Giftige Dämpfe im Wohnzimmer: Ein Flammschutzmittel unter Verdacht

 


Das Flammschutzmittel TCEP ist unter Verdacht geraten, Krebs und Nervenkrankheiten zu verursachen. Die Tatsachen sind bekannt, aber das Mittel bleibt auf dem Markt.

Die Abkürzung TCEP, sie ist für uns Laien nichtssagend. Hinter dieser Abkürzung aber verbirgt sich eine Chemikalie, die für uns alle bedeutsam ist, weil sie, hochgiftig, die Nerven schädigen und Krebs erregen kann. Kann. Als Flammschutzmittel und Weichmacher ist TCEP in Schaumstoffen, Tapeten, Teppichen, Holzlasuren, in Computern und Autoarmaturen zugesetzt. TCEP, ein Begleiter durch unseren Alltag.
Kontraste-Autor Stefan Maier spürte dem Gift nach.


Lynn Malke ist fast gesund. Man sieht ihr nicht an, daß ihr die Ärzte noch vor gut zwei Jahren keine Überlebenschance gaben. Lynn war damals vollständig gelähmt. Sie konnte nicht einmal mehr richtig atmen.

Britta Malke, Lynns Mutter
"Das war Pfingsten 95. Da gings ihr dann wirklich ganz dreckig und sie bekam wieder Fieber, und wir dachten, wieder 'ne Lungenentzündung, und wir sind dann ins Krankenhaus gefahren. Dann ging alles ziemlich schnell, sie ist auf die Intensivstation gekommen und man hat sie beatmet. Und wir haben erst vermutet, daß es sich um einen Schleimpfropfen handelt, so kann man das benennen. Aber am nächsten Morgen hat sich dann herausgestellt, daß es eben doch so war, daß die ganze Lunge verschleimt war, die Lunge also überhaupt nicht mehr belüftet wurde und Lynn gar keine Chance hatte, so weiter auszukommen."

Henning Kehrberg, Kinderklinik Stade
"Da war sie schwerst krank, wo dann intensivmedizinisch das Kind behandelt werden mußte. D.h. also mit nem Plastikschlauch die Luftröhre absaugen, und da man das nicht lange Zeit lassen konnte, einen Luftröhrenschnitt, eine Kanüle, und damit ist sie dann wohl, wenn ich mich richtig erinnere ein halbes Jahr, nicht ganz ein halbes Jahr verblieben."

Vier Wochen lang mußte sie sogar maschinell beatmet werden. Ursache für Lynns Erkrankung war offenbar eine Schädigung der Nerven, fortschreitend, unheilbar, keine Überlebenschance, so die Diagnose. Dennoch ging es Lynn langsam besser, eine Vergiftung also? Eine Umweltchemikerin überprüfte die Wohnung auf Umweltgifte.

Dr. Gisela Ingerowski, Umweltchemikerin
"Dieser Stoff ist ja ganz neu gewesen, den haben wir ja anhand dieses Falles entdeckt, in Anführungsstrichen. Wir haben natürlich zunächst an die üblichen Holzschutzmittel gedacht und eine Analyse auf diese Holzschutzmittel zunächst gemacht. Aber dann hatten wir also ein negatives Ergebnis. Es waren diese üblichen Holzschutzmittel in dieser Probe nicht enthalten."

Weil Lynns Zimmer mit Holz ausgekleidet war, unternahm die Chemikerin einen zweiten Anlauf. Anders als im Bad war das Holz in Lynns Zimmer mit einer Lasur behandelt. Inzwischen ist es saniert, denn die zweite, genauere Untersuchung ergab, daß aus dem Holz TCEP-Dämpfe ausgetreten waren. TCEP - ein Flammschutzmittel.
Unabhängig von diesem Fall wurde TCEP auch in einem zweiten Labor untersucht. Das Flammschutzmittel war dort schon seit Jahren bekannt.

