Arzneimittel-Tollhaus Deutschland
Von Kurt G. Blüchel,
5. Jan 2007
Das Diktat des Überflusses. Eine Bestandsaufnahme der gigantischen
Verschwendungen im deutschen Medizinbetrieb von Kurt G. Blüchel
Der von Bundesregierung und Opposition ausgehandelte
Gesundheitskompromiss gebietet der systematischen Plünderung der
Krankenkassen durch medizinische Überversorgung kaum Einhalt. Die
Verschwendungsorgie im Gesundheitswesen koste die Versicherten aber
jährlich fünfzig Milliarden Euro, kritisiert Kurt G. Blüchel.
Ausländische Pharma-Multis erfänden völlig neue Massenkrankheiten, um
den deutschen Markt für Arzneimittel zu vergrößern. Die Schulmedizin
verkomme zur Quacksalberei; ihre Misserfolge machten das
Gesundheitswesen unbezahlbar. Und die Politik kuriere den Medizinbetrieb
zu Tode.
Der weltberühmte Arzt Ferdinand Sauerbruch, Chef der Berliner Charité im
Dritten Reich, wurde einmal zu einem Notfall in seiner eigenen Familie
gerufen. Bei dem schwer kranken Patienten handelte es sich um den Hund
seiner Tochter. Nach dem Eingriff kommentierte er das Resultat seiner
Bemühungen mit jener Bemerkung, die als geflügeltes Wort zu
zweifelhaftem Ruhm gelangen sollte: "Operation gelungen, Patient tot."
Vor einem ähnlich jammervollen Schicksal steht vermutlich das soeben von
Regierung und Opposition verabschiedete Gesundheitsreförmchen. Sein
größter Fehler: Rücksichtnahme auf vordemokratische Systemstrukturen.
Sein größtes Handicap: Nichtberücksichtigung eines rasant wachsenden
Verschwendungspotenzials. Nicht etwa leere Kassen treiben den schwer
angeschlagenen Medizinbetrieb in die Katastrophe, sondern die maßlose
Vergeudung des Beitrags-Reichtums durch nimmersatte Interessengruppen.
Die Diagnose ist unstrittig, und sie gibt wenig Anlass zur Hoffnung: Das
deutsche Gesundheitswesen, einst das Mekka der Medizin und
jahrzehntelang von Experten im In- und Ausland als vorbildlich
gepriesen, ist enorm überteuert und gleichzeitig unglaublich
ineffizient. Im Ergebnis produziert es inzwischen mehr Kranke als
Gesunde. Die Versicherten zahlen für die Luxusklasse, der Service
allerdings ist - von rühmlichen Ausnahmen abgesehen - drittklassig.
Dieses Fazit legen nicht nur internationale Studien mit zum Teil
vernichtender Urteilsbegründung nahe, die beispielsweise der deutschen
Herzmedizin - für viele das Filetstück unseres Medizinbetriebs - weit
gehende Inkompetenz bescheinigen. Beschämender noch ist der
Qualitätsstandard der deutschen Krebsmedizin, die seit Jahren im
internationalen Ranking das Schlusslicht bildet. Mittlerweile ist selbst
die wenig verwöhnte "Kundschaft" unzufrieden: Mehr als die Hälfte aller
Deutschen bewerten nach jüngsten Umfragen die Qualität der
"Leistungserbringer" im Medizinbetrieb als mangelhaft, in vielen
Bereichen gar als völlig ungenügend. Hauptkritikpunkte: falsche und
überflüssige Diagnosen sowie unsinnige und riskante Behandlungsmethoden.
Durchleuchtungswahn
In Deutschland werden jährlich rund 1250 Röntgenuntersuchungen pro 1000
Einwohner vorgenommen. In den Niederlanden und Schweden liegt diese Zahl
zwischen 500 und 600. Dabei ist die ärztliche Versorgung in diesen
Ländern auf Grund europäischer Vergleichsstudien erheblich besser als
bei uns. Auf bis zu 50 Prozent der jährlich rund 100 Millionen von
Internisten, Orthopäden, Chirurgen und Ärzten anderer Fachrichtungen
durchgeführten Röntgenuntersuchungen könnte verzichtet werden, ohne dass
die Qualität des ärztlichen Handelns darunter leiden würde -
Einsparpotenzial: eine Milliarde Euro. Prof. Dr. Horst Kuni von der
Universität Marburg weist darauf hin, dass infolge von
Röntgenuntersuchungen in Deutschland etwa 50 000 Menschen jährlich an
Krebs erkranken, 15 000 davon sterben.
