Das zentral-anticholinergische Syndrom: Physostigmin

in der Intensivmedizin, Anästhesiologie, Psychiatrie

2. Symposium in Bonn

Herausgegeben von

Horst Stoeckel und Peter Lauven

24 Abbildungen, 22 Tabellen



1985


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Praktische Erfahrungen bei der Prophylaxe des AlkohoI-Entzugdelirs

                     M. Daunderer

Ich sollte und wollte ursprünglich etwas über den Hintergrund und die Biochemie der Verhinderung eines AlkohoI-Entzugdelirs berich­ten. Aber alle Pharmakologen und Toxikologen, die ich angeschrieben hatte, antworteten: "Eigentlich sollten Sie das wissen!" Da ich jedoch keine Theorie zur Verhinderung des Alkoholentzugdelirs anbieten kann, will ich Ihnen stattdessen meine praktischen Erfahrungen in der Verhinderung des Alkoholentzugdelirs mitteilen. Vielleicht kann man im Laufe der Zeit aus einer Vielzahl von Beobachtungen schließen, was sowohl im Gehirn als auch im ganzen Körper beim Entzugsdelir abläuft.

Welche Erfahrungen führten uns nun dazu, das Alkoholentzugsdelir mit Physostigmin zu therapieren?

Im Jahre 1972 wurde eine 35jährige, hübsche Engländerin bewußlos im Münchener Isarbett aufgefunden und in die Toxikologische Abteilung am Klinikum rechts der Isar gebracht. In ihrer Handtasche fand man die leeren Hülsen von 400 Tabletten Valium 10. Da ich mich damals schon längere Zeit mit Physostigmin (damals als Han­delspräparat Antilirium aus den USA) beschäftigt hatte, dachte ich, daß jetzt einmal die Gelegenheit vorläge, eine schwere Valiumvergiftung mit Physostigmin zu behandeln. Ich habe daher nach Magen­spülung usw. versucht, die Patientin intravenös mit einer Ampulle Physostigmin zu therapieren. Sie wissen, bei Physostigmin tritt die Wirkung nicht innerhalb von 5 Minuten ein, sondern die Hauptwirkung tritt in der Regel zwischen der 12. und der 15. Minute ein. Man kann natürlich in dieser Zeit Gefahr laufen, noch etliche Ampullen nachzuspritzen. Aber wir hatten nur eine Ampulle gespritzt. Nach 15 Minuten setzte sich die Patientin auf. Ich habe sie dann, wie man das so gerne suggestiv macht, gefragt, ob sie Valium geschluckt

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hat. Darauf antwortete sie mit Ja. Ich war natürlich glücklich und bin in die Klinikbesprechung gegangen, um über diesen recht ein­drucksvollen Fall einer Patientin mit Valium Vergiftung zu berichten, die nach der Injektion von einer Ampulle Physostigmin erwacht ist. Alle Assistenten, und Professoren waren sehr beeindruckt. Dann kam ich zurück und habe im Labor gefragt, wie hoch denn der Benzo-diazepin bzw. Valium-Spiegel sei. Ich bekam zur Antwort: Null. Auch im Magenspülwasser und im Urin war kein Benzodiazepin nach­weisbar. Stattdessen liessen sich drei Promille Alkohol nachweisen!

Daran schloß sich natürlich die Frage an, ob Physostigmin auch bei der akuten Alkoholintoxikationen wirkt. Bei der Nachprüfung an einem großen Krankengut ließ sich der Erfolg der Physostigmintherapie bestätigen. Darüber waren wir sehr froh, denn ein nicht opera­bler Alkoholiker im Entzugsdelir ist in der Chirurgie doch ein großes Hindernis, und man hat eigentlich lange Zeit überlegt, was man in einem solchen Fall machen könnte. Man kann natürlich mit Distraneurin (Clomethiazol) oral therapieren usw.  Sie kennen alle die Probleme. Unter den Kranken in der Toxikologischen Abteilung waren natürlich viele Alkoholiker, die nicht selten im Vollrausch einge­liefert wurden. Bei sehr hohen Alkohol-Konzentrationen war dann zu überlegen, ob und wielange man intubiert und ob man einen Plas­maexpander infundiert usw. . In der experimentellen Phase wurde dann Physostigmin appliziert. Dabei handelte es sich um solche Alko­holiker, die etwa alle 3 Monate ein Delir erleben und anschließend wieder sozial versorgt werden, in dem Sinne, daß 7.. B. die Fürsor­gerin eine neue Wohnung besorgt, sich um die Schulden kümmert und sie neu einkleidet. Diese Alkoholiker sind nach einer einmaligen Injektion von Physostigmin relativ wach. Wenn sie dann nach 2-3 Tagen fast entlassungsreif sind, werden diese Patienten delirant. Wie allgemein bekannt ist, bekommen nur 15 % aller chronisch Ab­hängigen nicht nur Alkoholiker, sondern auch Medikamenten-, Barbitu-rat- und Benzodiazepin-Abhängigen ein Entzugsdelir, wenn man ihnen die Droge vorenthält. Die anderen 85 % werden nur ein wenig unruhig und unangenehm für die Mitpatienten, ohne daß im eigentlichen Sinne ein Delir vorliegt. Nur bei den Patienten, die reproduzierbar


