1954 Alltag mit Kranken
Vorher in unserer
Wohnung und nach Auszug des liebenswürdigen und imposanten Religionswissenschaftlers
Prof. Romano Guardini als Nachbar, war im selben Stockwerk des Mietshauses
Kunigundenstraße 51 in München Schwabing neben der Wohnung die Arztpraxis des
Vaters als praktischer Arzt und die der Mutter als Kinderärztin. Es war ein
Familienbetrieb ohne Hilfen. Mutter machte die Buchhaltung, die Abrechnung, das
Telefon und den Postverkehr. Vater pflegte sein großes Aquarium und die vielen
Blumen. Nur selten spielte er Geige oder Klavier.
Alles drehte sich um
die Kranken. Wenn unsere Eltern miteinander sprachen, dann waren immer Probleme
mit Kranken im Spiel. Schnell lernten wir Kinder, dass uns nur dann nicht das
Wort verboten wurde, wenn wir auch etwas über Patienten fragten. Auch wenn uns die ärztliche Schweigepflicht
fest eingebläut war, so wussten wir viel von den Patienten. Zahllose
Opernbesuche fielen ins Wasser, weil beim Schließen der Haustüre beim Gehen
Vater zu einem Asthmatiker gerufen wurde. Fast keine Nacht verging, in der
nicht irgendjemand klingelte oder anrief. Es waren alles Lappalien. Ernstlich
Kranke wagten damals sehr selten, einen Arzt zu sich zu bemühen. Angehörige waren oft sehr hilflos. Vom
Anrufer konnte man sich kein Bild machen. Bei "mein Mann schnauft seit 3
Stunden so komisch" lag dieser schon Stunden tot im Bett. Bei "ich
ersticke an einer Mandel" und Auflegen des Hörers, machte eine muntere
20jährige mit Mandelentzündung die Türe auf
als die Feuerwehr die Drehleiter aufgestellt hatte und den Notarzt
schickte.
Als ich 7jährig mit meinem
Vater in der vollen Straßenbahn stand, hustete ein ausgemergelter junger Mann
extrem bellend und spukte ohne vorgehaltener Hand viele Trambahngäste an.
Frierend und voll Ekel schmiegte ich mich an meinen Vater, den großen Arzt und
fragte ihn, warum der Mann dies tat.
Vater sagte: "Das ist der typische Husten der offenen Lungentuberkulose.
Jetzt hat er sicher Dutzende angesteckt. Das wollte er. Todkranke Lungenkranke
machen das absichtlich aus Hass auf Gesunde." Bis heute geht mir dieses
Erlebnis nicht aus dem Kopf. Immer wieder fragte ich die Eltern. Heute weiß
ich, dass dies ein Zug vieler Kranker ist.
Zu Besuch kamen zu
uns häufig Ärzte und Apotheker, allen imponierte es, wenn ich 4jährig sagte "ich werd` Hausarzt". Es war
ein sehnsüchtig erstrebtes Ziel.
(Auszug aus meiner neuen Biografie)