MS Mittel beinahe
tödlich
Nach einem Medikamententest in einem britischen Krankenhaus
befinden sich immer noch zwei Männer in Lebensgefahr. Die beiden Männer seien
weiterhin in «kritischem Zustand», teilte ein Kliniksprecher am Donnerstag mit.
Wegen schwerer Nebenwirkungen liegen auch vier andere Patienten noch auf der
Intensivstation der Northwick-Park-Klinik in London.
Sie sind jedoch außer Lebensgefahr.
Die Männer hatten am Montag eine Testsubstanz aus
Deutschland bekommen, die bislang noch nie an Menschen erprobt worden war. Nach
Informationen des britischen Senders BBC versagten bei ihnen daraufhin mehrere
Organe.
Inzwischen
verstärkte sich der Verdacht, dass das Medikament selbst problematisch ist. Das
verabreichte TGN 1412 ist kein pharmazeutisches, sondern ein biologisches Produkt,
ein genetisch verändertes, auf den Menschen zugeschnittenes Protein. Derartige
Mittel sind darauf ausgelegt, dass der menschliche Körper sie akzeptiert. Das
macht es nach Meinung von Experten schwierig, im Tierversuch abzuschätzen,
welche Dosis für den Menschen gefährlich ist, berichtet der «Guardian».
Gleichzeitig verabreicht
Nach
Informationen der Tageszeitung «The Times» bekamen
die Teilnehmer des Tests das Mittel gleichzeitig verabreicht, was gegen die Vorschriften
sei. Die Freundin eines Patienten berichtete, der 28-Jährige sei völlig
aufgedunsen und sehe aus «wie der Elefantenmensch». «Er ist völlig leblos. Er
kann nicht einmal die Augenlider bewegen.» Nach ihren Angaben sollten die
Männer für die Teilnahme an dem Experiment 2000 Pfund (rund 2900 Euro)
bekommen.
Das Pharma-Unternehmen Te Genero
aus Würzburg, das das Mittel entwickelt hat, entschuldigte sich bei den
Angehörigen. Das Mittel mit der
Bezeichnung TGN 1412 sollte gegen
Multiple Sklerose, rheumatische Arthritis und Blutkrebs eingesetzt werden.
Bei den Männern im Alter zwischen 18 und 40 Jahren löste es jedoch eine schwere allergische Reaktion aus. Auf
seiner Website teilte das Unternehmen mit, dass vorerst keine weiteren Tests
von TGN 1412 an Menschen vorgesehen seien.
Hitze und Druck im Kopf
Ein
Augenzeuge des Versuchs, Raste Khan, berichtete, die Männer seien einer nach
dem anderen «wie Dominosteine umgekippt». «Zuerst haben sie ihre Hemden
ausgezogen, weil sie über Fieber klagten», sagte der 23-Jährige der
Boulevardzeitung «Sun». «Dann haben sie geschrieen, dass ihre Köpfe gleich
explodieren würden.» Khan war ebenfalls an dem Test beteiligt. Er bekam jedoch
nur ein Placebo-Mittel ohne Wirkung.
Einige Angehörige haben mittlerweile eine Anwältin
eingeschaltet, die eine Klage gegen das Unternehmen prüfen soll. Bislang sei
über das weitere Vorgehen aber noch nicht entschieden, sagte die Rechtsanwältin
Ann Alexander. «Die Ärzte behandeln die Symptome. Aber weil sie nicht wissen,
was schief gegangen ist, ist alles sehr schwierig.» Neben der britischen
Medikamenten-Aufsichtsbehörde MHRA ist inzwischen auch Scotland
Yard mit den Ermittlungen befasst.
Auch wenn die MHRA bislang nicht ausgeschlossen habe: Eine
Manipulation der Medikamente sei unwahrscheinlich, berichtet der «Guardian». Parexel, das Unternehmen, das die Tests im Auftrag von Te Genero durchgeführt hat, schloss aus, dass es bei der
Dosierung und Verabreichung der Medikamente durch Parexel-
Mitarbeiter zu einem Fehler gekommen sei.
Der «Guardian» zitiert die Familie eines der Opfer, wonach
ihnen widersprüchliche Informationen gegeben worden seien. Demnach habe man
ihnen im ersten Treffen gesagt, dass das Medikament an Affen und Hunden
getestet worden sei; dabei sei einer der Hunde gestorben. In einem zweiten
Gespräch sei dann von Tests an Affen und Kaninchen die Rede gewesen.
Der
getestete Wirkstoff, der in das Immunsystem eingreift, wird nach Angaben von
Experten noch längere Zeit im Blut der Versuchspersonen bleiben. Deshalb seien die
gesundheitlichen Folgen für die sechs Kranken noch nicht absehbar.
Normalerweise dauere es bei Wirkstoffen vergleichbarer Art 14 bis 21 Tage, bis
etwa die Hälfte der Substanz vom Körper abgebaut sei. Das sagte David Glover, der frühere medizinische Direktor der Cambridge
Antikörper- Technologie-Abteilung der Zeitung „The
Times“. Manchmal sei ein solcher Stoff sogar noch neun Monate nach der
Verabreichung im Blut nachweisbar.