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ein Entzugsdelir entwickeln, läßt sich überprüfen, daß die einmalige Injektion von Physostigmin sinnvoll ist. Dabei sind wir so vorgegan­gen, daß wir Physostigmin ausschließlich zu dem Zeitpunkt applizierten, wenn die Patienten noch maximal intoxikiert waren, und nicht etwa zu einem Zeitpunkt, wenn z. B. der Alcotest in der Ausatemluft negativ war und man nur die Verdachtsdiagnose "Alkoholismus" stellen konnte.

Normalerweise wurde übrigens bei uns Physostigmin intramuskulär appliziert, da wir der Meinung sind, daß es gleichgültig ist, ob das Pharmakon seine maximale Wirkung nach 15 Minuten wie nach der intravenösen oder nach 20 Minuten wie nach der intramuskulären Applikation erreicht. Das gilt selbstverständlich nur unter der Voraus­setzung normaler Herz-Kreislaufverhältnisse, Bei schwerstem ZAS, im Schock oder bei einer Psychopharmaka-Vergiftung mit Herzrhyt-musstörungen sollte Physostigmin natürlich nicht intramuskulär, son­dern langsam intravenös injiziert werden. In den ersten Berichten hatte ich auch die Infusomat-Applikation empfohlen, aber bei schwer­sten Psychopharmaka-Intoxikationen übersieht man dann leicht den Zeitpunkt, an dem man mit der Physostigmin-Therapie aufhören sollte. Die Patienten können dann leicht eine Carbamat-Intoxikation erleiden, die nicht immer gut enden muß. Wenn ein Patient über Tage mit Physostigmin therapiert werden muß, sollte man es daher nur in Einzeldosen geben. Beim Alkoholiker reicht jedoch die einma­lige Injektion von Physostigmin.

Die Physostigmin-Jnjektion, auch die einmalige, führt jedoch zu einer ausgesprochenen Depression, die soweit gehen kann, daß die Patienten anfangen zu weinen. Um dieses Phänomen näher zu uniersuchen, habe ich einigen meiner Doktoranden eine Kapsel Physostigmin (0,5 mg/die) gegeben. Spätestens am 3. Tag berichteten die Versuchsper­sonen von einer gesteigerten und als sehr angenehm emfpundenen Merkfähigkeit, die jedoch nach \4 Tagen von einer unangenehmen Depression abgelöst wurde, die soweit ging, daß die Doktoranden das Staatsexamen abbrechen wollten. Auch ältere Patienten habe ich oral mit Physostigmin behandelt. Da diese aber unter dieser


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Behandlung Suicidgedanken äußerten, wurde die orale Physostigmin-Therapie eingestellt. Physostigmin beeinflußt zwar die Denkfunktionen sehr positiv, das steht jedoch in keinem Verhältnis zu den ausgelösten Depressionen. Ich empfehle daher, Physostigmin nicht für längere Zeit oral zu verabreichen, sondern nur in der Akutsituation einer Intoxikation.

Wird man im Not arztdienst zu einem bewußtlosen, eventuell schockierten Alkoholiker mit Atemdepression oder sogar Atemstillstand gerufen, ist vor jeder Antagonisierung mit Physostigmin selbstver­ständlich die korrekte Erst Versorgung im Sinne einer Vitaltherapie (Atemwege freimachen, Intubation, Plasmaexpander etc.) vorrangig. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß es bis zu 15 Minuten dauern kann, bis die Wirkung von Physostigmin eintritt. Diese Zeitspanne ist im Falle eines vital bedrohten Patienten viel zu groß. Allerdings kann man einen hochgradig Alkohol intoxikierten Patienten mit Stecknadelkopf-großen Pupillen, kalter und feuchter Haut auch mit Naloxon therapieren, da dann der Patient in der Regel innerhalb von 2 Minuten aufwacht.

Generell ist die Wirkung von Physostigmin bei der akuten Alkohol­intoxikation dann am besten, wenn ein anticholinergisches Syndrom mit zunächst erregtem Patienten mit weiten, eventuell anisokorischen Pupillen vorliegt. Wird einem solchen Patienten einmalig Physostigmin injiziert, läßt sich die akute Intoxikation beheben. Bei bekannter Anamnese eines chronischen Alkoholismus läßt sich gleichzeitig das Entzugsdelir beheben.


