halbieren.

 

Derzeit werden auf Grund von jährlich vier Millionen "grauen 

Mammographien" 100 000 Frauen operiert, die nicht operiert werden 

müssten, wenn stattdessen mit der Qualität der europäischen 

Nachbarländer wie zum Beispiel der Niederlande gescreent würde, heißt es 

in einem Gutachten des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion 

im Gesundheitswesen. Von den jährlich 100 000 operierten Frauen sterben 

im Schnitt 4000.

 

Überflüssige, d. h. medizinisch unbegründete Operationen werden fast 

allen Fachgebieten vorgeworfen. Insgesamt sollen sich von den jährlich 

acht Millionen vorgenommenen Eingriffen etwa die Hälfte als nicht 

notwendig erweisen. Der Münchner Medizin-Informatiker Wilhelm von 

Eimeren warnte vor allzu unspezifischen Massentests. Damit drohen die 

Deutschen zu einem "Volk von Vorsorgegeschädigten" zu werden.

 

Falls das Verhalten der Ärzte selbst und ihrer Familienangehörigen zum 

Maßstab genommen würde, könnten nach Schätzungen von Experten allein 30 

Millionen Krankenhaustage oder ca. 22 Milliarden Euro eingespart werden 

- aber auch Zehntausende von Toten sowie Hunderttausende 

Medizingeschädigte pro Jahr verhindert werden. Bei Operationen der 

Gallenblase liegt die Eingriffshäufigkeit 84 Prozent höher, bei 

Hämorrhoiden-Operationen 83, bei Gebärmutteroperationen 53 Prozent und 

bei Mandeloperationen immer noch 46 Prozent höher als bei Ärzten und 

ihren Familienangehörigen. Lediglich bei Blinddarmoperationen liegen die 

Vergleichszahlen bei der übrigen Bevölkerung mit acht Prozent nur 

unwesentlich höher als bei Ärzten. Dafür lehnen fast 95 Prozent der 

Ärzte für sich und ihre Familienangehörigen eine Chemotherapie bei Krebs 

ab.

 

Das Wissenschaftliche Institut der Allgemeinen Ortskrankenkassen hat 

errechnet, dass die Lebenserwartung der Bevölkerung im gleichen Maße 

sinke wie die Arztdichte in Ballungsräumen zunehme. Der renommierte 

Medizinpublizist Dr. med. Hans Halter ist auf Grund eigener 

Nachforschungen zu ähnlich alarmierenden Ergebnissen gelangt: "Bürger, 

die in einem Gebiet mit vielen Ärzten und reichlich Krankenhäusern 

wohnen, verwandeln sich rascher in Patienten, werden häufiger operiert, 

nehmen mehr nebenwirkungsreiche Medikamente und sterben, gemessen am 

statistischen Durchschnitt, früher." 46 Prozent der Ärzte sind nach 

einer Emnid-Umfrage davon überzeugt, dass es in Deutschland zu viele 

Ärzte gibt. Zwei Drittel aller Patienten haben das Gefühl, dass im 

Verlauf einer Behandlung mit wechselnden Ärzten viele Untersuchungen 

doppelt vorgenommen werden. Rund die Hälfte aller Patienten hat die 

Erfahrung gemacht, dass Ärzte überflüssige Leistungen erbringen. Die 

Ärzte bestätigen diese Erfahrung: Zwei Drittel geben an, dass Ärzte 

gelegentlich oder sogar häufig therapeutisch überflüssige Leistungen 

erbringen.

 

Sinnlose Verschreibungen

Obwohl die Bevölkerungszahl (Versicherte) sich in den letzten zwanzig 

Jahren mit rund sechs Prozent nur wenig entwickelt hat, stieg nach einer 

Mitteilung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung die Zahl der 

niedergelassenen Ärzte um das Zehnfache auf 65 Prozent. Die Zahl der 

Fälle je Arzt ist seither jedoch konstant geblieben. Hartmut Recke vom 

Berufsverband Deutscher Laborärzte schätzt die jährliche Verschwendung 

allein durch falsche und überflüssige Labortests auf 250 Millionen Euro. 

