Hyperventilationssyndrom

Eine erlernte Form, den Streß falsch zu verarbeiten

 

Schon viele Leser des Diabetes-Journals haben sicherlich an sich selbst Beschwerden erlebt, wie sie in diesem Beitrag unter dem Begriff Hyperventilationssyndrom beschrieben werden. So beängstigend für den einzelnen auch sein mögen, sind sie letztlich doch ungefährlich; sie können in der Regel vom Patienten selbst zum Verschwinden gebracht werden. Der Münchner Kliniker Dr.M.Daunderer, der sich seit längerem mit diesen Problemen beschäftzigt, schildert die für den Patienten wichtigen Einzelheiten laienverständlich.

 

Der moderne Mensch ist mannigfaltigen Stressfaktoren ausgesetzt, auf die es ein buntes Muster von Reaktionsarten gibt. Eine dieser Reaktionsarten ist das Hyperventilationssyndrom, das in letzter Zeit sehr häufig beobachtet wird. Wenn diese Störung auch immer ohne organische Schäden einhergeht, so löst sie doch starke Angst aus; sie ist zwar unangenehm, jedoch in keiner Weise gefährlich.

 

Angstgefühl durch verstärktes Atmen

In jeder nervlichen Belastungssituation wie Überarbeitung, Streit, Leistungssport oder nächtlichen Angstträumen schaltet sich in unserem Körper das „Aktivitätszentrum“, der Sympatikus, ein und veranlasst, dass das Herz schneller schlägt, Blutdruck, Atemfrequenz und Atemtiefe ansteigen (Hyperventilation), die Muskeldurchblutung vermehrt und die Nervenerregbarkeit gesteigert wird. Dies ist ein ganz normaler Vorgang. Viele meinen nun aber, fest atmen würde beruhigen, das Angstgefühl auf der Brust würde sich dadurch lösen.

In einer nervlichen Übererregungssituation regt jedoch eine Hyperventilation den Sympatikus noch mehr an, das Herz schlägt fühlbar schneller, die bestehende Angst wird dadurch noch verstärkt. Dies führt zu einer stärkeren Hyperventilation und somit ist ein Teufelskreis geschlossen. Bei Angst verkrampfen sich auch die Hirngefäße, es gelangt weniger Blut dorthin und dies führt zu Schwindel, Sehstörungen, Angst, Reizbarkeit und Konzentrationsschwäche; diese Symptome verstärken das Gefühl der Atemnot und der Patient atmet noch intensiver. Es treten auch starke Krämpfe in der Skelettmuskulatur auf, denn zum Ausgleich des durch den Kohlensäuremangel zu alkalischen Blutes verbinden sich Kalziumionen vorübergehend mit dem Bluteiweiß; das Fehlen von Kalzium erregt die Nerven und führt somit zu einer Muskelverkrampfung. Wer weiß, wie unangenehm ein Wadenkrampf ist, der kann sich vorstellen, wie beunruhigend für einen ängstlichen Patienten ein solcher Krampf in der Brustwand- oder Bauchmuskulatur sein muss. Ein Krampf der Rippenmuskulatur links wird vom Patienten daher als vom Herz ausgehend, rechts von der Lunge ausgehend, ein Krampf der Bauchmuskulatur rechts als von Leber und Galle ausgehend, links als vom Magen kommend, ein Krampf der Rückenmuskulatur als von den Nieren ausgehend gedeutet.

 

Krampfartige Zustände

Nach langer Hyperventilation kommt es zu einem Krampf der Finger („Pfötchenstellung“), der Füße („Spitzfußstellung“) und der Lippen („Karpfenmaul“) sowie einem Zittern von Armen und Beinen (Hyperventilationstetanie). Ein leicht verstärktes Atmen bewirkt, dass der Patient ununterbrochen unter einigen Symptomen, wie Ameisenlaufen, Schwindel, Druck auf den Ohren o.ä. leidet. Die Zeit der verstärkten Atmung kann einige Stunden dem eigentlichen Anfall vorausgehen, so dass sich die nicht aufgeklärten Patienten selten über den Auslösemechanismus im klaren sind.

Im folgenden sind die sicheren und die eventuellen Zeichen des Hyperventilationssyndroms aufgeführt; das Kribbeln in den Armen und das Schwächegefühl in den Beinen sind die charakteristischen Frühsymptome:

 

A. Sichere Zeichen des Hyperventilationssyndroms:

1.      Kribbeln (Ameisenlaufen) in den Armen (Beinen)

2.   Schwäche in den Beinen

3.   Atemnot

4.   Angst

5.      Krampfartige Muskelschmerzen im Bereich der Brustwand, im Bauch, im Rücken oder in den

      Extremitäten („Herz“, „Magen“, „Galle“, „Nieren“ usw.)

