Antidepressiva: die Kinder
sterben
Isabella Heuser, 51, Psychiaterin an der
Berliner Charité, über Warnungen, dass bestimmte Antidepressive
Selbstmordtendenzen bei Kindern und Jugendlichen fördern könnten
SPIEGEL: Die US-Arzneimittelbehörde FDA rät davon ab, depressive Kinder
und Jugendliche mit so genannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern
(SSRI) zu behandeln. Sind diese Mittel so gefährlich?
Heuser: Wir wissen, dass SSRI am Beginn der Behandlung antriebssteigernd wirken können. Erwachsene bekommen
deshalb in den ersten zwei Wochen zusätzlich zu den Antidepressive noch
dämpfende Arzneimittel. Bei den Kindern möchte man das vermeiden, weil man
ihnen diese Mittel nicht noch zusätzlich zumuten will…..
SPIEGEL: …. mit der Folge, dass sie in dieser Phase vermehrt
Selbstmordgedanken in die Tat umsetzen können?
Heuser: Man bewegt sich bei der medikamentösen Therapie von
depressiven Kindern in der Tat auf einem schmaleren Grat als bei Erwachsenen.
Doch auch eine unbehandelte oder nur mit Psychotherapie behandelte schwere
Depression birgt ein hohes Selbstmordrisiko.
SPIEGEL: In Deutschland ist keines dieser Mittel für die Behandlung
depressiver Kinder zugelassen. Warum werden sie dennoch verschrieben?
Heuser: Weil wir sie in verzweifelten Fällen brauchen. Sollen wir die
Kinder sterben lassen?
SPIEGEL: Die Mittel werden also weiter eingesetzt – und das, obwohl
nicht einmal ihre Wirksamkeit in dieser Altersgruppe zuverlässig belegt ist?
Heuser: Wir haben leider nur sehr unzureichende Daten über einen
Nutzen bei Kindern. Das ist ein Riesenproblem, das sich aber nur lösen ließe,
wenn man öfter den Mut hätte, Studien an Kindern und Jugendlichen zuzulassen.
SPIEGEL: Kann sich die Seele Zehnjähriger schon so verdüstern, dass
ihnen nur noch mit Psychopharmaka zu helfen ist?
Heuser: Natürlich kann sie das. Kinder haben die gleichen psychischen
Erkrankungen wie Erwachsene. Nur die Begleiterscheinungen sind anders.
Quelle: Der Spiegel, 49/2003