Mit der Zahl der Ärzte ist, so berichtet der Deutsche Apothekerverband 

(ABDA), gleichzeitig auch die Zahl der Apotheken in Deutschland 

kontinuierlich angestiegen - innerhalb von vier Jahren um rund 4,4 

Prozent. Dies hat jedoch nicht zu Umsatzrückgängen geführt, sondern im 

Gegenteil: Der Umsatz je Apotheke ist in diesem Zeitraum um 23,1 Prozent 

angestiegen. Für die Gesetzliche Krankenversicherung bedeutet dieser 

Anstieg eine zusätzliche Finanzbelastung von mehr als 15 Prozent.

 

Im Bereich der fast 130 000 niedergelassenen Ärzte führen nach einer 

Mitteilung der Staatsanwaltschaft Kiel die Überkapazitäten zu einem 

regelrechten Abrechnungskrieg. Im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen 

Ermittlungen - im Zusammenhang mit der explosionsartigen 

Leistungsmengenentwicklung - wurden reihenweise Abrechnungsbetrügereien 

aufgedeckt. Niedergelassene Ärzte rechneten zum Beispiel Leistungen ab, 

für die sie mehr als 30 Stunden am Tag hätten arbeiten müssen. Aus den 

Abrechnungen ging hervor, dass manche Ärzte sogar Säuglinge über 

Sexualität, Drogenkonsum und Verhütungsmittel im Rahmen der 

"Lebensberatung" aufgeklärt haben wollten.

 

Skandalöse Qualitätsmängel in der Arzneimitteltherapie verursachen nach 

Meinung von Prof. Dr. Manfred Wehling, Leiter des Instituts für 

Klinische Pharmakologie Mannheim, "eine extreme Schieflage": 

Bluthochdruck-Behandlungen seien nach umfassenden Studien nur bei sechs 

Prozent der Patienten "leitliniengerecht realisiert" worden, 

Cholesterin-Behandlungen bei Herz-Kreislauf-Krankheiten gar nur bei vier 

Prozent. Der Hauptgrund für diese Tragödie: Mehr als die Hälfte der 

deutschen Ärzte kann nicht fachgerecht mit Arzneimitteln umgehen. Der 

bekannte Internist und Klinische Pharmakologe Prof. Dr. Jürgen C. 

Frölich an der Medizinischen Hochschule Hannover sagt in diesem 

Zusammenhang: "Ein erheblicher Teil der Ärzte weiß nicht, wie viel 

Wirkstoff sie einem individuellen Patienten verschreiben dürfen und wie 

viel ihn womöglich umbringen wird." Frölichs Institut hat diese 

erschreckende Erkenntnis an 168 Ärzten in deutschen Krankenhäusern 

gewonnen. Diese Ärzte arbeiteten im Durchschnitt seit drei Jahren an 

ihren Kliniken, "waren also keine Neulinge". Professor Frölich, der 1994 

zusammen mit der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen den 

Arzneimittelinformationsdienst AID einrichtete, fragte nach den 

richtigen Dosierungen der 17 meisteingesetzten Medikamente - "bei einem 

geradezu irreal einfachen Kranken: ungestörte Leber- und Nierenfunktion, 

Normalgewicht, mittleres Alter, keine Begleiterkrankungen". Das 

Ergebnis: 46 Prozent der befragten Ärzte machten korrekte Angaben zur 

Dosierung. 15 Prozent der Angaben hätten deutliche Unterdosierungen 

bedeutet, "so dass kein Behandlungserfolg zu erwarten gewesen wäre". 

Sieben Prozent der Antworten waren Überdosierungen - "und zwar heftige". 

32 Prozent aller befragten Mediziner hatten es vorgezogen, zum Thema 

Dosierung überhaupt keine Antwort zu geben …

 

Kein Wunder, dass auch die Zahl der durch Arzneimittel geschädigten 

Patienten ohne direkte Todesfolge ungeheuer groß ist. So kam Professor 

Wehling an seinem Mannheimer Institut zu einem nicht weniger skandalösen 

Resultat: Mehr als zwei Millionen ältere Menschen über 60 Jahre müssen 

jährlich nur deshalb in Kliniken eingewiesen werden, weil sie von 

niedergelassenen Ärzten unsachgemäß mit Medikamenten behandelt werden.

