ADHS Fallbeispiele aus der Geschichte
FALL 1
Das folgende Beispiel der Kombination einer Chorea minor mit einer schizophrenieartigen Psychose ist auch deswegen interessant, weil die Patientin acht Jahre früher eine Feer´sche Krankheit, also wahrscheinlich eine neuroallergische Spätform durchgemacht hatte.
Rosmarie M., 12 ½ Jahre (siehe
auch Fanconi und Wissler, Fall 46, Seite 89). Zweites
Kind,
Am 26. Oktober Beginn einer Nirvanolkur von 0,3 g täglich. Am neunten Nirvanoltag, d. h. am 3. November, starkes Exanthem ohne Fieber. Die choreatischen Bewegungen nehmen von nun an stark ab, verschwinden aber nicht vollständig. Am 6. November beginnt das Kind bei örtlichem und zeitlichem Orientiertsein immer stärker zu halluzinieren. Sie hört Stimmen durch die Wände, durch die Heizungsrohre, sie hat Verfolgungswahn, weigert sich deshalb, die „vergiftete“ Nahrung aufzunehmen, sieht überall Gestalten usw. Daneben hat sie Wahnideen von deutlichem sexuellen Charakter, glaubt ein Kind im Bauch zu haben, das man ihr wegoperieren wolle, glaubt an der Scheidung der Eltern schuld zu sein, indem sie Geschichten über die Untreue ihrer Mutter verbreitet hätte usw.
Zeitweise ist das Kind so aufgeregt, dass stärkere Beruhigungsmittel und strenge Isolierung nötig sind. Das Kind lebt deutlich in zwei Welten: in der Welt der Halluzinationen und im wirklichen Leben im Spital, ist über alles gut orientiert, erkennt alle Leute, weiß die Namen, erinnert sich sehr gut an die Vorgänge des Vortages usw., kann sich auch sehr gut mit Zeichnen, Spielen usw. beschäftigen. Die Chorea heilt Ende November 1939 aus, die Wahnideen halten noch bis Ende Dezember an. Allmählich hört das Kind auf, über seine Wahnwelt zu berichten. Bei der Entlassung am 27. Dezember fragt es aber nach der Durchleuchtung, ob man das Kind im Bauch auch gesehen habe.
Zu Hause geht es gut, das Kind wird lebhaft und ganz normal Im Juli 1940 nochmalige Spiralsaufnahme wegen neuem karditischen Schub. Das psychische Verhalten ist zu dieser Zeit vollständig normal, Intelligenz gut. Im Januar 1941 anlässlich eines erneuten pankarditischen Schubes gestorben. Keine Autopsie. Da das Kind bereits 1 ¼ Jahre nach der Psychose starb, lässt sich nicht mehr entscheiden, ob nur ein „akuter exogener Reaktionstyp“ oder der erste neuroallergisch bedingte Schub einer echten Schizophrenie vorlag.
Ein fünfjähriges Kind erkrankt mit Schüben von starkem Juckreiz der Fußsohlen und der Hände, dem langsam ein typisches „pink disease“ der Extremitäten folgt. Einige Wochen später stellen sich Charakterveränderungen, Schlaf- und Appetitlosigkeit ein. Die zuerst unbedeutende Muskelschwäche nimmt ständig zu, bis das Mädchen vollständig unbeweglich im Bett bleiben muss. Nach kurzdauernder Remis-sion im vierten Krankheitsmonat stellen sich die Lähmungen wieder ein, worauf die Spitalseinweisung folgt.
Man findet neben allen Symptomen der Feer’schen Krankheit, wie Tachykardie, Hypertension, „pink disease“ der Extremitäten, typischen Veränderungen der Psyche, eine vollständige Lähmung der Beine, des Rumpfes, der Arme und des Nackens mit Areflexie und Herabsetzungen der Sensibilität an den Beinen sowie Parästhesien der Hände und Füße. Im Liquor 2 ½ Zellen im cmm, 90 mg % GE.
Das Kind stirbt nach fünf Monate dauernder Krankheit an ausgedehnter doppelseitiger Pneumonie. Zeichen von Atemmuskellähmungen wurden nicht konstatiert. Die Autopsie ergab nur ganz geringfügige Chromolyse der Zellen der Clarkschen Säule und keinerlei Veränderungen der Wurzeln und der peripheren Nerven.