Albrecht Friedle, Chemiker
"Bis wir dann feststellen konnten, daß ein möglicher Zusammenhang zu gesundheitlichen Beschwerdebildern vorhanden ist, hat es allerding nochmals einige Zeit gedauert. Und klar ist uns das erst geworden, seit wir doch einige sehr offensichtliche Fälle in dieser Richtung hatten."

TCEP, Tris(2-chloräthyl)phosphat ist chemisch verwandt mit dem hochgiftigen E 605. Einige der Moleküle aus der Stoffgruppe dieser sogenannten Organophosphate wirken auch beim Menschen neurotoxisch, als Nervengift, und erzeugen Symptome wie bei Lynn.
Um TCEP auf die Spur zu kommen, bedarf es aufwendiger Analytik. Nur in der Kombination von Gaschromatographie und Massenspektrometrie läßt sich das Molekül eindeutig identifizieren. Und weil 60.000 Tonnen im Jahr produziert werden und TCEP biologisch nicht abbaubar ist, findet man es in winzigen Mengen in der Umwelt - etwa in Wasser und Luft - und in Innenräumen. In 87 Prozent von bisher 1.000 untersuchten Wohnungen. Meist im Hausstaub. Doch wie es dort hingelangt, das ist oft nicht zu erkennen.

Dr. Gisela Ingerowski, Umweltchemikerin
"Dann geht die Suche nach der Quelle los, und wir können diese Quelle nicht herausfinden, hab ich mehrere Haushalte hier bei uns in der Umgebung, wo ich einfach nicht sagen kann, wo diese Substanzen nun explizit vorliegen, und diese Leute sind belastet."

TCEP taucht in vielen Produkten auf. In Matratzen, Klebern Lacken, Dämmstoffschäumen, Sofastoffen oder Teppichrücken. Nicht nur in diesen Proben findet sich die Chemikalie. Doch meist erfährt man erst durch die Analyse, daß ein Stoff TCEP-Dämpfe abgibt und deshalb möglicherweise gefährlich ist.

Albrecht Friedle, Chemiker
"Ich hatte schon einzelne Fälle, wo Lähmungserscheinungen aufgetreten sind, die nach Entfernen der Primärquelle sich gebessert haben."

Im Tierversuch ist längst nachgewiesen, daß TCEP giftig ist. Studien des nationalen Gesundheitsinstituts in den USA ergaben bei Ratten Schädigungen an Nerven und Gehirn, Nierentumore traten auf. Ergebnis auch anderer Tierversuche: TCEP ist krebserregend. Aber:

Dr. Gisela Ingerowski, Umweltchemikerin
"Wir haben nur Werte über die akute Toxizität, was aber hier doch zum Tragen kommt, ist die chronisch inhalative Toxizität und darüber sind keine Werte publiziert."

Das heißt, es wurde nie geprüft, ob das Einatmen von TCEP auf längere Dauer, die chronische Inhalation, giftiger wirkt als die Aufnahme über den Magen oder die Haut. Doch gerade ums Einatmen geht es bei der flüchtigen Chemikalie. Dennoch, die Toxikologen schließen aus den Tierversuchen und den Erfahrungen mit der Giftigkeit ähnlicher Organophosphate auf ein neurotoxisches Risiko für den Menschen.

Dr. Helmut Sagunski, Umweltmediziner und Toxikologe
"Wir wissen, daß das TCEP grundsätzlich nervenschädigend sein kann, das wissen wir aus Tierexperimenten. Wir kennen aber nicht genau die Wirkungsweise, so daß wir noch nicht sicher sagen können, ob diese Wirkungsweise auch beim Menschen in der Form auftritt durch das TCEP."

Dr. Henning Kehrberg, Kinderklinik Stade
"Es muß ein neurotoxisches Geschehen sein, denn sonst wäre ja nicht diese Lähmung aufgetreten. Das ist ja kein Geschehen am Muskel mit einer Muskellähmung und der Nerv ist in Ordnung. Das haben wir ja gemessen, das konnten wir eindeutig aus den Untersuchungen machen, Nervenleitgeschwindigkeit. Eindeutig zeigt das, daß es kein Muskelgeschehen ist, auch in der Blutchemie. Das könnte man da nachweisen."