 

Seit langem gilt Deutschland im internationalen Vergleich als das 

Arzneimittel-Tollhaus Europas. Schon heute zählt hier zu Lande die 

unüberschaubare Fülle der Zäpfchen und Pillen, Tropfen und Salben - 

insgesamt soll es zwischen 50 000 und 60 000 verschiedene medikamentöse 

Darreichungsformen geben - zu den wichtigsten Todesursachen. Würden auf 

den Gräbern aller Arzneimittelopfer Kerzen brennen, wären unsere 

Friedhöfe des Nachts erleuchtet wie sonst nur zur Adventszeit. Der 

frühere Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer bezeichnete es bereits 

in den neunziger Jahren als "schwachsinnig, risikoarme Arzneimittel 

durch risikoreiche und billige durch teurere zu ersetzen".

 

Das "abwartende Offenlassen" von Diagnosen von Hausärzten und 

Internisten sowie der Einsatz "angemessen wirksamer" Medikamente dürfte 

künftig die einzige Möglichkeit sein, vor allem Patienten mit 

Bagatellerkrankungen - das sind mehr als 80 Prozent aller 

Behandlungsfälle im Bereich der niedergelassenen Ärzte - vor Schäden zu 

bewahren. Der Münchner Arzt Dr. med. Klaus-Eberhard Haase, ehemals 

leitender Manager in der pharmazeutischen Industrie und Mitglied der 

Transparenzkommission beim Bundesgesundheitsamt, hat in einer viel 

beachteten Abhandlung über "Positiv-Liste: Risiken und Gefahren für 

Patient und Arzt" schon vor Jahren auf diesen Zusammenhang aufmerksam 

gemacht: "Je ernsthafter die Erkrankung, desto wirksamer muss das 

Arzneimittel sein, auch unter Inkaufnahme von Risiken - und umgekehrt! 

Eine Nutzen-Risiko-Abwägung als Voraussetzung für die Verordnung eines 

angemessen wirksamen Arzneimittels ist allerdings nur beim jeweiligen 

Patienten durch den behandelnden Arzt, nicht pauschal durch bewertende 

Listen (z. B. Positiv-Liste!) möglich. Er muss deshalb schwächer 

wirksame (nicht unwirksame!), aber gut verträgliche Arzneimittel ebenso 

ungehindert verordnen können wie stärker wirksame und nicht so gut 

verträgliche."

 

Gesundheit rechnet sich nicht

Die internationalen Pharma-Konzerne sind jedoch stattdessen zu einem 

globalen Arzneimittel-Wettrüsten angetreten. Das hat inzwischen dazu 

geführt, dass heute bei fast 20 Prozent der Todesfälle in einem 

Krankenhaus die unerwünschten Nebenwirkungen von Medikamenten und ihre 

fehlerhafte Anwendung infolge falscher Diagnosen die Hauptrolle spielen. 

Vor allem die aktuellsten, in US-Laboratorien entwickelten 

Medikamenten-Innovationen können nicht nur zehntausende Todesfälle 

verursachen, sie können auch hunderttausende Todesfälle mitverursachen

ganz zu schweigen vom Schicksal jenes Patientenheeres, das auf Grund der 

heute üblich gewordenen Übermedikalisierung viele kranke Menschen für 

den Rest ihres Lebens zu Krüppeln stempelt.

 

Unterdessen werden durch millionenschwere Aufklärungskampagnen alle 

möglichen Allerweltsleiden zu bedrohlichen Krankheiten aufgebauscht oder 

- schlimmer noch - Massenkrankheiten völlig neu erfunden. Handel treiben 

mit Krankheiten ("Disease Mongering") bezeichnen Kritiker dieses makabre 

Spiel mit der Angst der Bürger, das nicht nur zum festen Bestandteil von 

Marketingstrategen der Pharma-Multis zu werden droht, sondern sich 

offensichtlich auch für das ständig wachsende Heer der Ärzteschaft 

auszahlt. Denn "der Wettbewerb zwingt zur Erschließung neuer Märkte", so 

das Thema einer Titelgeschichte, die im September vorigen Jahres im 

Deutschen Ärzteblatt erschien. Dort heißt es weiter: "Das Ziel muss die 

Umwandlung aller Gesunden in Kranke sein …"

