Alkoholentwöhnung medikamentös
Aktuelle Forschungsergebnisse legen nahe, dass die
Medizin ihre Lehrmeinung zu Sucht und Entzug Alkoholkranker überdenken muss:
Dutzende neuer Medikamente befinden sich derzeit im klinischen und vorklinischen
Teststadium, bei denen viele gänzlich neue Wege gehen. Interessante Ansätze
bietet beispielsweise die äußerst starke Stressreaktion im Gehirn, die sowohl
Mensch als auch Tier bei Alkoholsucht entwickeln – sie ähnelt dem Ausstoß von
Adrenalin und anderen Stoffen, die beim Menschen in Gefahrsituation vorkommen.
Behandlungs- und Entzugsforschung am US-Nationalinstitu
Willenbring schlägt daher ein neues Behandlungssystem
für die USA vor, bei dem die Patienten in der Praxis ihres Hausarztes behandelt
werden. Dieses Modell soll vor allem diejenigen Menschen anlocken, die keine
langen Gesprächstherapien oder stationäre Hilfe benötigen oder wollen. Im
Gespräch mit Technology Review äußert sich Willenbring über solche neuen
Ansätze gegen die Alkoholsucht.
Technology Review: Herr Willenbring, was ist aktuell
das größte Problem bei der Behandlung von Alkoholabhängigkeit?
Mark Willenbring: Die Hauptschwierigkeit ist, dass
sich so wenige Betroffene überhaupt behandeln lassen, Auf das Lebensalter
gerechnet sind es wahrscheinlich weniger als zehn Prozent.
TR: Wie kommt es zu dieser
niedrigen Zahl?
Willenbring: Die meisten Betroffenen sagen, dass sie
keine Behandlung bräuchten oder dass sie es alleine schaffen. Einer der Gründe
dafür ist das Verhältnis zwischen dem aktuell verfügbaren Therapiesystem und
der von den Patienten wahrgenommenen Notwendigkeit einer Behandlung. Wenn die
einzige Behandlung gegen Depression wäre, sich bei einer schweren Depression im
Krankenhaus einer Elektrokrampftherapie zu unterziehen, wäre das sicher eine
große Hemmschwelle. Den meisten von uns müsste es dann wohl erst einmal extrem
schlech
Das aktuelle Behandlungssystem für Alkoholabhänge in
den USA ist vom normalen Gesundheitssystem, also den Ärzten, Psychologen und
Psychiatern, abgekoppelt.
Unser heutiges System hat dabei drei Hauptprobleme:
Erstens wollen es die meisten Menschen nicht nutzen, sie werden in es
hineingezwungen. Zweitens werden Alkoholiker, die im normalen Gesundheitssystem
stecken, of
In der Konsequenz bedeutet das alles, dass neue
Behandlungsformen zwar entwickelt werden, aber dann nicht zum Einsatz kommen.
Versuchen Sie mal, einen Arzt zu finden, der weiß, wie man Naltrexon für
Alkoholabhängige verschreibt. Die gibts kaum.
TR: Gibt es Beweise dafür,
dass der medizinische Ansatz tatsächlich funktioniert?
Willenbring: Eine große Studie, bei der zwei
verschiedene Medikamente sowie die Psychotherapie untersucht wurden, ist im Mai
im "Journal of the American Medical Association" veröffentlicht
worden. Ein Teil der Patienten bekam eines der Medikamente (Naltrexon oder
einen anderen Wirkstoff namens Acamprosat) sowie medizinische Unterstützung –
eine einstündige Einführungssitzung mit einer Krankenschwester und neun
weitere, kurze Sessions, um über ihre Fortschritte zu reden. Andere Patienten
erhielten das Medikament und Gesprächstherapie. Die Studie fand heraus, dass
Naltrexon in Verbindung mit medizinischer Unterstützung das beste Ergebnis
hatte, sogar besser als Gesprächstherapie durch einen Spezialisten. Andere
Studien legen Ähnliches nahe. Nicht jeder muss also durch eine Psychotherapie
hindurch. Naltrexon mit medizinischer Unterstützung kann genauso effektiv sein.
Viele Leute wollen auch gar nicht mit einem
Psychotherapeuten reden oder einen Seelenstrip vor einer Gruppe vollführen. Sie
wollen einen Doktor oder eine Schwester, die ihnen bei ihrer Krankheit hilft.
Eine aktuelle Studie auf dem Gebiet der Depression fand heraus, dass kognitive
Verhaltenstherapie genauso wirksam wie der Einsatz von Medikamenten ist, wenn
es um milde und mittlere Depressionsfälle geht. Sie hat auch den Vorteil, dass
es zu keinen Nebenwirkungen kommt. Das führte dann dazu, dass das Angebot an
Verhaltenstherapie deutlich zunahm.
TR: Viele Menschen halten die Therapie für einen
integralen Bestandteil einer Suchtbehandlung – damit sie verstehen, was die
Sucht auslöst und Mechanismen entwickeln, wie sie damit umgehen können. Glauben
Sie nicht, dass eine allein auf den Arzt zugeschnittene Behandlung für
Alkoholmissbrauch irgendwann schief geht?
Willenbring: Aktuell haben diejenigen, die sich in
Behandlung begeben, meistens sehr schwere Probleme, was bedeutet, dass sie
wahrscheinlich auch eine intensive Therapie benötigen. Doch der durchschnittliche
Alkoholiker, den es weniger stört, wird gar nicht erst behandelt. Viele
Menschen mit Alkoholabhängigkeit arbeiten und haben
TR: Wie werden sich die
Behandlungsformen im nächsten Jahrzehnt ändern?
Willenbring: Innerhalb der nächsten zehn Jahre
erwarte ich einen Paradigmenwechsel in der Art der Behandlungsformen, die
angeboten werden und auch, wie sie angeboten werden.
TR: Welche neuen
Wirkstoffe befinden sich in der Entwicklung?
Willenbring: Eines der Medikamente, die derzeit in
klinischen Untersuchungen stecken, ist Topiramat, ein krampflösendes Mittel,
dass heute gegen Epilepsie eingesetzt wird.
Gamma-Aminobuttersäure- und Glutaminsäure-System,
zwei Neurotransmitter, die auch mit Belohnungsmechanismen und Entzug bei
Alkoholabhängigkeit zu tun haben.
Andere Wirkstoffe, die sich in der Entwicklung
befinden, gehen vor allem das Stressreaktionssystem im Gehirn an. Dabei geht es
um das für die Corticotropin-Ausschüttung verantwortliche Molekül. Wirkstoffe,
die es angehen, könnten die übertriebene Stressreaktion im Gehirn von
Alkoholabhängigen dämpfen.
Endocannabinoide, die die gleichen Rezeptoren wie
Marihuana betreffen, sind ebenfalls ein interessanter Wirkstoffbereich, der mit
dem Belohnungssystem im Gehirn zu tun hat. Antagonisten wie Rimonobant, das in
Europa kürzlich als Medikamen
TR: Wie will Ihr Institut dabei helfen, die neuen
medizinischen Behandlungsformen zu den Patienten zu bringen?
Willenbring: Wir haben erst einmal einen Ratgeber für
US-Ärzte entwickelt. Beim alten Modell würde der Doktor seinen Patienten auf
Alkoholabhängigkeit untersuchen und ihn dann an ein spezialisiertes
Behandlungszentrum weiterreichen. Das kann sehr erfolgreich sein, wenn die Leute
bereit sind, dort auch hinzugehen.
http://www.heise.de/tr/artikel/80514