Von den jährlich rund 200 000 an deutschen Kliniken vorgenommenen
Gebärmutterentfernungen ist "mindestens jede Zweite überflüssig". Bei
Frauen, denen auf Grund von Bauchbeschwerden der Blinddarm entfernt
wurde, stellte sich laut Prof. J. Waninger von der Universität Freiburg
heraus, dass in 75 Prozent aller Fälle die Beschwerden auch nach dem
Eingriff noch vorhanden waren. Bei 40 Prozent aller Eierstockoperationen
lag nach Prof. Dr. H. Koester, ehemaliger Direktor der Frauenklinik der
Städtischen Kliniken Dortmund, keine ausreichende medizinische
Begründung vor.
Die Zahl der Herzkatheter-Labors hat sich in den letzten zehn Jahren
verdoppelt. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der Katheteruntersuchungen
um 250 Prozent auf rund 490000 angestiegen. "Sicher wird heute zu viel
und zu unkritisch katheterisiert", erklärt Dr. Ernst Giert vom Städtischen
Krankenhaus Offenbach. Aber: "Wer einen Hammer hat, tendiert dazu, jedes
Problem für einen Nagel zu halten." Die Zahl der Ballondilatationen (mit
Ballondilatationen werden Verengungen der Herzkranzgefäße aufgesprengt)
ist gar um 400 Prozent angestiegen. Mit 4267
Linksherzkatheter-Untersuchungen pro eine Million Einwohner liegt
Deutschland in Europa mit Abstand an der Spitze. Im europäischen
Durchschnitt, so ist einem Herzbericht der obersten
Landesgesundheitsbehörden zu entnehmen, wurden 1873
Linksherzkatheter-Untersuchungen pro eine Million Einwohner
durchgeführt. Die meisten Herzkatheter-Untersuchungen werden anscheinend
nur um ihrer selbst willen gemacht, es schließt sich keine Therapie an.
"Da kann man schon auf die Idee kommen", so der Berliner Herzspezialist
Professor Eckart Fleck, "dass mancher Kardiologe mehr für sein Konto als
für den Patienten arbeitet."
Deutschland nimmt im internationalen Vergleich mit rund 70 Betten je 10
000 Einwohner einen Spitzenplatz ein. Gleichzeitig dauert die
Krankenhausbehandlung hier zu Lande mit durchschnittlich 12 Tagen je
Krankenhausfall am längsten. Der Grund: Die Betten müssen belegt sein.
Regierungsberater Professor Karl W. Lauterbach rechnete vor, dass hier
zu Lande etwa 230 000 (von rund 550 000) Klinikbetten abgebaut werden
müssten, um auf den internationalen Durchschnittswert zu kommen. Das
Sparpotenzial beläuft sich in diesem Bereich auf rund 20 Milliarden Euro.
Unnötige Überdiagnostik
Bei der Krebsdiagnostik könnten nach Prof. Dr. Henning König von der
Universität Erlangen bis zu 25 Prozent der Kosten eingespart werden. Die
Einsparungen seien möglich, ohne dass die Qualität der Diagnosen und der
nachfolgenden Behandlung leidet. Es sei lediglich erforderlich, auf die
gegenwärtige "unnötige Überdiagnostik" zu verzichten - damit könnte
gleichzeitig Zehntausenden von Patienten viel Leid erspart werden.
Jedoch: "Das im Gesundheitssystem erbrachte Leistungsspektrum orientiert
sich primär - völlig zu Recht - an den wirtschaftlichen
Überlebenschancen der Leistungserbringer und nicht an den Bedürfnissen
der Leistungsnehmer" (Patienten), wie einem Leitartikel des Deutschen
Ärzteblattes zu entnehmen war.