 

Die Urologen sprangen als Erste auf den Zug in eine verheißungsvolle 

Zukunft. Der "Männer Leibärzte" wollen sie werden, "unverzichtbare 

Begleiter für ein ganzes Männerleben". Der Bundesverband Deutscher 

Urologen etablierte flugs einen "Innovationsausschuss", um künftig auf 

der "Erfolgswelle" mitzuschwimmen. Bei so viel Zukunftsbegeisterung 

wollen die Frauenärzte natürlich nicht abseits stehen. Sie waren ja 

schon in der Vergangenheit nicht ohne Kreativität und Fantasie. Von 

präventiven Brustamputationen bis zu vorsorglichen 

Gebärmutterentfernungen haben sie in den letzten Jahren ihre 

Patientinnen stets mit einer erstaunlich großen Angebotspalette 

überrascht. "Häufig macht man sogar Hysterektomien, um die Frauen von 

ihrer menstruellen Migräne zu befreien", wundert sich die Ärztin Dr. A. 

Gendolla von der Neurologischen Universitätsklinik Essen. "Die haben 

natürlich überhaupt keinen Einfluss. Die absurdesten Dinge, von denen 

ich gehört habe, waren Brustreduktionen wegen Migräne." Dass die Pfründe 

der Gynäkologen nicht austrocknen, dafür wollen künftig auch die 

Pharma-Hersteller sorgen. Mit "Viagra für Frauen" werden jetzt 

Arzneimittel-Unternehmen die Normierung des Geschlechtsaktes 

vorantreiben - wer nicht mitmacht, wird als krank erklärt.

 

43 Prozent aller US-Amerikanerinnen über 18 Jahre sollen an einer 

"sexuellen Funktionsstörung" leiden, weil sie angeblich keine Lust oder 

Orgasmusschwierigkeiten beim Geschlechtsverkehr haben. Alle diese Frauen 

seien behandlungsbedürftig. Nur ganz vereinzelt gibt es hier zu Lande 

kritische Stimmen: "Jeder zweiten Frau eine Sexualstörung anzudichten, 

ist eine üble Tour", meint Klaus Diedrich, Präsident der Deutschen 

Gesellschaft für Frauenheilkunde und Geburtshilfe.

 

Angst bringt Profit

 

An einer Fülle anderer Beispiele für Disease Mongering mangelt es nicht: 

Schlafstörungen, Essstörungen, Angst, Aufmerksamkeitsstörungen bei 

Kindern, aber auch unerwünschte Kinderlosigkeit oder Schönheitsmängel, 

Erektionsstörungen, Sodbrennen, Existenzangst, Vergesslichkeit, 

Fußpilze, Glatzenbildung, Depressionen oder das so genannte 

Reizdarmsyndrom werden durch konzertierte Aktionen vom großen Bruder 

Pharma und seinen medizinischen Handlangern in den Stand gefährlicher 

und behandlungsbedürftiger Krankheiten erhoben - besonders dann, wenn 

auch die passenden Medikamente zur Verfügung stehen. Die 

Pharma-Industrie macht die Angst der Menschen zum Programm; ihre 

subtilen "Aufklärungskampagnen", die subjektiv Krankheit heilen wollen, 

in Wirklichkeit aber der Bevölkerung nachhaltig die Gesundheit 

austreiben, wirken sich, wie der Hamburger Psychiater Prof. Dr. Klaus 

Dörner es formuliert, "umso destruktiver aus, je mehr sie der 

Vermarktung und dem Wettbewerb überlassen werden". Diese Prinzipien 

seien in der übrigen Wirtschaft segensreich, im Gesundheitswesen jedoch 

"tödlich".

