ADHS Fallbeispiele aus der Geschichte

FALL 1

Das folgende Beispiel der Kombination einer Chorea minor mit einer schizophrenieartigen Psychose ist auch deswegen interessant, weil die Patientin acht Jahre früher eine Feer´sche Krankheit, also wahrscheinlich eine neuroallergische Spätform durchgemacht hatte.

Rosmarie M., 12 ½  Jahre (siehe auch Fanconi und Wissler, Fall 46, Seite 89). Zweites Kind, Familie gesund. Als Säugling sehr viele Durchfälle, mit sieben Monaten zwei Tage lang dauernde Krämpfe, die sich später nie mehr wiederholten. Das Kind wurde damals steif, bewusstlos, verdrehte die Augen. Mit vier Jahren klassische Feer’sche Erkrankung, im Kinderspital behandelt. Innerhalb von zwei Monaten geheilt. Mit 11 ¾ Jahren erster rheumatischer Schub von Polyarthritis mit Noduli rheumatici. Erythema anulare Leiner mit schwerer Pankarditis. Vier Monate später, im September 1939, Beginn einer typischen Chorea> Erythema annulare Leiner, kompensierter Mitralfehler. SR 6 Std., Leuko 6600 mit 71,5% N. 0,5% Eos. Kein Fieber, Psychisches Verhalten, außer einer choreatischen Labilität, normal.

Verlauf:

Am 26. Oktober Beginn einer Nirvanolkur von 0,3 g täglich. Am neunten Nirvanoltag, d. h. am 3. November, starkes Exanthem ohne Fieber. Die choreatischen Bewegungen nehmen von nun an stark ab, ver­schwinden aber nicht vollständig. Am 6. November beginnt das Kind bei örtlichem und zeitlichem Orien­tiertsein immer stärker zu halluzinieren. Sie hört Stimmen durch die Wände, durch die Heizungsrohre, sie hat Verfolgungswahn, weigert sich deshalb, die „vergiftete“ Nahrung aufzunehmen, sieht überall Gestalten usw. Daneben hat sie Wahnideen von deutlichem sexuellen Charakter, glaubt ein Kind im Bauch zu haben, das man ihr wegoperieren wolle, glaubt an der Scheidung der Eltern schuld zu sein, indem sie Geschichten über die Untreue ihrer Mutter verbreitet hätte usw.

Zeitweise ist das Kind so aufgeregt, dass stärkere Beruhigungsmittel und strenge Isolierung nötig sind. Das Kind lebt deutlich in zwei Welten: in der Welt der Halluzinationen und im wirklichen Leben im Spital, ist über alles gut orientiert, erkennt alle Leute, weiß die Namen, erinnert sich sehr gut an die Vorgänge des Vortages usw., kann sich auch sehr gut mit Zeichnen, Spielen usw. beschäftigen. Die Chorea heilt Ende November 1939 aus, die Wahnideen halten noch bis Ende Dezember an. Allmählich hört das Kind auf, über seine Wahnwelt zu berichten. Bei der Entlassung am 27. Dezember fragt es aber nach der Durch­leuchtung, ob man das Kind im Bauch auch gesehen habe.

Zu Hause geht es gut, das Kind wird lebhaft und ganz normal Im Juli 1940 nochmalige Spiralsaufnahme wegen neuem karditischen Schub. Das psychische Verhalten ist zu dieser Zeit vollständig normal, Intelligenz gut. Im Januar 1941 anlässlich eines erneuten pankarditischen Schubes gestorben. Keine Autopsie. Da das Kind bereits 1 ¼ Jahre nach der Psychose starb, lässt sich nicht mehr entscheiden, ob nur ein „akuter exogener Reaktionstyp“ oder der erste neuroallergisch bedingte Schub einer echten Schizophrenie vorlag.

Fall 2

Ein fünfjähriges Kind erkrankt mit Schüben von starkem Juckreiz der Fußsohlen und der Hände, dem langsam ein typisches „pink disease“ der Extremitäten folgt. Einige Wochen später stellen sich Charakter­veränderungen, Schlaf- und Appetitlosigkeit ein. Die zuerst unbedeutende Muskelschwäche nimmt ständig zu, bis das Mädchen vollständig unbeweglich im Bett bleiben muss. Nach kurzdauernder Remis-sion im vierten Krankheitsmonat stellen sich die Lähmungen wieder ein, worauf die Spitalseinweisung folgt.