Neuroallergische Encephalitis bei
Santonin-Calomelkrankheit ohne Liquorveränderung.
Das Kind bekam am 27., 28., 29. und 30. April je 2 Tabletten. Am 2. Mai müde, wurde aus der Schule heimgeschickt. Abends 38 °C. Am 4. Mai subfebril, müde, unruhig geschlafen, morbilliformes Exanthem zuerst im Gesicht, dann am Körper, abends 40 °C, zunehmende Trübung des Sensoriums. Wegen Masern-Enzephalitis eingewiesen.
Befund:
Vollständig benommen, wälzt sich im Bett hin und her, spricht zusammenhanglos, wirr, reagiert nicht auf die Umgebung, Deutliche Nackensteifheit. Strabismus concomintans. Im Gesicht und an den Händen myoklonische Zuckungen, starker grobschlägiger Tremor, Muskulatur stark hypertonisch, Reflexe seitengleich, gesteigert, zeitweise Fußklonus, Babinsky beidseits positiv, Temperatur 40,5 *C, Puls nur 100, SR 6 Std. Leuko 15 900, 84 % toxisch verändert N, mit 26% Stabkernigen. Keine EOS. Liquor klar, Druck 24, GE. 22,8 mg% 2 2/3 Zellen, 59 mg% Zucker. Auf der Haut ausgedehntes hochrotes großfleckiges Exanthem, welches durchaus einem Masernexanthem gleicht. Keine katarrhalischen Symptome der oberen Luftwege, keine Konjunktivitis, kein Husten.
Am 5. Mai 37,8 °C, das Kind is
Eine ganz besondere Stellung in der hausärztlichen Praxis nehmen die abortiven Fälle ein. Der Praktiker sieht viel mehr zahlreiche unklare Fälle mit unvollständigem Symptomenbild, wobei aber immer gewisse vegetative nervöse Erscheinungen, einzeln aber auch in Gruppen besonders hervortreten. Nabelkoliken, Appetitlosigkeit, feuchtkalte Hand- und Fußflächen, Schlafstörungen, Erziehungsschwierigkeiten, melancholische Verstimmung u u. a.
Schon 1948 setzte in der Schweiz ein intensiver Kampf gegen die Anwendung von Quecksilber in der Kin-erheilkunde ein, mit dem Ziel der Akrodynie (Feer’schen Krankheit) ein Ende zu setzen, wobei die Schweizer Apothekenkammer wesentlich half. Heute wurde das Feer-Syndrom in ADHS umgetauscht, weil hier niemand die Ursache erkennt!
Die Akrodynie ist eine typische iatrogene Erkrankung, welche ein jahrzehntelanges Studium erfordert, und ist das typische Beispiel für das Auftauchen und Wiederverschwinden einer medikamentös bedingten Erkrankung in unserem Jahrhundert. Wer die Akrodynie nicht kennt, dem werden zahlreiche Fehldiagnosen unterlaufen. In leichten Fällen wird man lediglich an ein verstärktes Trotzalter denken.
Eine ganz besondere Bedeutung erlangt die Akrodynieforschung neuerdings, da bei einer beträchtlichen Anzahl von Amalgamfüllungsträgern /-innen eine bisher nicht erkannte ADHS-Symptomatik von dem klinischen Toxikologen Dr. M. Daunderer (München) diagnostiziert wurde und erfolgreich mit Amalgamentfernung, DMPS-Therapie sowie mit kieferchirurgischen Eingriffen zur Behandlung kommt. Leider werden wir an einem amalgambedingten Feer-Syndrom leidenden Patienten derzeit noch von fast allen Ärzten in Klinik und Praxis mit unserer komplex auftretenden Symptomatik genau so wenig verstanden, wie der Erkenner des amalgambedingten Feer-Syndroms selbst.