 

Nach Prof. Dr. Peter Schönhöfer, Pharmakologe und seit vielen Jahren 

Mitherausgeber des unabhängigen Arznei-Telegramms in Berlin, steht 

zweifelsfrei fest: "Das allgemeine Handlungsprinzip im deutschen 

Gesundheitswesen ist Betrug." Mit einer im medizinischen Fachschrifttum 

seltenen Deutlichkeit hat sich auch die altehrwürdige Münchner 

Medizinische Wochenschrift in die gesundheitspolitische Diskussion 

eingemischt. Unter der Überschrift "Weiße Kittel und schmutzige Hände" 

nahm das angesehene Ärzteblatt den Medizinbetrieb als "Unrechtssystem" 

ins Visier und zitierte den Leiter der Sonderkommission 

"Abrechnungsbetrug" beim Bundeskriminalamt, Raimund Schmidt, mit einer 

vernichtenden Feststellung: "Die kriminellen Strukturen im 

Gesundheitswesen sind nur noch vergleichbar mit der ‚organisierten 

Kriminalität'."

 

Damit der deutsche Medizinbetrieb nicht unter dem Primat der Ökonomie 

verkommt, fordert auch Professor Dr. med. Jürgen C. Frölich vom Institut 

für Klinische Pharmakologie an der Medizinischen Hochschule Hannover auf 

einem Gesundheitsforum in München radikale Konsequenzen. Angesichts der 

von ihm geschätzten 30 000 Arzneimitteltoten pro Jahr sei nun vor allem 

die Politik zu raschem Handeln aufgefordert; denn die durch diese 

Todesfälle verursachten Folgekosten allein beziffert Frölich auf mehr 

als 30 Milliarden Euro pro Jahr. Noch bizarrer sind die 

Untersuchungsergebnisse seines Kollegen Wehling, der jüngst in dem 

angesehenen Fachjournal Deutsche Medizinische Wochenschrift die 

Vermutung anstellte, dass von den 500 000 Todesfällen durch 

Herz-Kreislauf-Erkrankungen wahrscheinlich 100 000 verhindert werden 

könnten, wenn die Patienten nicht die falschen Arzneimittel bekämen.

 

Ulla Schmidt und Horst Seehofer haben mit ihren derzeitigen 

Reformbemühungen fast nichts gegen die gigantische Verschwendung im 

Gesundheitswesen getan, vor allem die vordemokratischen Systemstrukturen 

unangetastet gelassen. Nicht der medizinische Fortschritt lässt das 

marode System aus dem Ruder laufen, vielmehr sind es die weltweit 

einmaligen Verhältnisse des deutschen Medizinbetriebs als Anbietermarkt. 

Kliniken und Ärzte, Apotheker, Krankenkassen und Arzneimittelhersteller 

beeinflussen das Preisgefüge viel nachhaltiger. als es Patienten je 

könnten. Für die so oft zitierte "Anspruchsinflation" der Bürger konnten 

empirische Belege bis heute nicht beigebracht werden.

 

Zweifelsfrei belegt ist dagegen die Erkenntnis, dass Ärzte die 

Leistungen in Praxis, Klinik und vielen anderen Gesundheitseinrichtungen 

festlegen, die Produzenten pharmazeutischer und medizinischer 

Gerätschaften den Preis bestimmen, gesetzliche Krankenkassen ohne 

Kontrolle Rechnungen bezahlen - von den Beiträgen, die den 72 Millionen 

Versicherten monatlich zwangsenteignet werden.

 

Eigenverantwortung der Bürger ist gut, Transparenz und hinreichende 

Aufklärung ebenfalls. Doch als Kontrollinstanz, als reformerischer 

Machtfaktor, der gewissermaßen vom Feldherrnhügel die Richtung vorgibt, 

ist der Kranke maßlos überfordert. Die Patienten stehen im 

undurchdringlichen Labyrinth des Gesundheitssystems auf verlorenem 

Posten. Deshalb sollte die Bundesregierung endlich die 

Selbstverwaltungsorgane und ihre Leistungserbringer zwingen, zumindest 

eklatante Versäumnisse und Mängel bei der medizinischen Versorgung zu 

beseitigen, die Strukturen durchsichtig zu machen, und damit ansatzweise 

Kundensouveränität im chaotischen Gesundheitsmarkt sicherstellen.

 

http://www.fr-aktuell.de/ressorts/nachrichten_und_politik/dokumentation/?cnt=271056&page=4

 

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