Man findet neben allen Symptomen der Feer’schen Krankheit, wie Tachykardie, Hypertension, „pink disease“ der Extremitäten, typischen Veränderungen der Psyche, eine vollständige Lähmung der Beine, des Rumpfes, der Arme und des Nackens mit Areflexie und Herabsetzungen der Sensibilität an den Beinen sowie Parästhesien der Hände und Füße. Im Liquor 2 ½ Zellen im cmm, 90 mg % GE.

Das Kind stirbt nach fünf Monate dauernder Krankheit an ausgedehnter doppelseitiger Pneumonie. Zeichen von Atemmuskellähmungen wurden nicht konstatiert. Die Autopsie ergab nur ganz geringfügige Chromolyse der Zellen der Clarkschen Säule und keinerlei Veränderungen der Wurzeln und der peripheren Nerven.

Fall 3

Neuroallergische Encephalitis bei Santonin-Calomelkrankheit ohne Liquorveränderung. Ursula K.,  8 ½ Jahre. Einziges Kind, Familie ganz gesund, keine allergische Diathese. Nie ernstlich krank, neigt nicht zu Erkältungen, Mit sieben Jahren Masern, zugleich mit einigen Mitschülern. Wegen hartnäk-kiger Oxyuriasis machte das Kind ca. am 10. April zweimal eine Kur mit Santonin-Calomeltabletten (0,025 Santonin pro dosi, während drei Tagen 3 Tabletten, nach zwei Tagen Pause nochmals eine Kur von 9 Tabletten). Da die Würmer immer noch nicht verschwunden waren, wurde am 27. April eine dritte Wurmkur mir den gleichen Tabletten wiederholt.

Das Kind bekam am 27., 28., 29. und 30. April je 2 Tabletten. Am 2. Mai müde, wurde aus der Schule heimgeschickt. Abends 38 °C. Am 4. Mai subfebril, müde, unruhig geschlafen, morbilliformes Exanthem zuerst im Gesicht, dann am Körper, abends 40 °C, zunehmende Trübung des Sensoriums. Wegen Masern-Enzephalitis eingewiesen.

Befund:

Vollständig benommen, wälzt sich im Bett hin und her, spricht zusammenhanglos, wirr, reagiert nicht auf die Umgebung, Deutliche Nackensteifheit. Strabismus concomintans. Im Gesicht und an den Händen myoklonische Zuckungen, starker grobschlägiger Tremor, Muskulatur stark hypertonisch, Reflexe seitengleich, gesteigert, zeitweise Fußklonus, Babinsky beidseits positiv, Temperatur 40,5 *C, Puls nur 100, SR 6 Std. Leuko 15 900, 84 % toxisch verändert N, mit 26% Stabkernigen. Keine EOS. Liquor klar, Druck 24, GE. 22,8 mg% 2 2/3 Zellen, 59 mg% Zucker. Auf der Haut ausgedehntes hochrotes großfleckiges Exanthem, welches durchaus einem Masernexanthem gleicht. Keine katarrhalischen Symptome der oberen Luftwege, keine Konjunktivitis, kein Husten.

Verlauf:

Am 5. Mai 37,8 °C, das Kind ist ganz klar, weiß nichts über die Spitalseinweisung, hat über den Tag vom 4. April eine vollständige Amnesie. Gegen Abend wird es aber wieder benommen, spricht ohne Zusammenhang, sieht einen mit merkwürdigem starren Blick an, steigt ohne Grund aus dem Bett, verwechselt die Umgebungspersonen. 6. Mai noch subfebril, wieder ganz klar, abends etwas verlängerte Reaktionszeit. In der Nacht vom 6. auf den 7. Mai sehr unruhig, noch leichte Ataxie der Hände. Exanthem noch blühend, keine wesentliche Drüsen- und keine Milzschwellung, 7. Mai ganz abgefiebertt neurologischer Befund normal* Das Exanthem ist für Masern atypisch, jetzt eher urticariell, leicht erhaben, stellenweise girlandenförmig. 8. Mai, das Exanthem ist abgeblasst, erinnert am ehesten an ein Megaloerythem. Im Liquor 15 cm Druck, 30,4 mg% GE. 1 2/3 Zellen, 71 mg% Zucker, Goldsol pos. Im Blut 7500 Leuko., 57 % N, 6% Eos. Am 12. Mai entlassen.                                                                                                                                                

