2011 Sterbende Marie will eine Stunde länger leben

Stets kümmerte ich mich intensiv um Sterbende. Immer werde ich durch sie erinnert an meine bisherigen zehn Beihnahetod Situationen. Zuletzt war es die Katze Sascha, die seit Tagen sterbend unter der Heizung im Wohnzimmer liegt und traurig kommt, wenn man sie ruft. Am Essen und Trinken nippt sie nur schwach, verfällt.

Marie, eine 15 jährige, zarte, blasse, zerbrechliche Bauerntochter weit vor München kam 1974 auf meine Leukämiestation im Krankenhaus wegen eines Verdachtes. Ich untersuchte diese Fälle im Auftrag meines Chefs, des Fachmannes und Herausgeber des einzigen Lehrbuch Atlas, Prof. Begemann. Ich hatte herausgefunden, das die extreme Häufung von Leukämie bei Bauern durch Krebserzeugendes Dioxinhaltiges Xyladecor und Lindan bedingt war, mit dem das Holz der Bauernhöfe intensiv getränkt war. Später zeigte ich die Hersteller an und war Gutachter für das Gericht. Alles wurde verboten. Bei der Sternalpunktion zeigte das Knochenmark von Marie Zeichen eines fortgeschrittenen Verlaufs. Wir rechneten in etwa 4 Wochen mit ihrem Tod. Behutsam klärten sie Chef, Oberärzte und Schwestern auf.

Am Montag nach drei Wochen machte ich bei ihr das allwöchentliche Blutbild. Es war jedoch ganz fürchterlich. Die Blutgerinnung war maximal gestört. Der Tod tritt durch innere Blutungen ein. Ich sagte ihr bei der Visite, dass wir heute mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Sie fragte, ob sie nicht – wie jede Woche – eine Frischblut Transfusion von einem Soldaten bekommen könne. Ich meinte, das braucht zu lange. Sie sagte, wenn ich dadurch eine Stunde länger lebe, will ich sie.

Ich organisierte ihr eiligst die Transfusion. Nach drei Stunden lief ich mit dem Blut erregt zu ihr, alles hatte prima geklappt. Im Bett lag jedoch eine Tote.

So traurig wie damals war ich noch nie. Marie hatte mein Leben verändert.

Jeden Schwerkranken behandelte ich seither so, als ob er sofort sterben würde.

Jeden fragte ich beständig, wie wichtig ihm das (Über) Leben ist. Dabei musste ich erfahren, dass Gesunde ganz anders denken als Kranke, die meist verzweifelt an ihrem Leben hängen.

Ganz unverständlich ist mir, wie gleichgültig mit dem Leben von Tieren umgegangen wird. Jeder sollte einmal eine so zarte Marie erlebt haben, die verzweifelt an ihrem Leben hing!

Heute bin ich Marie sehr dankbar dafür, dass sie mir den Wert jedes Lebens eindrucksvoll demonstriert hatte.