Eine von der Schwäbisch Gmünder Ersatzkasse in Auftrag gegebene Studie
ergab, dass 30 Prozent aller Knie-Operationen überflüssig sind und
darüber hinaus 50 Prozent der Operierten mit dem Ergebnis nur bedingt
oder gar nicht zufrieden waren. Andererseits ist es, wie Professor Jani
in der Ärztezeitung Medical Tribune darlegte, innerhalb von nur drei
Jahren zu einem Anstieg arthroskopischer Eingriffe von 600 Prozent
gekommen. Bei 442 kontrollierten Spiegelungen des Magens waren 43
Prozent medizinisch unbegründet.
Deutsche Chirurgen amputieren bei Zuckerkranken viel zu häufig: In
unseren Kliniken werden pro Jahr fast 30 000 Amputationen vorgenommen.
"Das sind viel mehr als in anderen europäischen Staaten wie Frankreich,
den Niederlanden, Italien und den skandinavischen Ländern", sagte Hans
Henning Wetz von der Universität Münster. "Es könnten 8000 bis 10 000
weniger sein." Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Deutschland
schon vor Jahren in einer Deklaration aufgefordert, die Amputationen bei
Zuckerkranken zu halbieren.
Derzeit werden auf Grund von jährlich vier Millionen "grauen
Mammographien" 100 000 Frauen operiert, die nicht operiert werden
müssten, wenn stattdessen mit der Qualität der europäischen
Nachbarländer wie zum Beispiel der Niederlande gescreent würde, heißt es
in einem Gutachten des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion
im Gesundheitswesen. Von den jährlich 100 000 operierten Frauen sterben
im Schnitt 4000.
Überflüssige, d. h. medizinisch unbegründete Operationen werden fast
allen Fachgebieten vorgeworfen. Insgesamt sollen sich von den jährlich
acht Millionen vorgenommenen Eingriffen etwa die Hälfte als nicht
notwendig erweisen. Der Münchner Medizin-Informatiker Wilhelm von
Eimeren warnte vor allzu unspezifischen Massentests. Damit drohen die
Deutschen zu einem "Volk von Vorsorgegeschädigten" zu werden.
Falls das Verhalten der Ärzte selbst und ihrer Familienangehörigen zum
Maßstab genommen würde, könnten nach Schätzungen von Experten allein 30
Millionen Krankenhaustage oder ca. 22 Milliarden Euro eingespart werden
- aber auch Zehntausende von Toten sowie Hunderttausende
Medizingeschädigte pro Jahr verhindert werden. Bei Operationen der
Gallenblase liegt die Eingriffshäufigkeit 84 Prozent höher, bei
Hämorrhoiden-Operationen 83, bei Gebärmutteroperationen 53 Prozent und
bei Mandeloperationen immer noch 46 Prozent höher als bei Ärzten und
ihren Familienangehörigen. Lediglich bei Blinddarmoperationen liegen die
Vergleichszahlen bei der übrigen Bevölkerung mit acht Prozent nur
unwesentlich höher als bei Ärzten. Dafür lehnen fast 95 Prozent der
Ärzte für sich und ihre Familienangehörigen eine Chemotherapie bei Krebs
ab.
Das Wissenschaftliche Institut der Allgemeinen Ortskrankenkassen hat
errechnet, dass die Lebenserwartung der Bevölkerung im gleichen Maße
sinke wie die Arztdichte in Ballungsräumen zunehme. Der renommierte
Medizinpublizist Dr. med. Hans Halter ist auf Grund eigener
Nachforschungen zu ähnlich alarmierenden Ergebnissen gelangt: "Bürger,
die in einem Gebiet mit vielen Ärzten und reichlich Krankenhäusern
wohnen, verwandeln sich rascher in Patienten, werden häufiger operiert,
nehmen mehr nebenwirkungsreiche Medikamente und sterben, gemessen am
statistischen Durchschnitt, früher." 46 Prozent der Ärzte sind nach
einer Emnid-Umfrage davon überzeugt, dass es in Deutschland zu viele
Ärzte gibt. Zwei Drittel aller Patienten haben das Gefühl, dass im
Verlauf einer Behandlung mit wechselnden Ärzten viele Untersuchungen
doppelt vorgenommen werden. Rund die Hälfte aller Patienten hat die
Erfahrung gemacht, dass Ärzte überflüssige Leistungen erbringen. Die
Ärzte bestätigen diese Erfahrung: Zwei Drittel geben an, dass Ärzte
gelegentlich oder sogar häufig therapeutisch überflüssige Leistungen
erbringen.