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Diskussion

CLARENBACH: Darf ich einmal nach der Diskrepanz in den Anga­ben zur Wirklatenz des Physostigmins fragen. Vorher hörten wir: bei liegender Kanüle 2 mg injizieren, ein bißchen warten, dann bei ausbleibendem Effekt weiter injizieren. Sie sagen, man muß 12-15 Minuten warten. Gibt es da einen Konsens über die Wirklatenz?

DAUNDERER: Wir kennen die amerikanischen Angaben. Wir hatten uns auch zunächst nach diesen Kriterien verhalten. Nun ist es natürlich so, daß bei vergifteten Patienten das Ausmaß des ZAS wesentlich höher ist, als wenn Sie einmal eine leichte Vergiftung haben mit einer Ampulle Haloperidol als Pramedika-tion und 0,5 mg Atropin und vielleicht noch 10 mg Valium. Da mag es durchaus sein, daß Sie rasch einen Effekt sehen. Ich habe diese Frage an mehr als 50 Patienten untersucht, denen wir Physostigminsalicylat injiziert haben. Dabei haben wir die Cholinesterase bestimmt. Nach 3 Minuten sinkt die Choiinestera-se-Aktivität auf 10 % des Ausgangswertes, Nach 10 Minuten haben Sie etwa 60 % des Ausgangswertes, spätestens nach 15 Minuten haben Sie den Ausgangswert wieder erreicht. Und wenn Sie ihn wieder erreicht haben, dann trat der klinische Effekt bei Vergiftungen ein. Ich glaube schon, daß das Ausmaß des ZAS in einer gewissen Relation zum Wirkungseintritt steht.

CLARENBACH: Das macht plausibel, daß im Aufwachraum der Anä­sthesisten das wirklich rascher geht, als bei Ihnen im 7'ox-Center.

DAUNDERER: Ich weiß, daß man in der Zeit, in der man auf die eigentliche Wirkung wartet, geneigt ist, die Dosis zu erhöhen. Aber ich würde nie einem Patienten mehr ais 4 mg geben. 5 mg ist knapp an der Grenze, an der man überleben kann. Physostigmin ist ein Carbamat und im Grunde genommen nichts anderes als E 605. Ich sah viele Patienten in der Klinik, die


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nach falschen Dosierungen starben. Ich hatte einmal eine Zeit lang die Ansicht; Wir haben hier einen bewußtlosen Patienten mit Atemdepression und anderen Komplikationen, spritzen wir ihm Physostigmin. Wenn er aufwacht, dann war es eine Psycho­pharmaka-Vergiftung. Oder, wenn er weiter schläft, dann mag das eine Schlafmittel-Vergiftung sein und eine forcierte Diurese, Hämodialyse usw. wäre indiziert. Das stimmt natürlich. Aber wenn es eine Schlafmittel-Vergiftung war, kommt es zu einer enormen Anregung der Darmmotilität mit einem konsekutiven enormen Resorptionsschub der aufgenommenen Gifte. Und die­ses ganz schnelle An fluten z. B. eines Barbiturates kann tödlich sein.

STOECKEL: Ich möchte darauf zurückkommen, was Herr Daunderer eben erwähnt hat und nochmal auf den Vortrag von Herrn Munzinger zu sprechen kommen. Haben die Patienten diese enorm hohen Dosen, in einem Fall 10 mg, nur überlebt, weil sie einen Kreislaufstillstand hatten? In Welcher Zeit haben Sie die 10 mg gegeben?

Wenn dies in mehreren Minuten erfolgt ist, ist die Gesamtdosis zustande gekommen, weil man nicht geduldig genug war, die Wirkung abzuwarten? Man ist dann leicht verleitet, zuviel und zu schnell hintereinander zu geben. Der andere Problemkreis, der angesprochen wurde, bezieht sich auf die geringere Latenz­zeit von Physostigmin nach Anästhesie. Wir haben in der Regel normale Dosen von Psychopharmaka gegeben. Das sind keine Intoxikationen, wie bei dem Krankengut von Herrn Daunderer, Die Kombination von 7-8 verschiedenen Medikamenten einschließ­lich der Prämedikation führt zu einem leichten Intoxikationsbild, So ist der frühere Wirkungeintritt einer kleinen Dosis von Physo­stigmin nach Anästhesie im Gegensatz zu den schweren Ver­giftungen zu erklären.

MUNZINGER: Ich habe damals, vor etwa 7-9 Jahren, noch so hohe Dosen gegeben. Heute bin ich zu der Erfahrung gelangt, daß


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als Bolus primär 2 mg eingesetzt und dann abgewartet werden sollte, ob sich ein Effekt einstellt. Wenn sich ein Effekt ein­stellt, dann gehe ich nach den klinischen Kriterien vor und verabreiche Physostigmin evtl. per infusionem entsprechend den klinischen Kriterien. Die notwendige Dosis liegt ungefähr bei den Werten, die auch heute genannt worden sind, also bei 0,04 mg/kg KG.