Krebserregend, neurotoxisches Risiko durch TCEP, die Behörden müßten eigentlich alarmiert sein. Doch beim Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin, kurz BgVV, verweist man darauf, daß TCEP zur Zeit nicht als krebserzeugend eingestuft ist. Abschließende Untersuchungen fehlen aber noch. Anders als etwa bei Arzneimitteln gibt es für Chemikalien wie TCEP auch keine Genehmigungspflicht.

Irene Lukassowitz, BgVV
"Es gibt keine Zulassungsbeschränkungen für Innenraumstoffe. Innenraumstoffe kommen ja aus bestimmten Produkten, und für diese Produkte gibt es keine Zulassung, also zum Beispiel Textilien, Tapeten, Möbelstoffe. Der Hersteller ist hier alleine für die gesundheitliche Unbedenklichkeit verantwortlich."

Die Verantwortung wird weitergeschoben.
Die Hersteller wissen natürlich vom Krebsverdacht. Hoechst etwa hat die TCEP-Produktion erst ausgelagert zur Beteiligungsfirma Clariant. Vor zwei Monaten wurde sie ganz eingestellt. Man habe inzwischen, so heißt ein weniger gefährliches Nachfolgeprodukt. Freilich, noch immer verlangen viele Kunden TCEP.

Zitat:
"Daher sind wir gezwungen, im Bedarfsfall die Produkte des Standes der Technik zu liefern, um ein kompetenter Gesprächspartner zu bleiben."

Also wird weiter TCEP geliefert. Auch die Firma Akzo Nobel hat TCEP in ihrem Lieferprogramm. Auf Nachfrage heißt es zwar in der niederländischen Konzernzentrale, der Stoff werde nur in den USA, nicht in Deutschland produziert. Doch über den internationalen Vertrieb der Firma ist TCEP auch in Deutschland problemlos zu beziehen.

Während die Hersteller von TCEP den Stoff immerhin als "mindergiftig" deklarieren müssen, gibt es für weiterverarbeitende Betriebe überhaupt keine Kennzeichnungspflicht. Selbst "schwer entflammbar" wie bei der Lasur, mit der Lynns Zimmer gestrichen war, steht selten auf einer Verpackung.

Irene Lukassowitz, BgVV
"Eine Kennzeichnungspflicht halten wir grundsätzlich für erforderlich, wenn Flammschutzmittel eingesetzt worden sind in verbrauchernahen Produkten. Das ist also wirklich die absolute Minimumforderung, die für alle Flammschutzmittel gelten sollte. Für TCEP fordern wir ein Verbot für verbrauchernahe Produkte."

Durchsetzen allerdings kann das BgVV diese Forderung nicht. Bis eine Neubewertung des Stoffes vorliegt, und die Eingabe via Umweltministerium bei der EU-Kommission landet, werden Jahre vergehen. Solange bleibt TCEP auf dem Markt.

Lynn hatte Glück, daß ihr Fall erkannt wurde. Denn noch immer gibt es kaum ein Labor, das gezielt nach TCEP sucht. Viele wissen noch gar nicht, daß ihre Symptome womöglich von TCEP herrühren.


(Beachten Sie auch unsere Hintergrundinformation zu diesem Beitrag.)


Der Verdacht liegt auf dem Tisch: Krebserregend, nervenschädigend. Was ist zu tun? Das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz fordert ein Verbot von TCEP in verbrauchernahen Produkten. Um das Verbot aber wasserdicht zu machen und den Einsatz der bereits vorhandenen, aber teureren Ersatzstoffe zu erzwingen, wird allein in Deutschland eine Prozedur von etwa drei Jahren veranschlagt, danach käme noch das Drehen durch die Mühlen der EU-Bürokratie. Umweltministerium, Gesundheitsministerium: Frage, wie wäre es denn mit Gas geben?

Beitrag von Stefan Maier

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Beitrag vom 12.03.1998