Sinnlose Verschreibungen
Obwohl die Bevölkerungszahl (Versicherte) sich in den letzten zwanzig
Jahren mit rund sechs Prozent nur wenig entwickelt hat, stieg nach einer
Mitteilung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung die Zahl der
niedergelassenen Ärzte um das Zehnfache auf 65 Prozent. Die Zahl der
Fälle je Arzt ist seither jedoch konstant geblieben. Hartmut Recke vom
Berufsverband Deutscher Laborärzte schätzt die jährliche Verschwendung
allein durch falsche und überflüssige Labortests auf 250 Millionen Euro.
Mit der Zahl der Ärzte ist, so berichtet der Deutsche Apothekerverband
(ABDA), gleichzeitig auch die Zahl der Apotheken in Deutschland
kontinuierlich angestiegen - innerhalb von vier Jahren um rund 4,4
Prozent. Dies hat jedoch nicht zu Umsatzrückgängen geführt, sondern im
Gegenteil: Der Umsatz je Apotheke ist in diesem Zeitraum um 23,1 Prozent
angestiegen. Für die Gesetzliche Krankenversicherung bedeutet dieser
Anstieg eine zusätzliche Finanzbelastung von mehr als 15 Prozent.
Im Bereich der fast 130 000 niedergelassenen Ärzte führen nach einer
Mitteilung der Staatsanwaltschaft Kiel die Überkapazitäten zu einem
regelrechten Abrechnungskrieg. Im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen
Ermittlungen - im Zusammenhang mit der explosionsartigen
Leistungsmengenentwicklung - wurden reihenweise Abrechnungsbetrügereien
aufgedeckt. Niedergelassene Ärzte rechneten zum Beispiel Leistungen ab,
für die sie mehr als 30 Stunden am Tag hätten arbeiten müssen. Aus den
Abrechnungen ging hervor, dass manche Ärzte sogar Säuglinge über
Sexualität, Drogenkonsum und Verhütungsmittel im Rahmen der
"Lebensberatung" aufgeklärt haben wollten.
Skandalöse Qualitätsmängel in der Arzneimitteltherapie verursachen nach
Meinung von Prof. Dr. Manfred Wehling, Leiter des Instituts für
Klinische Pharmakologie Mannheim, "eine extreme Schieflage":
Bluthochdruck-Behandlungen seien nach umfassenden Studien nur bei sechs
Prozent der Patienten "leitliniengerecht realisiert" worden,
Cholesterin-Behandlungen bei Herz-Kreislauf-Krankheiten gar nur bei vier
Prozent. Der Hauptgrund für diese Tragödie: Mehr als die Hälfte der
deutschen Ärzte kann nicht fachgerecht mit Arzneimitteln umgehen. Der
bekannte Internist und Klinische Pharmakologe Prof. Dr. Jürgen C.
Frölich an der Medizinischen Hochschule Hannover sagt in diesem
Zusammenhang: "Ein erheblicher Teil der Ärzte weiß nicht, wie viel
Wirkstoff sie einem individuellen Patienten verschreiben dürfen und wie
viel ihn womöglich umbringen wird." Frölichs Institut hat diese
erschreckende Erkenntnis an 168 Ärzten in deutschen Krankenhäusern
gewonnen. Diese Ärzte arbeiteten im Durchschnitt seit drei Jahren an
ihren Kliniken, "waren also keine Neulinge". Professor Frölich, der 1994
zusammen mit der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen den
Arzneimittelinformationsdienst AID einrichtete, fragte nach den
richtigen Dosierungen der 17 meisteingesetzten Medikamente - "bei einem
geradezu irreal einfachen Kranken: ungestörte Leber- und Nierenfunktion,
Normalgewicht, mittleres Alter, keine Begleiterkrankungen". Das
Ergebnis: 46 Prozent der befragten Ärzte machten korrekte Angaben zur
Dosierung. 15 Prozent der Angaben hätten deutliche Unterdosierungen
bedeutet, "so dass kein Behandlungserfolg zu erwarten gewesen wäre".
