1998 Engagierte Klinische Toxikologie ausgestorben
Während der Toxikologe seine Kenntnisse
aus Mäuseversuchen und Bücherlesen bezieht, hat der klinische Toxikologe von
Anfang an Kranke, die er heilt.
Tiefe Kenntnisse der Anästhesie
(Schockbekämpfung, Beatmung, Dosierung von Medikamenten), der Neurologie
(Hirn-, Nervenschädigung), Psychiatrie (Umgang mit veränderter
Bewusstseinslage), der HNO (Verätzungen), der Lungenheilkunde
(Lungenreizstoffe), der Gastroenterologie (Magenspülungen), der Augenheilkunde
(Verätzungen), der Kinderheilkunde, der Frauenheilkunde sowie der Dermatologie
sind erforderlich.
Nur, wer mindestens 5000 akut Vergiftete
behandelt hat, von denen etwa 100 verstorben sind, kann chronisch Vergiftete
behandeln. Die Voraussetzung für die Behandlung einer chronischen Vergiftung
sind umfangreiche Kenntnisse darüber, wie das Gift akut wirkt. Nur wer weiß,
wie heimtückisch ein Gift akut wirken kann, kann erahnen, wie gefährlich es bei
chronischer Einwirkung ist. Todesfälle nach akutem Giftkontakt sind die beste
Lehre über die Heimtücke von Giften.
Zwangsläufig kommt hinzu, dass man, wenn
man viel über Gift weiß, jede weitere Vergiftung verhindern will. Dann stößt
man aber gegen eine Mauer von Behörden, Firmen, Verbänden, Kollegen und
Patienten. Ausnahmslos alle macht man sich zum Feind. Jeder hat Angst vor
Veränderungen und schiebt drohende Umsatzeinbußen vor. Kollegen wollen lieber
Folgen statt Ursachen behandeln. Patienten wollen erst eine Intervention, wenn
die Folgen unübersehbar sind. Von der Ausbildung her vermeidet ein Arzt alles,
womit er sich unbeliebt machen könnte. Die Universität erzieht zum folgsamen
Assistenten, der alles macht, womit er seinem Professor Freude machen könnte.
Eine eigene Meinung wird stets mit einer Entlassung quittiert.
Ursachenvermeidung fällt ausschließlich
in den Aufgabenbereich der Politiker, diese sind jedoch nur so gut wie ihre
Berater, zudem können sie nur das bestimmen, was die Industrie und das Volk
will und befürwortet.
Der letzte Chef Clarmann meinte zwar
"ein Toxikologe muss giftig sein", aber man dürfe "sich nie mit
der Industrie anlegen" und "nie selbst etwas machen, nur die
zuständigen Behörden einschalten". Dies verbot ihm vollständig, sich mit
Umweltgiften zu befassen. Veränderungen kann nur derjenige erreichen, der
selbst sehr viel weiß, zugleich eine starke Autorität ist und zudem in keinster
Weise finanziell oder weisungsabhängig von anderen ist, sowie über ein starkes
Selbstbewusstsein verfügt. Alle vier Säulen der Unabhängigkeit aufzubauen,
benötigt etwa 20 Jahre Berufserfahrung. Erst dann war es möglich, große
Probleme anzupacken, wie Chemische Kampfstoffe, Amalgam, Müllverbrennung und
Passivrauchen.
Der Beruf des engagierten Klinischen
Toxikologen ist ausgestorben. Sicher muss man Jahrzehnte warten, bis wieder ein
Engagierter sich über die Klippen der Universität sich in dieses allseits
unbeliebte Gebiet wagt – und überlebt.
(Auszug aus meiner neuen Biografie)