Amalgam - Stellungnahme Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 1994

 

… Die bei den Kindern ermittelten Werte wurden - soweit möglich - mit dem Amalgamstatus der Mütter in Beziehung gesetzt.

 

Daneben wurden in einigen Stellungnahmen betroffener Hersteller sowie Gutachten von Sachverständigen auch die Mängel der von Drasch et al. durchgeführten Studie (z.B. bezüglich der Methodik) dargelegt.

 

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte prüft und bewertet wissenschaftliche Veröffentlichungen auch auf der Grundlage arzneimittelrechtlicher Anforderungen. Danach besteht nicht erst bei Vorliegen des naturwissenschaftlich geführten Nachweises - entgegen der weit verbreiteten Meinung - einer Schädigung durch ein Arzneimittel ein Handlungszwang für das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte; der begründete Verdacht eines Zusammenhanges zwischen der Arzneimittelanwendung und einer unerwünschten Wirkung wird dem im Arzneimittelgesetz niedergelegten Gebot des vorbeugenden Gesundheitsschutzes Rechnung getragen.

 

Obgleich einige Fragen im Zusammenhang mit der von Drasch durchgeführten Studie bislang nicht geklärt wurden, ergeben sich aus ihr ernstzunehmende Hinweise, aufgrund derer die therapeutische Anwendung zahnärztlicher Amalgame bei Mädchen und Frauen im gebärfähigen Alter aus vorbeugendem Gesundheitsschutz unter eine strenge Indikation gestellt sowie die Amalgamtherapie in der Schwangerschaft ausgeschlossen werden sollte. Ausschlaggebend sind hierfür folgende Gesichtspunkte, welche im wesentlichen auf den dem Amt vorliegenden toxikologischen Stellungnahmen beruhen:

 

-          Die Quecksilberkonzentrationen in der Leber der Feten liegen etwa in der gleichen Größenordnung wie die gefundenen Werte bei Erwachsenen. Bei den Babys steigen die Werte leicht an, wobei die bei den Neugeborenen gemessenen Werte eine große Streuung aufweisen. Die Quecksilberkonzentrationen der Feten und der Babys (11 bis 50 Wochen) korrelieren mit dem Amalgamstatus der Mütter.

 

-          Die Quecksilberkonzentrationen in der Niere der Feten liegen deutlich unter den Werten von Erwachsenen. Nach der Geburt steigen sie an und liegen bei den Babys der Altersgruppe 11 bis 50 Wochen im Größenbereich der Werte, welche bei Erwachsenen mit vielen Amalgamfüllungen gefunden werden. Die Quecksilberkonzentrationen in der Niere der Feten und der Babys (11 bis 50 Wochen) korrelieren mit dem Amalgamstatus der Mütter.

 

-          Bei allen Neugeborenen (0 bis 10 Wochen) nehmen die Quecksilberkonzentrationen in der Niere um den Faktor 3 gegenüber den fetalen Werten zu. Bei den Kindern von Müttern mit nur null bis zwei Amalgamfüllungen nimmt die Quecksilberkonzentration in der Niere im Verlauf des ersten Lebensjahres nicht mehr zu, während sie bei den Kindern von Müttern mit drei bis zehn bzw. mehr als zehn Amalgamfüllungen auf das Zehnfache der fetalen Werte ansteigt.

 

-          In Untersuchungen von Bauer, Nylander et al., Schiele et al. wurden Quecksilberkonzentrationen in der Niere von beruflich nicht exponierten Erwachsenen (nicht nach dem Amalgamstatus differenziert) von 96 µg/kg (untere Grenze, Medianwert) bis 187 µg/kg (obere Grenze, Medianwerte) gefunden. Die Medianwerte der Babys (11 bis 50 Wochen) von Müttern mit drei bis zehn Füllungen liegen bei 85,5 (15,8 - 236,4) µg/Hg/kg Niere bzw. von Müttern mit mehr als zehn Füllungen bei 115,6 (15,9 - 2543,8) µg Hg/kg Niere. Damit erreichen die Werte dieser Kinder den Bereich, der bei Erwachsenen gefunden wird. Im Vergleich dazu liegen die Werte der Babys (11 bis 50 Wochen) von Müttern mit null bis zwei Amalgamfüllungen bei 18,8 (16,4 - 75,9) µg Hg/kg Niere.

 

-          Unter Zugrundelegung eines Nierengewichtes von 24 g bei der Geburt und 60 g im zweiten Lebenshalbjahr und unter den vereinfachenden annahmen, dass die in der Nierenrinde gemessene Konzentration für die ganze Niere gilt und Nierenrinde und Nierenmark etwa gleichmäßig an Gewicht zunehmen, steigt die Quecksilbermenge bei Kindern von Müttern mit null bis zwei Amalgamfüllungen von ca. 0,5 µg auf ca. 1 µg an. Dies kann durch Umverteilung und/oder Aufnahme mit der Nahrung erfolgen. Bei Kindern von Müttern mit mehr als zehn Amalgamfüllungen nimmt die Quecksilbermenge von ca. 0,5 µg auf ca. 7 µg zu. In beiden Gruppen ergeben sich diese Zahlen auch, wenn man nur diejenigen Kinder in eine solche Analyse einbezieht, die nicht gestillt wurden.