Sieben Prozent der Antworten waren Überdosierungen - "und zwar heftige".
32 Prozent aller befragten Mediziner hatten es vorgezogen, zum Thema
Dosierung überhaupt keine Antwort zu geben …
Kein Wunder, dass auch die Zahl der durch Arzneimittel geschädigten
Patienten ohne direkte Todesfolge ungeheuer groß ist. So kam Professor
Wehling an seinem Mannheimer Institut zu einem nicht weniger skandalösen
Resultat: Mehr als zwei Millionen ältere Menschen über 60 Jahre müssen
jährlich nur deshalb in Kliniken eingewiesen werden, weil sie von
niedergelassenen Ärzten unsachgemäß mit Medikamenten behandelt werden.
Seit langem gilt Deutschland im internationalen Vergleich als das
Arzneimittel-Tollhaus Europas. Schon heute zählt hier zu Lande die
unüberschaubare Fülle der Zäpfchen und Pillen, Tropfen und Salben -
insgesamt soll es zwischen 50 000 und 60 000 verschiedene medikamentöse
Darreichungsformen geben - zu den wichtigsten Todesursachen. Würden auf
den Gräbern aller Arzneimittelopfer Kerzen brennen, wären unsere
Friedhöfe des Nachts erleuchtet wie sonst nur zur Adventszeit. Der
frühere Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer bezeichnete es bereits
in den neunziger Jahren als "schwachsinnig, risikoarme Arzneimittel
durch risikoreiche und billige durch teurere zu ersetzen".
Das "abwartende Offenlassen" von Diagnosen von Hausärzten und
Internisten sowie der Einsatz "angemessen wirksamer" Medikamente dürfte
künftig die einzige Möglichkeit sein, vor allem Patienten mit
Bagatellerkrankungen - das sind mehr als 80 Prozent aller
Behandlungsfälle im Bereich der niedergelassenen Ärzte - vor Schäden zu
bewahren. Der Münchner Arzt Dr. med. Klaus-Eberhard Haase, ehemals
leitender Manager in der pharmazeutischen Industrie und Mitglied der
Transparenzkommission beim Bundesgesundheitsamt, hat in einer viel
beachteten Abhandlung über "Positiv-Liste: Risiken und Gefahren für
Patient und Arzt" schon vor Jahren auf diesen Zusammenhang aufmerksam
gemacht: "Je ernsthafter die Erkrankung, desto wirksamer muss das
Arzneimittel sein, auch unter Inkaufnahme von Risiken - und umgekehrt!
Eine Nutzen-Risiko-Abwägung als Voraussetzung für die Verordnung eines
angemessen wirksamen Arzneimittels ist allerdings nur beim jeweiligen
Patienten durch den behandelnden Arzt, nicht pauschal durch bewertende
Listen (z. B. Positiv-Liste!) möglich. Er muss deshalb schwächer
wirksame (nicht unwirksame!), aber gut verträgliche Arzneimittel ebenso
ungehindert verordnen können wie stärker wirksame und nicht so gut
verträgliche."
Gesundheit rechnet sich nicht
Die internationalen Pharma-Konzerne sind jedoch stattdessen zu einem
globalen Arzneimittel-Wettrüsten angetreten. Das hat inzwischen dazu
geführt, dass heute bei fast 20 Prozent der Todesfälle in einem
Krankenhaus die unerwünschten Nebenwirkungen von Medikamenten und ihre
fehlerhafte Anwendung infolge falscher Diagnosen die Hauptrolle spielen.
Vor allem die aktuellsten, in US-Laboratorien entwickelten
Medikamenten-Innovationen können nicht nur zehntausende Todesfälle
verursachen, sie können auch hunderttausende Todesfälle mitverursachen;
ganz zu schweigen vom Schicksal jenes Patientenheeres, das auf Grund der
heute üblich gewordenen Übermedikalisierung viele kranke Menschen für
den Rest ihres Lebens zu Krüppeln stempelt.