Die
Risiken des in London getesteten Medikaments waren nach Informationen der „Rheinischen
Post“ unter Experten nicht ganz unbekannt. Schon im Jahr 2002 habe eine
wissenschaftliche Studie gewarnt, dass bei Eingriffen in das Immunsystem, wie
sie das Test- Medikament bewirkt, auch das körpereigene Gewebe angegriffen
werden könne, berichtete die Zeitung am Samstag.
Das
Mittel TGN 1412 war von dem US-Forschungsunternehmen Parexel
International erstmals an Menschen getestet worden. Er habe den reinen Horror
gesehen, sagte ein Testteilnehmer, der statt des Medikaments ein wirkungsloses
Placebo erhalten hatte, dem Sender Sky News. Die
Probanden neben ihm seien innerhalb von Minuten nach Einnahme der Arznei
zusammengebrochen. Sie hätten sich vor Schmerzen gekrümmt, sich immer wieder
übergeben und unter Kopfschmerzen geschrien.
"Der eine rief, 'Mein Kopf tut weh, mein Rücken tut weh, Ich brauche
Hilfe, ich kann nicht atmen.' Er schrie einfach", berichtete Raste Khan.
"Es war wie russisches Roulette. Zwei von uns hatten Glück und kamen
davon." Der Zeitung "The Sun" zufolge
schwollen Kopf und Hals eines 21-jährigen Probanden auf das dreifache der
normalen Größe an. Die Freundin eines anderen Probanden hatte der BBC erklärt,
alle inneren Organe des Mannes hätten versagt. Mit dem deutlich angeschwollenen
Kopf sehe ihr Freund aus wie der Elefantenmann, eine Figur aus einer Monströsitätenschau des viktorianischen Großbritanniens,
bei der der Schädel breiter als die Taille war. Ein Professor der Imperial
College School of Medicine am Hammersmith
Hospital bezeichnete die Situation als sehr ungewöhnlich. Es sei sehr schwierig
nachzuvollziehen, was mit den sechs Probanden passiert sei.
Außerhalb der Klinik hat bislang keiner die
Männer gesehen. Aber die Angehörigen berichten von Gestalten, wie man sie sonst
nur aus Horrorfilmen kennt.
Die Gesichtsfarbe
zwischen lila und gelb, der Nacken völlig aufgedunsen, die Köpfe bis auf die
dreifache Größe geschwollen.
„Mein Freund sieht aus wie der
Elefantenmensch“, berichtete die BBC-Angestellte Myfanwy
Marshall schockiert. Die Ärzte haben sie gewarnt, dass der 28Jährige jederzeit
sterben kann.
Die Engländerin Jo Brown erkannte ihren
21jährigen Schwager Ryan Wilson auf der Intensivstation zunächst gar nicht
wieder. „Er sah überhaupt nicht aus wie der Ryan, den wir kennen und lieben.“
Die deformierte Nase sei wie nach einem
Unfall übers gesamte Gesicht verteilt. Der Klempnerlehrling gehört zu den
beiden Männern, die ums Überleben ringen. Den vier anderen geht es inzwischen
besser. Die Ärzte beschreiben ihren Zustand aber immer noch als „ernst“.
Was genau passiert
ist, kann im Moment noch niemand sagen.
Fest steht, dass die katastrophalen
Nebenwirkungen innerhalb weniger Stunden einsetzten. Der 23jährige Raste Khan –
einer der beiden Placebo-Patienten – berichtete, dass die anderen „wie
Dominosteine umgekippt“ seien.
„Zuerst haben sie
ihre Hemden ausgezogen, weil sie über Fieber klagten. Dann haben einige geschrien, dass ihre Köpfe gleich explodieren würden.“
Wurden bei der Herstellung des Teststoffs
Fehler gemacht? War das Medikament möglicherweise verunreinigt? Oder haben sich
die Tester von der US-Firma Parexel bei der Dosierung
des Mittels geirrt?
Schon vor dem dramatischen
Ausgang eines Medikamententests einer deutschen Firma in London hat es bei
Tierversuchen Auffälligkeiten gegeben. Das Würzburger Pharmaunternehmen TeGenero bestätigte, dass bei zwei von 20 Versuchsaffen
eine deutliche Schwellung der Lymphknoten festgestellt worden war.
Die
Erprobung neuer Arzneien am Menschen ist unumgänglich auf dem Weg zur Zulassung.
Zuerst wird die Erfindung im Labor an Zellen getestet, dann an Tieren.
"Danach beginnen Studien an Menschen", erklärt Malika
Malti, Forscherin an einem der großen Labors in
Großbritannien: In der ersten Phase erhalten einige wenige Freiwillige eine
winzige Dosis des neuen Mittels. "Es geht darum zu sehen, wie es sich im
Organismus ausbreitet und ob es Nebenwirkungen gibt", sagt Malti. Nur zum Teil sind die Probanden während der Tests in
einem Spital.
Wenn bei diesem ersten Test alles glatt geht, kommen als Nächstes einige Kranke
zum Zuge. Wenn bei ihnen die erhofften Besserungen auftreten, beginnt ein
Großversuch mit Tausenden Patienten: Die eine Hälfte bekommt das neue
Medikament, die andere Placebos (= Scheinmedikamente).
Versuche der Phase eins, wie der tragische in London, gibt es weltweit
Tausende.