Wie lange wird ein Gesunder in einer Nervenklinik
behalten?
David Rosenhan hat es 1968
ausprobiert.
PSYCHIATRIE – Experiment fehlender
Nachweis einer psychiatrischen Krankheit
DIE VORBEREITUNGEN für sein
Experiment waren immer dieselben: David Rosenhan, Professor für Psychologie an
der Stanford University, putzte sich mehrere Tage lang die Zähne nicht. Er
wusch sich auch nicht und liess das Rasieren bleiben. Dann zog er schmutzige
Kleider an, vereinbarte telefonisch unter dem falschen Namen David Lurie einen
Termin in einer psychiatrischen Klinik und liess sich von seiner Frau vor dem
Haupteingang absetzen.
Im Aufnahmebüro klagte er, Stimmen gehört zu haben, die, soweit er
sie habe verstehen können, «leer», «dumpf» und «hohl» gesagt hätten, und bat um
Aufnahme in die Klinik. Der untersuchende Psychiater konnte nicht wissen, dass
Rosenhan diese Symptome sorgfältig ausgewählt hatte, weil es in der
wissenschaftlichen Literatur keinen Fall gab, der zu ihnen passte. Nach der
Einweisung hörte Rosenhan sofort auf, die Symptome zu spielen. Er verhielt sich
völlig normal, redete mit Patienten und Personal und wartete. Wie lange würde
es dauern, bis er als geistig gesund entdeckt und entlassen würde?
Das Resultat brachte die traditionelle Psychiatrie in
ernsthafte Schwierigkeiten.
Rosenhan war 40 Jahre alt,
als er 1968 die Frage klären wollte, ob es «Normalsein und Irresein» gibt und
wie man beides unterscheiden kann. «Die Frage ist weder überflüssig noch selbst
irrsinnig», schrieb er später in seinem berühmt gewordenen Artikel «Gesund in kranker Umgebung». «Sosehr
wir auch persönlich davon überzeugt sein mögen, dass wir normal von anormal
abgrenzen können, die Beweise sind schlicht nicht zwingend.»
Das Handbuch für Diagnostik
der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung teilte Patienten zwar nach
Symptomen in Kategorien ein, die eine Unterscheidung von Geisteskranken und
Gesunden ermöglichen sollten. Doch bei Rosenhan war die Überzeugung gewachsen,
dass eine psychische Krankheit weniger eine Sache objektiver Symptome sei als
der subjektiven Wahrnehmung des Beobachters. Er glaubte, diese Frage liesse
sich klären, indem man prüfte, ob normale Menschen, die nie an den Symptomen
einer schweren psychischen Störung gelitten hatten, in einer psychiatrischen
Klinik als gesund auffielen und, falls ja, wodurch.
In den Jahren 1968 bis 1972
liessen er und sieben seiner Seminarteilnehmer
sich unter falschen Namen und mit denselben gespielten Symptomen in insgesamt zwölf psychiatrische Kliniken
einliefern. Unter den Scheinpatienten waren ein Psychologiestudent, drei
Psychologen, ein Kinderarzt, ein Psychiater, ein Maler und eine Hausfrau, die
alle die Aufgabe hatten, aus eigener Kraft aus der Klinik herauszukommen, indem
sie das Personal von ihrer Gesundheit überzeugten. Sie zeigten sich kooperativ,
hielten sich an alle Regeln der Station und nahmen die verschriebenen
Medikamente ein - zum Schein wenigstens: Rosenhan hatte sie vor der
Einlieferung gelehrt, wie man Tabletten unter die Zunge klemmt, anstatt sie zu
schlucken. Insgesamt erhielten sie 2100 Tabletten, darunter unterschiedlichste
Präparate - alle für genau die gleichen Symptome.
Welchen Gefahren sich die
Scheinpatienten aussetzten, wurde Rosenhan erst klar, als das Experiment schon
am Laufen war. Einige befürchteten etwa, vergewaltigt oder geschlagen zu
werden, und Rosenhan merkte, dass er keine Möglichkeit hatte, die Leute
notfalls herauszuholen. Von da an war ein Rechtsanwalt auf Abruf bereit. Da
kaum jemand vom Experiment wusste, hinterlegte Rosenhan auch Anweisungen für
den Fall seines Todes.
Alle Scheinpatienten
befürchteten, sofort enttarnt zu werden. Zu Beginn führten sie ihr
Forschungstagebuch im Geheimen. Mit einem ausgeklügelten System wurde dieses
Material täglich aus der Station geschmuggelt. Doch bald stellte sich heraus,
dass keine Vorsichtsmassnahmen nötig waren: Das Personal achtete gar nicht
darauf.
Kein einziger der Scheinpatienten wurde entlarvt. Zwar wurden schliesslich alle wieder entlassen,
aber durchschnittlich erst nach drei
Wochen und nicht etwa als geheilt, sondern in den meisten Fällen mit der
Diagnose «Schizophrenie in Remission». Rosenhan wartete einmal sogar 52 Tage auf seine Entlassung. «Mann, war das
eine lange Zeit», erinnert er sich heute, «aber ich hatte mich schon richtig an
das Anstaltsleben gewöhnt.»