Unterdessen werden durch millionenschwere Aufklärungskampagnen alle
möglichen Allerweltsleiden zu bedrohlichen Krankheiten aufgebauscht oder
- schlimmer noch - Massenkrankheiten völlig neu erfunden. Handel treiben
mit Krankheiten ("Disease Mongering") bezeichnen Kritiker dieses makabre
Spiel mit der Angst der Bürger, das nicht nur zum festen Bestandteil von
Marketingstrategen der Pharma-Multis zu werden droht, sondern sich
offensichtlich auch für das ständig wachsende Heer der Ärzteschaft
auszahlt. Denn "der Wettbewerb zwingt zur Erschließung neuer Märkte", so
das Thema einer Titelgeschichte, die im September vorigen Jahres im
Deutschen Ärzteblatt erschien. Dort heißt es weiter: "Das Ziel muss die
Umwandlung aller Gesunden in Kranke sein …"
Die Urologen sprangen als Erste auf den Zug in eine verheißungsvolle
Zukunft. Der "Männer Leibärzte" wollen sie werden, "unverzichtbare
Begleiter für ein ganzes Männerleben". Der Bundesverband Deutscher
Urologen etablierte flugs einen "Innovationsausschuss", um künftig auf
der "Erfolgswelle" mitzuschwimmen. Bei so viel Zukunftsbegeisterung
wollen die Frauenärzte natürlich nicht abseits stehen. Sie waren ja
schon in der Vergangenheit nicht ohne Kreativität und Fantasie. Von
präventiven Brustamputationen bis zu vorsorglichen
Gebärmutterentfernungen haben sie in den letzten Jahren ihre
Patientinnen stets mit einer erstaunlich großen Angebotspalette
überrascht. "Häufig macht man sogar Hysterektomien, um die Frauen von
ihrer menstruellen Migräne zu befreien", wundert sich die Ärztin Dr. A.
Gendolla von der Neurologischen Universitätsklinik Essen. "Die haben
natürlich überhaupt keinen Einfluss. Die absurdesten Dinge, von denen
ich gehört habe, waren Brustreduktionen wegen Migräne." Dass die Pfründe
der Gynäkologen nicht austrocknen, dafür wollen künftig auch die
Pharma-Hersteller sorgen. Mit "Viagra für Frauen" werden jetzt
Arzneimittel-Unternehmen die Normierung des Geschlechtsaktes
vorantreiben - wer nicht mitmacht, wird als krank erklärt.
43 Prozent aller US-Amerikanerinnen über 18 Jahre sollen an einer
"sexuellen Funktionsstörung" leiden, weil sie angeblich keine Lust oder
Orgasmusschwierigkeiten beim Geschlechtsverkehr haben. Alle diese Frauen
seien behandlungsbedürftig. Nur ganz vereinzelt gibt es hier zu Lande
kritische Stimmen: "Jeder zweiten Frau eine Sexualstörung anzudichten,
ist eine üble Tour", meint Klaus Diedrich, Präsident der Deutschen
Gesellschaft für Frauenheilkunde und Geburtshilfe.
Angst bringt Profit
An einer Fülle anderer Beispiele für Disease Mongering mangelt es nicht:
Schlafstörungen, Essstörungen, Angst, Aufmerksamkeitsstörungen bei
Kindern, aber auch unerwünschte Kinderlosigkeit oder Schönheitsmängel,
Erektionsstörungen, Sodbrennen, Existenzangst, Vergesslichkeit,
Fußpilze, Glatzenbildung, Depressionen oder das so genannte
Reizdarmsyndrom werden durch konzertierte Aktionen vom großen Bruder
Pharma und seinen medizinischen Handlangern in den Stand gefährlicher
und behandlungsbedürftiger Krankheiten erhoben - besonders dann, wenn
auch die passenden Medikamente zur Verfügung stehen. Die
Pharma-Industrie macht die Angst der Menschen zum Programm; ihre
subtilen "Aufklärungskampagnen", die subjektiv Krankheit heilen wollen,
in Wirklichkeit aber der Bevölkerung nachhaltig die Gesundheit
austreiben, wirken sich, wie der Hamburger Psychiater Prof. Dr. Klaus
Dörner es formuliert, "umso destruktiver aus, je mehr sie der
Vermarktung und dem Wettbewerb überlassen werden". Diese Prinzipien
seien in der übrigen Wirtschaft segensreich, im Gesundheitswesen jedoch
"tödlich".