 

B. Eventuelle Zeichen des Hyperventilationssyndroms:

1.   Zittern

2.   Kalte Arme und Beine

3.   Herzjagen

4.   Heiße und kalte Schauer

5.   Sehstörungen (Schwarzwerden und Flimmern vor den Augen)

6.   Übelkeit, Brechreiz

7.   Kloßgefühl im Hals

8.   Druckgefühl auf den Ohren

9.   Kopfschmerzen

10. Abgeschlagenheit, Konzentrationsmangel, Denkstörungen, Schlafstörungen

 

Falls die unter A genannten Zeichen bei einem Anfall beobachtet werden, handelt es sich um ein Hyperventilationssyndrom. Durch folgende einfache Maßnahmen kann man die Vielzahl von unangenehmen körperlichen Erscheinungen ohne fremde Hilfe schlagartig wieder zum Verschwinden bringen:

 

In eine Plastiktüte atmen

Man hält die eigene geschlossene Hand dicht vor Nase und Mund, so dass beim Ausatmen keine Luft entweichen kann und atmet somit nur die Luft ein, die man gerade ausgeatmet hat, um keinen Sauerstoff zu sich zu nehmen. Noch besser ist es, wenn man eine kleine Plastiktüte dicht vor Nase und Mund hält. Dabei sollte man sich zwingen, möglichst wenig und oberflächlich zu atmen. Schon nach wenigen Sekunden verspürt man dann eine Besserung und nach einigen Minuten Atmen mit obiger Technik sind meist alle Beschwerden vollständig verschwunden. Bei sehr aufgeregten Patienten ist es beim ersten Mal praktisch, wenn ein Angehöriger bei dieser Therapie mithilft. Falls jedoch trotz Atmens in die Plastiktüte nach einigen Minuten noch keine Besserung eingetreten ist, muss man die Hilfe eine Arztes anfordern, da dann eventuell zusätzlich eine organische Erkrankung vorliegen kann, die zuerst behoben werden muss.

Wie eingangs betont, handelt es sich beim Hyperventilationssyndrom um eine Art der Erregungsverarbeitung, zu der jeder normale Mensch in einer starken psychischen Belastungssituation kommen kann. Die meisten Menschen reagieren nur selten in ihrem Leben auf diese Art. Falls die Ursache noch fortbesteht oder bei nervlich gering Belastungsfähigen tritt jedoch ein durch den ersten, meist sehr eindrucksvollen Anfall ein Lernmechanismus ein und die Anfälle wiederholen sich laufend. Daher ist es wichtig, dass gerade die ersten Anfälle richtig angegangen werden. Bekommt der Patient hierbei z.B. eine Beruhigungsspritze in die Vene, die auch sofort wirkt, dann meint er das nächste Mal, ohne die sofortige Spritze müsse er sterben und die zusätzliche Angst verschlimmert diesen Anfall erheblich. Hat er jedoch schon früh gelernt, die Beschwerden mit den beschriebenen einfachen Mitteln schnell zum Verschwinden zu bringen, dann stärkt dies sein Selbstvertrauen und er gelangt nicht in das verhängnisvolle Gefühl der Abhängigkeit. Auch eine ausschließliche Behandlung mit Psychopharmaka hilft nicht, birgt jedoch die große Gefahr der Medikamentenabhängigkeit (z.B. Valium).

Eine Kalziumspritze beruhigt nun zwar, fördert jedoch einerseits auch die Abhängigkeit von Medikamenten und birgt andererseits bei Wiederholung die Gefahr, dass durch Blockierung der Nebenschilddrüse der Kalziumspiegel im Blut gesenkt wird, was schwere Krämpfe verursachen kann. Daher darf auch kein Kalzium geschluckt werden. Lediglich der Kalzium-Gehalt des Äthanol-amino-phosphorsäureesters in der Zusammensetzung von Phosetamin ® (Dr. F. Köhler Chemie, 6146 Alsbach) beruhigt die Nerven ohne Gefahr einer Abhängigkeitsentstehung.

Da während eines Anfalls Blutdruck und Puls als Folge der Angst sehr hoch sind, sinken sie in der Erholungsphase stark ab. In Verbindung mit den dann noch meist vorhandenen leichten Tetaniesymptomen, wie Kribbeln in den Armen und Beinen, Schwindel und Sehstörungen, denken viele Patienten, das ganze sei auf einen zu niedrigen Blutdruck zurückzuführen, deshalb nehmen sie Kreislauf- oder Herzmittel. Diese wirken jedoch auch anregend auf das Gehirn, die Atmung wird verstärkt und ein neuer Anfall wird eingeleitet.

 

Richtlinien zur Vorbeugung

Zur Vermeidung neuer Anfälle sollte man folgendes beachten:

1.      Achten Sie auf Ihre Atemfrequenz in Stresssituationen, damit Sie den Beginn der verstärkten

Atmung bemerken. Wenn Sie sich dann entspannen und langsam und oberflächlich atmen, kann es nicht zu einem Krampf kommen.

2.      Erforschen Sie die Ursachen Ihres übemässigen Stresses in Beruf oder Familie und versuchen Sie,

      ihn zu vermeiden.

3.      Bewegen Sie sich täglich mindestens eine halbe Stunde in der frischen Luft.

4.      Erlernen Sie eine Entspannungsmethode, z.B. das Autogene Training; das ist auf die Dauer die

      sicherste und einfachste Methode, um vor nervlichen Fehlsteuerungen bewahrt zu werden

 

Quelle: Diabetes-Journal 5/1975

 

(Diese eigene Info war 1971 die Grundlage eines gemeinsamen Forschungsprojektes von mir mit dem Lehrstuhlinhaber für

Klinische Psychologie, Prof.Butollo und mehreren Doktoranten

Diese Schrift wurde jahrelang bei allen diesbezüglichen Notarzteinsätzen und im Ärztlichen Notdienst verteilt

und war bei allen Ärzten sehr beliebt, da sie die Rückfallquote schlagartig fast aufhob.

Auf Wunsch von Herrn Prof.Mehnert erschien sie in seinem „Diabetes Journal

S.auch Notarzteinsatz Olympiade Eröffnung

Als Ursache der Hyperventilation wurde später Zahnquecksilber diagnostiziert, seine Entfernung machte dieses Symptom zur Seltenheit!)

Dr.Daunderer

(Zusatz zur Biografie)