Eine ganz besondere Stellung in der hausärztlichen Praxis nehmen die abortiven Fälle ein. Der Praktiker sieht viel mehr zahlreiche unklare Fälle mit unvollständigem Symptomenbild, wobei aber immer gewisse vegetative nervöse Erscheinungen, einzeln aber auch in Gruppen besonders hervortreten. Nabelkoliken, Appetitlosigkeit, feuchtkalte Hand- und Fußflächen, Schlafstörungen, Erziehungsschwierigkeiten, melan­cholische Verstimmung u u. a.

Politische Aspekte:

Schon 1948 setzte in der Schweiz ein intensiver Kampf gegen die Anwendung von Quecksilber in der Kin-erheilkunde ein, mit dem Ziel der Akrodynie (Feer’schen Krankheit) ein Ende zu setzen, wobei die Schweizer Apothekenkammer wesentlich half. Heute wurde das Feer-Syndrom in ADHS umgetauscht, weil hier niemand die Ursache erkennt!

Resümee:

Die Akrodynie ist eine typische iatrogene Erkrankung, welche ein jahrzehntelanges Studium erfordert, und ist das typische Beispiel für das Auftauchen und Wiederverschwinden einer medikamentös bedingten Erkrankung in unserem Jahrhundert. Wer die Akrodynie nicht kennt, dem werden zahlreiche Fehldiagnosen unterlaufen. In leichten Fällen wird man lediglich an ein verstärktes Trotzalter denken.

 

Eine ganz besondere Bedeutung erlangt die Akrodynieforschung neuerdings, da bei einer beträchtlichen Anzahl von Amalgamfüllungsträgern /-innen eine bisher nicht erkannte ADHS-Symptomatik von dem klini­schen Toxikologen Dr. M. Daunderer (München) diagnostiziert wurde und erfolgreich mit Amalgament­fernung, DMPS-Therapie sowie mit kieferchirurgischen Eingriffen zur Behandlung kommt. Leider werden wir an einem amalgambedingten Feer-Syndrom leidenden Patienten derzeit noch von fast allen Ärzten in Klinik und Praxis mit unserer komplex auftretenden Symptomatik genau so wenig ver­standen, wie der Erkenner des amalgambedingten Feer-Syndroms selbst.

 

Es scheint seit Menschengedenken immer so gewesen zu sein, dass alles Neue an Erkenntnis vorerst ver­neint, bekämpft und nicht verstanden wird, bis man es schließlich als großartige, wissenschaftliche Errungenschaft würdigt.

Literatur:

FEERt E.: Diagnostik der Kinderkrankheiten, Springer-Verlag Wien (1947/1951)

Fanconi, G., Zellweger, H., Bozstein, A.: Die Poliomyelitis und ihre Grenzgebiete, Beno Schwabe & Co Verlag Basel (1945)

Fanconi, G., Wallgren, A.: Lehrbuch der Pädiatrie, Beno Schwabe & Co Verlag Basel, Ausgaben von 1950, 1954, 1956,1961, 1963, 1967

Fanconi, G.: Der Wandel der Medizin. Verlag Hans Huber, Bern-Stuttgart-Wien (1970)

Feer, E. — Herausgegeben von Joppich, G.: Lehrbuch der Kinderheilkunde, Gustav Fischer Verlag Stuttgart (1971)

Mayerhofer, E.: Angewandte Pädiatrie, Verlag Wilhelm Maudrich, Wien (1952)

SIEGL, J.: Therapie der Kinderkrankheiten. Verlag Wilhelm Maudrich, Wien-Düsseldorf £1953}

 