Nach Prof. Dr. Peter Schönhöfer, Pharmakologe und seit vielen Jahren
Mitherausgeber des unabhängigen Arznei-Telegramms in Berlin, steht
zweifelsfrei fest: "Das allgemeine Handlungsprinzip im deutschen
Gesundheitswesen ist Betrug." Mit einer im medizinischen Fachschrifttum
seltenen Deutlichkeit hat sich auch die altehrwürdige Münchner
Medizinische Wochenschrift in die gesundheitspolitische Diskussion
eingemischt. Unter der Überschrift "Weiße Kittel und schmutzige Hände"
nahm das angesehene Ärzteblatt den Medizinbetrieb als "Unrechtssystem"
ins Visier und zitierte den Leiter der Sonderkommission
"Abrechnungsbetrug" beim Bundeskriminalamt, Raimund Schmidt, mit einer
vernichtenden Feststellung: "Die kriminellen Strukturen im
Gesundheitswesen sind nur noch vergleichbar mit der ‚organisierten
Kriminalität'."
Damit der deutsche Medizinbetrieb nicht unter dem Primat der Ökonomie
verkommt, fordert auch Professor Dr. med. Jürgen C. Frölich vom Institut
für Klinische Pharmakologie an der Medizinischen Hochschule Hannover auf
einem Gesundheitsforum in München radikale Konsequenzen. Angesichts der
von ihm geschätzten 30 000 Arzneimitteltoten pro Jahr sei nun vor allem
die Politik zu raschem Handeln aufgefordert; denn die durch diese
Todesfälle verursachten Folgekosten allein beziffert Frölich auf mehr
als 30 Milliarden Euro pro Jahr. Noch bizarrer sind die
Untersuchungsergebnisse seines Kollegen Wehling, der jüngst in dem
angesehenen Fachjournal Deutsche Medizinische Wochenschrift die
Vermutung anstellte, dass von den 500 000 Todesfällen durch
Herz-Kreislauf-Erkrankungen wahrscheinlich 100 000 verhindert werden
könnten, wenn die Patienten nicht die falschen Arzneimittel bekämen.
Ulla Schmidt und Horst Seehofer haben mit ihren derzeitigen
Reformbemühungen fast nichts gegen die gigantische Verschwendung im
Gesundheitswesen getan, vor allem die vordemokratischen Systemstrukturen
unangetastet gelassen. Nicht der medizinische Fortschritt lässt das
marode System aus dem Ruder laufen, vielmehr sind es die weltweit
einmaligen Verhältnisse des deutschen Medizinbetriebs als Anbietermarkt.
Kliniken und Ärzte, Apotheker, Krankenkassen und Arzneimittelhersteller
beeinflussen das Preisgefüge viel nachhaltiger. als es Patienten je
könnten. Für die so oft zitierte "Anspruchsinflation" der Bürger konnten
empirische Belege bis heute nicht beigebracht werden.
Zweifelsfrei belegt ist dagegen die Erkenntnis, dass Ärzte die
Leistungen in Praxis, Klinik und vielen anderen Gesundheitseinrichtungen
festlegen, die Produzenten pharmazeutischer und medizinischer
Gerätschaften den Preis bestimmen, gesetzliche Krankenkassen ohne
Kontrolle Rechnungen bezahlen - von den Beiträgen, die den 72 Millionen
Versicherten monatlich zwangsenteignet werden.
Eigenverantwortung der Bürger ist gut, Transparenz und hinreichende
Aufklärung ebenfalls. Doch als Kontrollinstanz, als reformerischer
Machtfaktor, der gewissermaßen vom Feldherrnhügel die Richtung vorgibt,
ist der Kranke maßlos überfordert. Die Patienten stehen im
undurchdringlichen Labyrinth des Gesundheitssystems auf verlorenem
Posten. Deshalb sollte die Bundesregierung endlich die
Selbstverwaltungsorgane und ihre Leistungserbringer zwingen, zumindest
eklatante Versäumnisse und Mängel bei der medizinischen Versorgung zu
beseitigen, die Strukturen durchsichtig zu machen, und damit ansatzweise
Kundensouveränität im chaotischen Gesundheitsmarkt sicherstellen.
http://www.fr-aktuell.de/ressorts/nachrichten_und_politik/dokumentation/?cnt=271056&page=4