Ironischerweise waren es die anderen Patienten, die das Spiel
durchschauten. Während der ersten drei Klinikaufenthalte äusserte ein
Drittel von ihnen den Verdacht, dass die Scheinpatienten gar nicht krank seien,
einige von ihnen mit grosser Treffsicherheit: «Sie sind nicht verrückt. Sie sind ein Journalist oder ein Professor.
Sie überprüfen das Krankenhaus.»
Das Experiment sprach für
die Macht des Schubladendenkens in der
Psychiatrie. Nachdem ein Scheinpatient bei der Eintrittsuntersuchung als
schizophren diagnostiziert worden war, konnte er tun, was er wollte, das Stigma
wurde er nicht mehr los. Die Krankengeschichte wurde unabsichtlich so verzerrt,
dass sie zur Diagnose passte. Die Klassifizierung als geistig Kranker bewirkte
auch, dass normales Verhalten übersehen oder fehlinterpretiert wurde. Über
einen Scheinpatienten, der sein Forschungstagebuch führte, hiess es in einem
Pflegebericht: «Patient ist mit seinen Schreibgewohnheiten beschäftigt.»
Rosenhan und die anderen
Scheinpatienten machten auch kleine Versuche mit dem Personal. So baten sie
Pflegerinnen und Ärzte von Zeit zu Zeit um Erlaubnis, hinauszugehen, und beobachteten,
was dann geschah. Die häufigste Reaktion war eine kurze Antwort im Vorbeigehen
mit abgewandtem Kopf oder überhaupt keine Antwort. Oft hatten die Begegnungen
dasselbe Muster.
Scheinpatient:
«Entschuldigen Sie bitte, Dr. X., können Sie mir sagen, wann ich für den Gartenbesuch
in Frage komme?»
Arzt: «Guten Morgen Dave.
Wie geht es Ihnen heute?» (Arzt geht weiter, ohne eine Antwort abzuwarten.)
Die Entmündigung von Patienten in psychiatrischen
Kliniken wurde damals auch von
anderer Seite zum Thema gemacht: 1962 hatte der Hippieautor Ken Kesey das Buch
«One flew over the Cuckoo's Nest»
publiziert, das 1975 mit Jack Nicholson in der Hauptrolle mit riesigem Erfolg
verfilmt wurde. Nicholson spielt den kleinen Gauner Randle Patrick McMurphy,
der sich in eine psychiatrische Klinik einliefern lässt, um dem Gefängnis zu
entgehen.
Das Buch käme durchaus als
Inspiration für das Experiment in Frage, denn dem Leser stellt
sich immer wieder die Frage, wer denn hier eigentlich verrückt sei, die
Insassen der Klinik oder das Personal. Doch Rosenhan kannte «One flew over the
Cuckoo's Nest» nicht, als er 1968 seine Versuche startete.
Die Publikation des
Experiments im Jahre 1973 löste einen Proteststurm aus. Viele seiner Kollegen
kritisierten die Studie wegen methodischer Mängel, andere hielten
«Schizophrenie in Remission» für so gut wie «gesund». Mit der Kritik an seinem
Experiment konnte Rosenhan leben; dass niemand versucht hat, es zu
reproduzieren, findet er allerdings «schockierend».
Heute würde Rosenhans
Versuch scheitern, bevor er begonnen hätte. Nicht etwa weil die Kliniken sich
seither von Grund auf verändert hätten, sondern weil in den USA heute niemand
in ein Spital kommt, bevor sicher ist, dass er den Aufenthalt auch bezahlen
kann.
Trotz der Kritik an
Rosenhans Studie hatte sie Folgen. Rosenhan hatte nicht bestritten, dass
gewisse Verhalten von der Norm abwichen, dass Leute unter Halluzinationen,
Angst oder Depressionen litten. Doch er hielt die Klassifizierung der Diagnosen
dieser Leiden für uneindeutig und im schlimmsten Fall für schädlich. Zwar wurde
nach Veröffentlichung der Studie die Klassifizierung in der psychiatrischen
Diagnose nicht abgeschafft, doch wurden Listen mit Verhaltensweisen erstellt, die
bei bestimmten Krankheiten erfüllt sein müssen. Die Entstigmatisierung von
Diagnosen wie schizophren oder geisteskrank ist jedoch bis heute nicht erreicht
worden. Der Mensch scheint sich ungewöhnlich stark von einmal vorgenommenen
Klassifizierungen beeinflussen zu lassen. Wenn einer als geistig krank gilt,
dann werden alle seine Handlungen in diesem Zusammenhang gedeutet.
Dass diese Erwartungshaltung
auch im umgekehrten Fall funktioniert, hat Rosenhan in einem überaus eleganten
zweiten Experiment bewiesen: Die Verantwortlichen einer Klinik, die von seinem
Experiment erfahren hatte, behaupteten, bei ihnen wären diese Fehldiagnosen
nicht vorgekommen. Rosenhan schlug ihnen folgenden Test vor: Innerhalb der nächsten drei Monate würde er einen oder
mehrere Scheinpatienten schicken, damit die Leute ihr Können unter Beweis
stellen könnten.
Die Klinik nahm in diesen
drei Monaten 193 Patienten auf. 19 davon wurden
von einem Psychiater und einem weiteren Mitglied des Personals als mögliche Scheinpatienten
identifiziert. Bloss: Rosenhan hatte gar keinen Scheinpatienten geschickt.
Dr,Schwinger