 

Da nicht anzunehmen ist, dass Kinder von Müttern ohne Amalgamfüllungen - abgesehen von der Muttermilch - anders ernährt werden als Kinder von Müttern mit Amalgamfüllungen, ist zu erwarten, dass die zusätzliche Belastung durch Quecksilber aus der Muttermilch bei Kindern von Müttern mit mehr als zehn Amalgamfüllungen maximal 0,5 µg beträgt.

 

-          Aus tierexperimentellen Untersuchungen am Meerschweinchen ist die Umverteilung des Quecksilbers aus der Leber auf andere Gewebe bekannt. Die Umverteilung wird durch die Bindung von Quecksilber an ein Metallothionein-ähnliches Protein in der fetalen Leber getriggert. Die Abnahme dieses Proteins in der Leber nach der Geburt führt zu einer Umverteilung in Nieren, Gehirn und Lungen. Dieser Mechanismus erklärt den Anstieg der Quecksilberkonzentration im Nierengewebe der Babys nach der Geburt.

 

-          In allen Altersstufen weisen vereinzelte Individuen extreme Belastungen, insbesondere in der Niere, auf: Bei Neugeborenen (0 bis 10 Wochen) wurde einmal eine Quecksilberkonzentration von > 500 µg/kg Niere gemessen. Bei Säuglingen (11 bis 50 Wochen) wurden viermal derart hohe Werte bestimmt; der höchste Wert betrug 2543,8 µg Hg/kg.

 

-          Ein No Observed Effect Level (NOEL) sowie ein Lowest Observed Effect Level (LOEL) für die Quecksilberkonzentration in der Großhirnrinde bzw. in der Niere ist nach derzeitigem Stand des Wissens bislang nicht festgelegt. Aus Gründen des vorbeugenden Gesundheitsschutzes sollte deshalb die Aufnahme von Quecksilber in den Organismus so gering wie möglich sein.

 

-          Die bei Feten und Kindern gemessenen Quecksilberkonzentrationen in Organen werden mit Gewebekonzentrationen, welche bei Erwachsenen gefunden werden, verglichen. Eine größere Empfindlichkeit von jüngeren Kindern gegenüber Quecksilber wird diskutiert und kann nicht ausgeschlossen werden.

 

-          Die bei Amalgamträgern gefundenen Quecksilberkonzentrationen liegen weitestgehend unter den arbeitsmedizinischen Grenzwerten. Fraglich ist jedoch, ob überhaupt Vergleiche mit diesen Grenzwerten aus toxikologischer Sicht möglich sind, da es sich bei der Amalgamproblematik um eine chronische Quecksilberaufnahme im Niedrigdosisbereich handelt, und die Faktoren der interindividuellen Quecksilberabgabe aus Amalgamfüllungen sowie der Quecksilberaufnahme weitgehend ungeklärt sind. Es ist derzeit nicht möglich, LOEL- bzw. NOEL-Werte zu bestimmen und damit aufgrund dieser Werte besondere Risikogruppen - abgesehen von den in Fach- und Gebrauchsinformationen zahnärztlicher Amalgame genannten Patientenkreise - zu identifizieren.

 

-          Makroskopisch wurden zwar keine Gewebeveränderungen der untersuchten Organe festgestellt, dennoch können Funktionsbeeinträchtigungen der kindlichen Nieren, welche makroskopisch nicht nachweisbar sind, nicht ausgeschlossen werden.

 

-          Tierexperimentell wurde gezeigt, dass die quecksilberbedingte Glomerulonephritis auf immunologischen Prozessen beruht. Auch beim Menschen wird eine immunologische Komponente bei dem durch Quecksilber hervorgerufenen nephrotischen Syndrom angenommen. Bei diesen immunologischen Prozessen sind individuelle Empfindlichkeitsunterschiede möglich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Quecksilber aus Amalgamfüllungen zum Entstehen dieses Krankheitsbildes beiträgt.

 

Zusammenfassung

 

Zusammenfassend ist festzustellen, dass aus der Studie von Drasch zwar keine Daten, die den Verdacht des Auftretens von gesundheitlichen Schäden bei Feten und Babys durch die Amalgamfüllungen der Mutter begründen würden, abgeleitet werden können; gleichwohl ist jedoch zu bedenken, dass die Amalgamfüllungen der Mütter eine Belastungsquelle mit Quecksilber für den kindlichen Organismus darstellen. Da eine größere Empfindlichkeit des jüngeren kindlichen Organismus nicht ausgeschlossen werden kann, ist es angezeigt, strenge Maßstäbe an die Nutzen-Risiko-Abwägung einer Amalgamanwendung bei Mädchen und Frauen im gebärfähigen alter anzulegen. Das Legen von Amalgamfüllungen bei diesem Personenkreis sollte nur erfolgen, wenn die Anwendung von Alternativmaterialien nicht möglich ist.

 

In der Schwangerschaft sollten keine neuen bzw. keine weiteren Amalgamfüllungen gelegt werden. Dies entspricht den Grundsätzen eines vorbeugenden Gesundheitsschutzes. Es besteht jedoch keine Veranlassung, klinisch einwandfreie Amalgamfüllungen entfernen zu lassen. Durch das schichtweise Entfernen von Amalgamfüllungen wird zusätzlich Quecksilber freigesetzt.

 

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Anschrift der Verfasserin: Dr. Tamara Zinke, Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Seestr. 10-11, 13353 Berlin.

 

Quelle: Bundesgesundhbl. 11/94