Auszug aus dem Original-Artikel von Fanconi über die Feersche Krankheit (1967):

Die Akrodynie ist der Prototyp einer iatrogenen Krankheit, die besonders im Beginn des 20. Jahrhunderts mit der enormen Zunahme quecksilberhaltiger Medikamente (Kalomel, weiße Präzipitatsalbe, Hg-haltige Zahnpuder usw.) auch in der Pädiatrie sich in allen Kulturstaaten stark ausbreitete. 1923 glaubte Feer eine neue Krankheit vor sich zu haben. Seit Fanconi 1947 (neurallergische Reaktion auf Hg) und Warkany 1948 (vermehrte Hg-Ausscheidung im Urin) auf die ätiologische Bedeutung des Quecksilbers aufmerksam gemacht und vor dessen Anwendung in der Therapie gewarnt haben, ist die Akrodynie in der Schweiz und auch in den USA praktisch verschwunden.

Zuerst fallen die psychischen Symptome wie Verdrießlichkeit und Schlafstörungen (Schlafumkehr} auf. Es ist weniger die Psyche als vielmehr die vom Zwischenhirn beherrschte (s. auch S. 940) mimische Wider­spiegelung derselben» die verändert ist.

Bald gesellen sich Hautveränderungen hinzu, besonders Schweißfriesel und Follikulitiden, die eine Folge des profusen Schweißes sind. Hände, Füße und oft auch die Nasenspitze nehmen rosarote bis hochrote Fär­bung an (pink disease“); infolge Maceration stellen sich eine groblamellöse Schuppung und bei schlechter Pflege Sekundärinfektionen ein, wie nicht-heilen-wollende Paronychien. Trophische Störungen, Brüchig­werden der Nägel, Haarausfall, Lockerung und Ausfall der Zahne gesellen sich hinzu. Die Muskulatur ist hypotonisch oder gar adynamisch. Wegen der gestörten extrapyramidalen Innervation nehmen die Kinder außergewöhnliche Körperstellungen ein.            

Oft besteht ein deutlicher Tremor der hochgehaltenen Hände wie bei einem Basedow. Der Name Akrodynie (Schmerzen in den Extremitäten) rührt von den Sensibilitätsstörungen her (Parästhesien, Juckreiz, oft lanzinierende Schmerzen). Frühzeitig besteht Lichtscheu« erkennbar am Zukneifen der Augen.

Die kardiovasculären Störungen gehören zu den Kardinalsymptomen der Akrodynie: Tachykardie bis zu 180 Pulsschlägen, auch ohne Temperaturerhöhung, Hypertension bis 140 mm Hg und darüber, ohne Nie­renschaden.

Verlauf:

Die Krankheit beginnt schleichend, das Vollbild kann wochen- oder monatelang anhalten; es klingt etwas rascher, als es gekommen ist, wieder ab. Ähnlich wie die ebenfalls allergische akute Kalomel­krankheit (s. S. 466) hinterlässt die Akrodynie eine Art Immunität (Bildung blockierender Antikörper? s. S, 452); nur in 3,4 % der Fälle des Kinderspitals Zürich kam es zu Recidiven.

Wer die Akrodynie nicht kennt oder nicht an sie denkt, dem werden alle möglichen Fehldiagnosen unter­laufen. In leichteren Fällen wird er an ein verfrühtes oder verstärktes Trotzalter denken, in schweren Fällen an eine beginnende tuberkulöse Meningitis, Auch gewisse B-Avitaminosen, wie Beriberi und Pel­lagra sowie beginnende Dermatomyositis können eine Akrodynie vortäuschen.

Schwierig ist die sichere Diagnose bei den häufigen Formes frustes, weil sich mehr oder weniger ausge­prägte „Akrodyniesymptome“ auf manche schleichend verlaufende Krankheit, z. B. auf eine Primärtuber­kulose, aufpfropfen können.

Die Prognose ist gut, wenn die Kinder nicht an einer Sekundärinfektion, die von den trophischen Ulcerarionen ausgeht, zugrunde gehen. Überlebt das Kind, so tritt völlige Heilung ein.

 

(Handbuch Amalgamvergiftung)