CLARENBACH: Wir hatten vorhin über die Zahlen gesprochen, die Zahlen der Therapieversager mit Physostigmin. Sie haben unge­wöhnlich häufig die Möglichkeit, Physostigmin einzusetzen. Darf ich Sie nach der Zahl Ihrer Therapieversager fragen?

DAUNDERER: Wir machen grundsätzlich den Gif t nach weis. Wenn Sie eine Kombinationsabhängigkeit aus Alkohol und Barbituraten vorliegen haben, dann ist Physostigmin wirkungslos. Man sollte hier, wie in allen Bereichen der Medizin, auf die Diagnostik nicht verzichten. Wenn Sie einen Barbiturat-Blutspiegel haben von 40 mg/1 oder 50 mg/1, dann haben Sie eine akute schwere Vergiftung, die Sie mit Physostigmin nicht antagonisieren können, also einen Therapieversager. Wir wissen, daß bei schwersten Vergiftungen mit zentral anticholinerg wirkenden Substanzen zunächst tachykarde Rhythmusstörungen auftreten. Bei lang­andauernder Schwere des Vergiftungsbildes geht die Tachykardie über in bradykarde Herzrhythmusstörungen. Jede A tropin-Vergif­tung stirbt über die Bradykardie im Herzstillstand. Wenn Sie einen bradykarden Patienten haben, sind Sie irritiert, weil plötzlich ein Leitsymptom des ZAS, die Tachykardie, fehlt und stattdessen bradykarde Herzrhythmusstörungen gefunden werden. Hier sollte unbedingt vor der Injektion von Physostigmin ein Giftnachweis erfolgen. Zum Glück haben wir mit einer Palette von Schnelltesten, die wirklich außerordentlich einfach sind, das nötige Rüstzeug. Denn Physostigmin ist ein ungeheuer poten­tes Antidot, aber es ist an sich auch relativ gefährlich. Das sollte man nicht vergessen. Während ich in den letzten Jahren


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etwa 1000 Alkoholiker in der ambulanten Praxis mit einer Am­pulle Physostigmin versorgt und dann nach Hause geschickt habe, empfehlen manche andere Kliniker, so etwas sollte nur unter klinischen Bedingungen durchgeführt werden. Der richtige Weg liegt sicher in der Mitte, aber entsprechende Vorsichtsmaß­nahmen machen es möglich, daß Physostigmin zu einem all­seits anwendbaren Antidot wird.

CLARENBACH: Ja, aber diese ungeheuere Potenz steht eben zur Diskussion. Sie schließen die Barbiturat-Intoxikation aus. Sie haben bei 1000 Alkoholikern 1000 Physostigmin-Erfolge?

DAUNDERER: Ich habe keinen einzigen Fehl Fall gehabt. Wenn ich aber höre, das ist eine Polytoxikomanie, antagonisiere ich nicht mit Physostigmin. Ich kläre das mit dem Patienten in einer Vorbesprechung und nehme ihm Urin ab, der bei uns relativ schnell untersucht wird. Und wenn es eine Polytoxikomanie ist, 2. B. Benzodiazepine, die unter den Wirkungsmechanismus von Physostigmin fallen, zusammen mit Barbituraten oder sonsti­gen Schlafmitteln, halte ich den ambulanten Entzug für nicht gerechtfertigt. Denn Entzugserscheinungen im Sinne eines Delirs oder alternativ eines epileptischen Anfalls, setzen erst 10 Tage nach Absetzen des Barbiturates ein. Wenn da der Patient ambu­lant versorgt wird, dann in die Trambahn einsteigen will, umfällt und vom Auto überfahren wird, bin ich schuld. Für die Klinik hat das also schon die Bedeutung. Man sollte den chronisch Barbiturat-Abhängigen nicht mit Physostigmin versorgen, denn damit der seinen "Spiegel" hat, muß er in der Regel zwischen 5-40 Tabletten eines Schlafmittels einnehmen. Wenn er in der Klinik ist, hat er vielleicht gerade 20 Tabletten geschluckt, was Sie ihm aus dem Verhalten gar nicht ansehen können. Wenn Sie ihm Physostigmin spritzen, ist das riskant. Man sollte also hier nicht im Sinne der folgenden Routineindikation vorgehen: Es können Alkoholiker sein, jetzt spritzen wir ihm einmal Physo­stigmin. Wenn er k. e: i n Delir bekommen hat, dann war es ein Alkoholiker   und   wenn   er   ein   Delir   bekommt,   dann   war   es   viel leicht ein Barbiturat-Alkohol-Abhängiger.