FEERt E.: Diagnostik der Kinderkrankheiten, Springer-Verlag Wien (1947/1951)
Fanconi, G., Zellweger, H., Bozstein, A.: Die Poliomyelitis und ihre Grenzgebiete, Beno Schwabe & Co Verlag Basel (1945)
Fanconi, G., Wallgren, A.: Lehrbuch der Pädiatrie, Beno Schwabe & Co Verlag Basel, Ausgaben von 1950, 1954, 1956,1961, 1963, 1967
Fanconi, G.: Der Wandel der Medizin. Verlag Hans Huber, Bern-Stuttgart-Wien (1970)
Feer, E. — Herausgegeben von Joppich, G.: Lehrbuch der Kinderheilkunde, Gustav Fischer Verlag Stuttgart (1971)
Mayerhofer, E.: Angewandte Pädiatrie, Verlag Wilhelm Maudrich, Wien (1952)
SIEGL, J.: Therapie der Kinderkrankheiten. Verlag Wilhelm Maudrich, Wien-Düsseldorf £1953}
Auszug aus dem Original-Artikel von Fanconi über die Feersche Krankheit (1967):
Die Akrodynie ist der Prototyp einer iatrogenen Krankheit, die besonders im Beginn des 20. Jahrhunderts mit der enormen Zunahme quecksilberhaltiger Medikamente (Kalomel, weiße Präzipitatsalbe, Hg-haltige Zahnpuder usw.) auch in der Pädiatrie sich in allen Kulturstaaten stark ausbreitete. 1923 glaubte Feer eine neue Krankheit vor sich zu haben. Seit Fanconi 1947 (neurallergische Reaktion auf Hg) und Warkany 1948 (vermehrte Hg-Ausscheidung im Urin) auf die ätiologische Bedeutung des Quecksilbers aufmerksam gemacht und vor dessen Anwendung in der Therapie gewarnt haben, ist die Akrodynie in der Schweiz und auch in den USA praktisch verschwunden.
Zuerst fallen
die psychischen Symptome wie Verdrießlichkeit und Schlafstörungen
(Schlafumkehr} auf.
Bald gesellen sich Hautveränderungen hinzu, besonders Schweißfriesel und Follikulitiden, die eine Folge des profusen Schweißes sind. Hände, Füße und oft auch die Nasenspitze nehmen rosarote bis hochrote Färbung an („pink disease“); infolge Maceration stellen sich eine groblamellöse Schuppung und bei schlechter Pflege Sekundärinfektionen ein, wie nicht-heilen-wollende Paronychien. Trophische Störungen, Brüchigwerden der Nägel, Haarausfall, Lockerung und Ausfall der Zahne gesellen sich hinzu. Die Muskulatur ist hypotonisch oder gar adynamisch. Wegen der gestörten extrapyramidalen Innervation nehmen die Kinder außergewöhnliche Körperstellungen ein.
Oft besteht ein deutlicher Tremor der hochgehaltenen Hände wie bei einem Basedow. Der Name Akrodynie (Schmerzen in den Extremitäten) rührt von den Sensibilitätsstörungen her (Parästhesien, Juckreiz, oft lanzinierende Schmerzen). Frühzeitig besteht Lichtscheu« erkennbar am Zukneifen der Augen.
Die kardiovasculären Störungen gehören zu den Kardinalsymptomen der Akrodynie: Tachykardie bis zu 180 Pulsschlägen, auch ohne Temperaturerhöhung, Hypertension bis 140 mm Hg und darüber, ohne Nierenschaden.
Die Krankheit beginnt schleichend, das Vollbild kann wochen- oder monatelang anhalten; es klingt etwas rascher, als es gekommen ist, wieder ab. Ähnlich wie die ebenfalls allergische akute Kalomelkrankheit (s. S. 466) hinterlässt die Akrodynie eine Art Immunität (Bildung blockierender Antikörper? s. S, 452); nur in 3,4 % der Fälle des Kinderspitals Zürich kam es zu Recidiven.
Wer die Akrodynie nicht kennt oder nicht an sie denkt, dem werden alle möglichen Fehldiagnosen unterlaufen. In leichteren Fällen wird er an ein verfrühtes oder verstärktes Trotzalter denken, in schweren Fällen an eine beginnende tuberkulöse Meningitis, Auch gewisse B-Avitaminosen, wie Beriberi und Pellagra sowie beginnende Dermatomyositis können eine Akrodynie vortäuschen.
Schwierig ist die sichere Diagnose bei den häufigen Formes frustes, weil sich mehr oder weniger ausgeprägte „Akrodyniesymptome“ auf manche schleichend verlaufende Krankheit, z. B. auf eine Primärtuberkulose, aufpfropfen können.
Die
Prognose is
(Handbuch Amalgamvergiftung)